Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 403 / Juni 2019

„Es muss etwas passieren“

Interview mit Sebastian Hofer vom Marburger Bund

Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist neben der ambulanten und stationären Versorgung die dritte Säule des Gesundheitswesens. Zu den Schwerpunkten gehören die Sozialmedizin, der Seuchenschutz, der gesundheitliche Verbraucherschutz, die Hygieneüberwachung und die Prävention, beispielsweise durch Schuleingangsuntersuchungen.

  
MieterEcho: Derzeit ist fast jede vierte Stelle in den Berliner Gesundheitsämtern unbesetzt. Kann der ÖGD seine Aufgaben überhaupt noch in ausreichendem Maße wahrnehmen?                                                    
Sebastian Hofer: Das ist äußerst schwierig. Die Kollegen geben sich zwar die größte Mühe und arbeiten oftmals bis an oder über die Belastungsgrenze. Doch gerade bei den gesetzlich vorgeschriebenen Einschulungsuntersuchungen gibt es oftmals einen großen Zeitverzug. Das betrifft dann besonders Kinder aus ärmeren Familien. Denn besser gestellte Eltern haben in der Regel auch einen besseren Zugang zu ärztlichen Leistungen. Die freien Stellen können aber nicht besetzt werden, weil kaum ein voll ausgebildeter Facharzt bereit ist, ein Mindereinkommmen von bis zu 1.500 Euro brutto pro Monat zu akzeptieren.

                                                    
Warum gelingt es der Stadt nicht, Abhilfe zu schaffen?                            
Das ist eine komplexe Gemengelage. Berlin beruft sich auf den Tarifvertrag der Länder, der aber keine spezielle, marktgerechte Eingruppierung für Ärzte vorsieht. Und individuelle Zuschlagsregelungen für neu eingestellte Ärzte stoßen auf Widerstand bei den Personalräten, die eine Schlechterstellung der Altbeschäftigten verhindern wollen. In anderen Bundesländern, wo der ÖGD den Kommunen obliegt, gibt es vereinzelt Möglichkeiten für flexiblere Lösungen.                            

Beim ÖGB gibt es geregelte Arbeitszeiten, kaum Überstunden oder gar Schichtdienste. Ist das keine ausreichende Kompensation?            

Wer darauf Wert legt, findet entsprechende Bedingungen mit dennoch angemessener Bezahlung auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in medizinischen Versorgungszentren.           

                         
Eine umfassende Neuordnung der Besoldung im ÖGD wird einige Zeit in Anspruch nehmen.  Bräuchte es nicht Sofortmaßnahmen, um die volle Funktionsfähigkeit des ÖGD gewährleisten zu können?    
Die bräuchte es unbedingt, denn die Aufgaben werden ja nicht weniger. Doch ohne eine tarifliche Lösung ist das Problem nicht nachhaltig zu bewältigen. Denkbar wäre beispielsweise, die Vergütung der Ärzte im ÖGD an den Tarifvertrag für die Unikliniken anzukoppeln.     

                                        
Glauben Sie, dass dem amtierenden Senat die Dramatik der Situation überhaupt bewusst ist?   

Im Prinzip ja. Doch es gibt da auch interne Differenzen zwischen den Ressorts für Gesundheit und für Finanzen, denn eine höhere Eingruppierung der Ärzte im ÖGD kostet ja auch was. Und die entsprechenden Abstimmungsprozesse verlaufen recht schwerfällig.    

                                              
Warum ist es Ihrer im Klinikbereich recht durchsetzungsfähigen Gewerkschaft bisher nicht gelungen, ein attraktives und leistungsgerechtes Vergütungssystem für Ärzte im ÖGD zu erreichen?    
Das hat verschiedene Gründe. Zum einen sind viele Ärzte im ÖGD noch verbeamtet. Das heißt, sie dürfen für entsprechende Forderungen nicht streiken. Aber auch das ethische Bewusstsein der Kollegen spielt gerade in der Sozialmedizin eine wichtige Rolle. Die können sich trotz aller extremen Belastungen oftmals kaum vorstellen, ihre Klienten „im Stich“ zu lassen.                                

Müssen wir also damit leben, dass die öffentliche Gesundheitsversorgung in Berlin den Anforderungen auf unabsehbare Zeit nicht mehr gerecht werden kann?    
Ich hoffe nicht. Wir sind weiter in Gesprächen mit dem Land Berlin, aber das ist ein sehr dickes Brett, das wir da bohren müssen. Und wir wollen auch in den laufenden Tarifverhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern eine bundesweite Lösung, der sich das Land Berlin dann kaum verschließen könnte, obwohl es nicht zu diesem Tarifgebiet gehört. Klar ist jedenfalls, dass etwas passieren muss, um die Engpässe im ÖGB zu beseitigen.                                                

Vielen Dank für das Gespräch. 

   
Die Fragen stellte Rainer Balcerowiak.
    
Sebastian Hofer ist Justiziar und Tarifexperte beim Landesverband Berlin-Brandenburg der Ärztegewerkschaft Marburger Bund.


MieterEcho 403 / Juni 2019

Schlüsselbegriffe: öffentlicher Gesundheitsdient,ÖGD,Gesundheitswesen

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