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MieterEcho 406 / Dezember 2019

Die langen Schatten der Vergangenheit

Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist in einem desolaten Zustand

Von Rainer Balcerowiak   

Jede/r regelmäßige Nutzer/in des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in Berlin kann ein trauriges Lied davon singen. Ausfallende, überfüllte und verspätete Züge bei U- und S-Bahn, Busse im Stau und permanent an irgendeiner Stelle hoffnungslos überforderter Schienenersatzverkehr wegen Baumaßnahmen. Der ÖPNV ist den Anforderungen der wachsenden Stadt kaum noch gewachsen, und die politisch gewollte „ökologische Verkehrswende“, die vor allem PKW-Nutzer/innen zum Umstieg auf Bus und Bahn veranlassen soll, steht offensichtlich auf ziemlich tönernen Füßen.                          

Dabei leisten die im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) zusammengeschlossenen Unternehmen durchaus Beträchtliches. Alleine die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), eine Anstalt öffentlichen Rechts des Landes Berlin, befördern über 1,3 Milliarden Fahrgäste pro Jahr in Bussen, U- und Straßenbahnen und auf einigen Fähren.
Dazu kommt die Berliner S-Bahn, ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn AG. Sie bildet mit der Ringbahn, die die gesamte Innenstadt umschließt, und den Nord-Süd- und Ost-West-Strecken, die das Umland anbinden, das Rückgrat des ÖPNV, vor allem für Berufspendler/innen. Ihr Netz umfasst 327 Kilometer mit 166 Bahnhöfen und wird an Werktagen von durchschnittlich 1,5 Millionen Menschen genutzt.
Spätestens seit der Vollendung der Ringbahn und der kompletten Elektrifizierung der S-Bahn Ende der 1920er Jahre galt das ÖPNV-Konzept der Hauptstadt lange Zeit weltweit als Musterbeispiel für großstädtische Mobilität. Eine wichtige Rollte spielte dabei auch das Straßenbahnnetz. Anfang der 1930er Jahre gab es in Berlin fast 100 Straßenbahnlinien, die aufgrund der Haltestellendichte eine zentrale Rolle für den wohnungsnahen Zugang zur öffentlichen Mobilität spielten.
Zwar wurde das in den letzten beiden Kriegsjahren stark zerstörte Netz nach Kriegsende recht zügig wiederaufgebaut, doch bereits vor der endgültigen Teilung der Stadt im August 1961 gab es keine gesamtstädtische Verkehrsplanung mehr. So begann der Rückbau der Straßenbahn im Westteil bereits Mitte der 1950er Jahre; die als „unmodern“ geltende Tram wurde schrittweise durch Busse ersetzt. Die letzte Linie, vom Bahnhof Zoo nach Hakenfelde (Spandau), wurde im Oktober 1967 eingestellt. Parallel dazu wurden neue U-Bahnlinien gebaut und bestehende Linien verlängert. Die unter Verwaltung der Reichsbahn der DDR stehende S-Bahn verlor in Westberlin zunehmend an Bedeutung und wurde peu à peu weitgehend eingestellt. Leitbild der Verkehrsplanung wurde die „autogerechte Stadt“ mit dem Fokus auf den individuellen Pkw-Verkehr. So wurden viele Teilstücke der Stadtautobahn parallel zu den Trassen der S-Bahn errichtet. Im Ostteil der Stadt wurde dagegen der Ausbau des ÖPNV kontinuierlich und unter Einbeziehung aller Verkehrsträger vorangetrieben. Der individuelle Pkw-Verkehr spielte trotz moderater Steigerungsraten in der Verkehrsplanung nur eine untergeordnete Rolle.  
                            
Wiedervereinigung nicht genutzt
Nach der Vereinigung 1990 ging es darum, die mittlerweile grundverschiedenen Verkehrskonzepte wieder zusammenzufügen. Neben der Renaissance der S-Bahn als gesamtstädtischer Mobilitätsanker wurden auch Pläne für eine Wiederbelebung der Straßenbahn im Westteil der Stadt entwickelt. Doch die verschwanden schnell wieder in der Schublade oder wurden sogar komplett verworfen. Bislang wurden nur zwei Tramlinien mit wenigen Stationen in den Westen verlängert, während die Straßeninfrastruktur für den Pkw-Verkehr bis vor wenigen Jahren absolute Priorität genoss, unter anderem durch den Ausbau der Stadtautobahn. Diese Fehlentwicklung hat mittlerweile zu einer handfesten Mobilitätskrise geführt. In der wachsenden Stadt kann die Pkw-Flut – ergänzt durch ein rasant zunehmendes innerstädtisches Transportvolumen – schlicht nicht mehr bewältigt werden, wovon auch ständige Staus, zugeparkte Fahrspuren und Gehwege und endlose Kreisfahrten zur Parkplatzsuche zeugen.
Der massive Ausbau des ÖPNV und sanfter Druck, vom Pkw auf andere Verkehrsträger umzusteigen, gehören daher neben dem Ausbau der Fahrradinfrastruktur zu den zentralen Säulen der vom rot-rot-grünen Senat formulierten Ziele für eine Verkehrswende. Doch die Erblasten der vergangenen Jahrzehnte sind gewaltig. Vor allem U- und S-Bahn wurden im Zuge des neoliberalen Austeritätswahns im wahrsten Sinne des Wortes kaputtgespart. Die Schieneninfrastruktur befindet sich nach langem Instandhaltungs- und Modernisierungsstau in einem schlechten Zustand, der Fuhrpark ist zu klein, veraltet und entsprechend störanfällig. Kurzfristige Abhilfe ist nicht zu erwarten. Die Berliner S-Bahn mit ihrer schienengebundenen Gleichstromversorgung ist ein technisches Unikat. Entsprechend zeitaufwändig ist die Entwicklung neuer, moderner Fahrzeugtypen für dieses System, während die alten Baureihen nur noch mit strengen Wartungsauflagen eine verlängerte Betriebsgenehmigung erhielten. Bestellung und Bau dringend benötigter neuer U-Bahn-Wagen verzögern sich erheblich, da es bei den EU-rechtlich vorgeschriebenen Ausschreibungen zu schweren Fehlern gekommen ist, die bis zum heutigen Tag die Gerichte beschäftigen. Statt das Angebot auszuweiten, musste die U-Bahn aufgrund des maroden Fuhrparks inzwischen sogar die Taktzeiten auf einigen Linien verlängern. Derweil befindet sich der im Prinzip beschlossene Ausbau der Straßenbahn in schier endlosen Planungs- und Partizipationsschleifen. Ein weiteres Nadelöhr der Verkehrsplanung ist der Regionalverkehr. Einem stetig wachsenden Pendlerstrom zwischen Berlin und Teilen Brandenburgs steht ein hoffnungslos überlastetes Angebot auf teilweise noch eingleisigen Strecken gegenüber. Auch hier wird die politisch versprochene Abhilfe erst in einigen Jahren wirklich zum Tragen kommen. Die Bestellung zusätzlicher Verkehrsleistungen und deren Finanzierung erfordert langwierige Abstimmungen zwischen den Beteiligten. Aber noch viel länger dauern Planung und Realisierung von neuen Trassen bzw. der  Ausbau von bestehenden. Während im innerstädtischen Verkehr auch Unwille herrscht, auf den eigenen Pkw zu verzichten, haben viele Berufspendler/innen schlicht keine Alternative zur Fahrt mit dem Auto.                                         

Digitale Spielereien statt Ausbau  
Fakt ist, dass der ÖPNV in Berlin und seinen Randgemeinden derzeit in keiner Weise darauf vorbereitet ist, den angestrebten Umstieg vieler Pkw-Nutzer/innen auf andere Verkehrsträger bewältigen zu können. Man mag sich nicht vorstellen, wie es in den Stoßzeiten an Umsteigeknotenpunkten wie Ostkreuz, Gesundbrunnen, Zoologischer Garten oder Alexanderplatz aussehen würde, wenn auch nur 100.000 Menschen als regelmäßige Nutzer/innen dazu kämen.
Vor diesem Hintergrund wirken die Aktivitäten des Berliner Senats zum Ausbau des ÖPNV als Alternative zum motorisierten Individualverkehr wie hilfloses Stückwerk. Das im Februar 2019 präsentierte „Bündnis für Mobilität“ ist wenig mehr als eine Blaupause. Herzstück soll eine Smartphone-App sein, bei der für die Verbindungssuche neben den klassischen Angeboten des ÖPNV auch Rufbusse, Taxidienste, Carsharing-Unternehmen sowie Verleiher von Fahrrädern und Motorrollern mit elektrischem Antrieb integriert werden und dort auch gebucht werden können. Die Umsetzung soll mittels „Mobilitäts-Hubs“ erfolgen. An Standorten in der unmittelbaren Nähe von U-Bahnhöfen und Busverkehrsknotenpunkten sollen die zusätzlichen Angebote verfügbar sein. Ein erstes Modellvorhaben wurde am U-Bahnhof Prinzenstraße realisiert. Doch die Resonanz ist mäßig, auch weil diese Angebote nicht ins Preissystem des ÖPNV integriert sind und daher für ÖPNV-Nutzer/innen erhebliche Zusatzkosten verursachen. Und wie zum Hohn auf die von Rot-Rot-Grün forcierte Debatte über eine „Klima- und Mobilitätswende“ werden zum Ende des Jahres die Fahrpreise im ÖPNV erhöht.
Ein bedarfs- und klimagerechter ÖPNV und die Zurückdrängung des motorisierten Individualverkehrs lassen sich weder mit Smartphone-Apps noch mit aktionistischen Verkehrseinschränkungen in einigen Szene-Kiezen vorantreiben. Es bräuchte vielmehr ein ambitioniertes Investitionsprogramm, beschleunigte Planungsverfahren und den politischen Willen, dies auch gegen politische Widerstände durchzusetzen. Doch ähnlich wie beim Wohnungsbau kann davon bei diesem Senat keine Rede sein.


MieterEcho 406 / Dezember 2019

Schlüsselbegriffe: ÖPNV,Öffentliche Verkehrsmittel,öffentlicher Personennahverkehr