Standortfaktor urbane Lebensqualität
Firmen und Arbeitskräfte im IT-Bereich sind mobil – Städte mit hoher Lebensqualität werden ihre Beute
Von Ralf Hutter
Schon seit ein paar Jahren ist Berlin eine der beliebtesten, wenn nicht sogar die beliebteste Stadt Europas für die Ansiedlung von Firmen mit Geschäftsmodellen im digitalen Bereich. Im Jahr 2015 wurde Berlin bezüglich des investierten Gelds erstmals europäischer Spitzenreiter. Die Auswirkungen der boomenden digitalen Wirtschaft auf die Stadt waren damals in der Öffentlichkeit aber bei Weitem nicht so präsent wie heute. Deshalb stieß der frisch zugezogene US-Amerikaner David Hawkins* bei einem Spaziergang mit einem Berliner durch Kreuzberg auf Unverständnis, als er fragte: „Habt ihr nicht Angst vor diesen ganzen IT-Leuten, die in die Stadt kommen?“ Hawkins war Mitte 30, Informatiker und nicht wirklich politisch aktiv, aber er sah das Unheil voraus, denn er kam aus der mit IT-Leuten vollgestopften Stadt San Francisco. Das Silicon Valley ist zwar mehr als 50 Kilometer davon entfernt, aber die dortige IT-Szene hat sich auf die früher für ihre Alternativkultur bekannte Stadt ausgedehnt.
Schon im Juni 2013 schrieb ein Kolumnist der Zeitung „San Francisco Chronicle“ einen Artikel mit dem Titel: „Nichts wird mehr so sein wie bisher in San Francisco“. Darin stellte er die These auf, das Jahr werde für die Stadt in die Geschichte eingehen, da sie nun von den IT-lern übernommen würde. Er erwähnte, dass kürzlich ein einzelner Autoparkplatz für 82.000 Dollar verkauft worden sei, und endete mit den düsteren Zeilen: „San Francisco ist schon heute eine Hightech-Stadt, eine teure Stadt, unbezahlbar für Familien der Mittelschicht. (...) Sie finden, es ist hier teuer? Sie werden sich noch wundern. Dies sind die guten alten Zeiten, aber bald wird alles vorbei sein. Wir sind an einem Wendepunkt angelangt.“
Er hat Recht behalten. Im September 2015 veröffentlichte die irische Zeitung Irish Independent einen Artikel mit der Überschrift „Der IT-Overkill zerstörte die liebenswürdigste, lebendigste Stadt an der Westküste“. Der Beitrag beginnt mit dem Satz: „Eine Freundin von mir bezahlt 5.000 Dollar pro Monat für eine 2-Raum-Wohnung in San Francisco.“ Der Freundin zufolge sei das normal. Der Autor hielt fest: „Niemand, der nicht in einer boomenden IT-Firma oder bei einer Finanzdienstleisterin arbeitet, kann sich leisten, in der Stadt zu leben.“ Wer nur gut situiert ist, müsse ins benachbarte Oakland ziehen – wer weniger habe, könne nicht mal mehr dort leben. Der Korrespondent kannte die Stadt seit vielen Jahren. Nun stellte er bei einem Spaziergang um 23 Uhr fest: Alles war still. Dabei war es früher in dieser Stadt so lebhaft zugegangen. Über die relativ jungen IT-ler, von denen nicht wenige schon eine Million auf dem Konto haben, bevor sie 30 werden, denkt der Autor: „Sie sind jung, reich und langweilig wie Abwaschwasser.“ Sie kämen aus diversen Ländern, trügen aber alle dieselben Hemden.
Nach San Francisco nun Berlin?
Im Januar 2017 veröffentlichte die britische Zeitung The Guardian eine Recherche, laut der die Leute im Silicon Valley, und damit auch in San Francisco, wenig Sex haben. Und das in der ehemaligen Hippie-Metropole. Kurz gesagt, lauten die Gründe dafür: Emotionsarme Programmierer mischen sich mit Karrieristen, Frauen gibt es wenige und eine eigene Wohnung haben wegen der hohen Mieten bei Weitem nicht alle. Vor allem aus diesen Gründen wollte Hawkins von San Francisco weg. Als freiberuflicher IT-Berater kann er von überall arbeiten, wo er einen guten Internetanschluss hat, über den er auch Telefon- oder Videokonferenzen abhalten kann. Also tat er nun das, was viele Leute, die in Grenzregionen leben, tun: das hohe Einkommen des einen Landes mit den günstigen Preisen und anderen Vorteilen des zweiten Landes kombinieren. In einem Café mit drahtlosem Internet verbringt er mit Kaffee und seinem Computer einen großen Teil des Tages, wird aber nach Silicon-Valley-Tarif bezahlt.
Doch es gibt Düstereres als die Aussicht, dass Tausende freiberuflicher IT-Berater aus aller Welt nach Berlin kommen, weil es hier so nett und vergleichsweise günstig ist und dann via Internet arbeiten. Denn die großen, millionen- und milliardenschweren IT-Firmen gehen ähnlich vor. Diese Firmen brauchen keine Fabriken und keine Standortfaktoren wie Rohstoffe, Fließgewässer oder ein bestimmtes Klima. Sie sind räumlich viel unabhängiger als die Industrie. Was sie vor allem brauchen, sind junge, kreative Leute mit Studienabschluss oder zumindest sehr guten Kenntnissen in den neuesten Programmiertechniken. Sie wollen Leute, die die neuesten IT-Entwicklungen gut kennen, die noch für ihre Karriere brennen, die Spaß am Ausprobieren und Zeit für permanente Überstunden haben – und die nicht an der „alten Welt“ hängen, in der direkte zwischenmenschliche Beziehungen dominierten, sondern an eine gerätevermittelte Gesellschaft angepasst sind. Diesen Leuten ist es einerseits tendenziell egal, in welchem Land sie leben, solange sie dort Englisch sprechen können, andererseits wollen sie eine Großstadt mit hoher Lebensqualität. Eine weltoffene Metropole wird so zur Beute der globalen und grundsätzlich mobilen IT-Branche. Die Lebensqualität machen nicht nur attraktive Stadtviertel und ein vielfältiges Kultur- und Freizeitangebot aus, sondern auch ein funktionierender öffentlicher Personennahverkehr wird zum Standortfaktor. So genießt auch Hawkins, wie er sich in Berlin mit der U-Bahn bewegen kann. In den USA, berichtet Hawkins, gebe es nur in New York und vielleicht noch in Chicago ein gutes U-Bahn-System. Das sei übrigens der Grund für das Entstehen des Taxi- und Mitfahr-Vermittlungsdienstleisters Uber. Der fülle eine Lücke.
In Berlin kommt zur Lebensqualität ein weiterer Vorteil für die global aufgestellten IT-Firmen hinzu: Die Löhne sind hier halb so hoch wie im Silicon Valley.
Vertreiber werden selbst vertrieben
Auch Jack Perkins (Seite 8) zog 2016 nach Berlin, weil er die Stadt interessant fand. Insbesondere das hiesige „politische Bewusstsein“ und die Musik- und Kunstszenen hatten ihn gelockt. Letztere seien in San Francisco und dem benachbarten Oak- land total zerstört worden. „Diese Räume sind die ersten, die verschwinden“, klagt der 32-jährige Programmierer. Von dort verschwunden ist nun auch er, denn er wollte nicht die Hälfte von seinen rund 5.000 Dollar Nettomonatslohn für die Miete zahlen. Schon 2015 wurde berichtet, dass selbst besser bezahlte Leute der zum Teil weltbekannten Firmen Probleme hatten, eine Wohnung in San Francisco zu finden. Verschiedene Auswertungen von damals gaben die mittlere Monatsmiete für eine 1-Zimmer-Wohnung mit ca. 3.500 Dollar an. Das Portal Priceonomics, das mehrmals die Wohnungsangebote in San Francisco ausgewertet hatte, empfahl im Sommer 2015: Wer Kinder haben will, sollte trotz eines guten Einkommens nicht nach San Francisco gehen, denn eine 3-Zimmer-Wohnung koste im Mittel 5.100 Dollar Monatsmiete, was dem kompletten Netto-Verdienst eines Menschen mit 100.000 Dollar Jahresbruttolohn entspreche. San Francisco wurde zur teuersten Stadt der USA (Seite 4). Bereits 2013 berichtete die britische Zeitung The Independent, dass es seit zwölf Jahren nicht mehr so viele Zwangsräumungen gegeben hatte.
Mittlerweile sind nicht mehr nur die Wohnungen für die IT-ler das Problem. Auch etliche ihrer Firmenbüros haben sich nun in San Francisco angesiedelt anstatt wie in den Jahrzehnten zuvor im weiteren Umland. Entsprechend groß ist der Druck auf die Gewerberäume.
Schon allein aus Platzgründen muss die Branche also weitere attraktive Städte in Beschlag nehmen, die mit ihrem interessanten Umfeld eine Kulisse für Gutverdienende aus aller Welt bieten.
Die Initiativen, die für den 18. Dezember 2017 eine Kundgebung gegen den geplanten „Google Campus“ in Kreuzberg organisierten, schrieben auf die Plakate: „Nach der Ausbeutung und Umgestaltung des liberalen San Franciscos ist nun das liberale Kreuzberg dran.“
MieterEcho 393 / Februar 2018
Schlüsselbegriffe: Standortfaktor, urbane Lebensqualität, IT-Bereich, Silicon Valley, Google Campus, Kreuzberg, Alternativkultur, Hightech-Stadt