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MieterEcho 397 / August 2018

Keine Einzelschicksale

Zwangsräumungen sind nicht mehr ein Phänomen des gesellschaftlichen Rands

Von Karin Baumert, Bündnis Zwangsräumung verhindern

Vor sechs Jahren, als das „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ anfing sich zu organisieren, waren Zwangsräumungen ein gesellschaftliches Tabu. Niemand wollte sich öffentlich zu seiner drohenden Zwangsräumung bekennen. Zu sehr war die Meinung verbreitet, dass zwangsgeräumte Menschen irgendetwas versäumt hätten oder schlecht mit dem Haushaltsgeld wirtschaften.


Die erste Mieterin, die ihre drohende Zwangsräumung publik machte, indem sie Plakate zu ihrer Situation in ihre Fenster hing, war die auf den Rollstuhl angewiesene Rentnerin Nuryie Cengiz. Als sie daraufhin gemeinsam mit Aktiven die Integrationsbeauftragte besuchte, konstatierte diese schon damals die Hilflosigkeit der Politik mit den Worten: „Wir haben keine behindertengeeignete Wohnungen mehr, soll ich etwa eine besetzen?“
Nuryie Cengiz bekam schließlich eine andere Wohnung. Ihre geräumte Wohnung am Maybachufer steht sechs Jahre später immer noch leer. Heute ist das Thema Zwangsräumung in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nicht zufällig gingen am 14. April 2018 über 25.000 Mieter/innen auf die Straße, denn immer mehr Menschen fürchten, ihre Miete nicht mehr bezahlen zu können. Eine Umfrage der Caritas zeigt, dass hohe Wohnkosten für 79% der Befragten ein erhebliches Armutsrisiko darstellen. Menschen in fortgeschrittenem Alter und mit geringem Haushaltseinkommen sind besonders betroffen. Zwangsräumungen sind längst kein Phänomen der gesellschaftlichen Ränder mehr, sie können jede/n treffen.
Das Bündnis will dem gesellschaftlichen Narrativ von der individuellen Schuld an der Zwangsräumung eine andere Sichtweise entgegensetzen. In den vergangenen Jahren wurde mit weit über hundert Mieter/innen gemeinsam gegen deren Zwangsräumung gekämpft. Ein Drittel der geplanten Räumungen konnte verhindert, für ein weiteres Drittel der Betroffenen eine Wohnung organisiert werden. Der Rest wurde in die Wohnungslosigkeit entlassen.

Mehrere Räumungen täglich

Im Bündnis vernetzen sich Betroffene und sind solidarisch. Seit etwa einem Jahr kommen viele Betroffene nicht mehr allein, sondern mit ihren Nachbar/innen. Das ist eine neue Entwicklung. Noch immer gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Zwangsräumungen stattfinden. Das Bündnis schätzt die Zahl auf 22 Räumungen pro Tag. Daran hat auch der rot-rot-grüne Senat bisher nichts verändert, den eine symbolische Partizipationspolitik mehr interessiert als reales Handeln. Dabei wissen die betroffenen Mieter/innen genau, was die ersten Schritte sein müssten. Erforderlich wäre zunächst ein fester Bestand an Wohnungen bei den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften mit Mieten, die von den Regelsätzen der Transferleistungen bezahlt werden können. Darüber hinaus ist ein Räumungsmoratorium bei den städtischen Unternehmen für transferleistungsbeziehende Mieter/innen notwendig. Es muss kommunaler Wohnungsbau statt weiterer Obdachlosenunterkünfte errichtet werden. Zu Fragen, was und wo eigentlich gebaut werden soll, machen aktuell die von Zwangsräumung bedrohten Mieter/innen der Trettachzeile in Reinickendorf eine „Planungszelle von unten“. Partizipation fängt bei wirklicher Mitbestimmung an.
Entscheidend aber ist die Rückgewinnung des kommunalen Gemeinwesens. Dem Bodenrichtwert, dem die Ertragserwartung auf die Miete zugrunde liegt, muss der Schleier des Objektiven genommen werden. Dabei hilft die Sichtbarmachung der realen Auswirkungen von steigenden Boden- und Mietpreisen, welche das Drama für die Mieter/innen bewirken. Die vielen Fakten und Schicksale, die das Bündnis in die Öffentlichkeit getragen hat, zeigen Wirkung. Bei der letzten Besetzung von leerstehenden Wohnungen einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft zeigte sich selbst der Justizsenator angesichts der drängenden wohnungspolitischen Fragen versöhnlich mit dieser Form der Aneignung. Kurz darauf räumte die Berliner Polizei allerdings ohne Vorankündigung eine Familie. Die Grundlage des Räumungstitels waren 30 Euro, die das Jobcenter nicht gezahlt hatte.

Weitere Informationen:
http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org


MieterEcho 397 / August 2018