„In der Wohnungspolitik fehlt die Wahrnehmung für sozialpolitische Probleme“
Der Wohnungsmangel treibt nicht nur die Mieten in die Höhe, er kann für Mädchen und Frauen bedrohliche Situationen zur Folge haben
Interview mit Dorothea Zimmermann vom Verein Wildwasser
MieterEcho: Seit 35 Jahren arbeitet der Verein Wildwasser zum Thema sexualisierte Gewalt und bietet Unterstützung für Frauen und Mädchen. Die Arbeit des Vereins hat zunächst keinen unmittelbaren Bezug zu den Problemen des Wohnungsmarkts, aber dennoch seid ihr davon betroffen. Wie wirkt sich der Wohnungsmangel auf eure Arbeit aus?
Dorothea Zimmermann: Wildwasser hält im Rahmen der Jugendhilfe Wohngemeinschaften für gewaltbetroffene Mädchen bereit, bietet ein vielfältiges Beratungsangebot und unterhält ein „FrauenNachtCafé“. Dieses dient als nächtliche Kriseneinrichtung und wendet sich in erster Linie an Frauen mit Gewalterfahrungen. Seit einiger Zeit spüren wir hier eine deutliche Veränderung, da inzwischen viele von Obdach- oder Wohnungslosigkeit sowie drohendem Wohnungsverlust betroffene Frauen in das „FrauenNachtCafé“ kommen, um einen Ort der Ruhe und Sicherheit zu finden. Extrem zugenommen hat die Situation, dass Frauen trotz Gewalterfahrungen in ihren Beziehungen bleiben, weil sie Angst haben, auf der Straße zu landen und keine andere Wohnmöglichkeit zu finden.
Die Angst, das Dach über dem Kopf zu verlieren, betrifft viele Menschen, die ihre Miete heute schon kaum noch bezahlen können und befürchten müssen, durch eine Mieterhöhung oder Modernisierungsmaßnahme verdrängt zu werden. Lassen sich die psychosozialen Folgen verallgemeinern?
Unter dieser Angst leiden sicherlich nicht nur Frauen mit oder ohne Gewalterfahrungen. Die Angst vor dem Wohnungsverlust ist eine existenzielle Angst und grundsätzlich ein sehr destabilisierender Faktor. Hinzu kommt der Druck, kompensierende Strukturen zu verlieren. Denn neben der Wohnung droht der Verlust des Wohnumfelds mit seinen sozialen Bezügen und zur Kita, Schule usw. Angesichts dieser großen Unsicherheit fällt es vielen schwer, zum Amt oder zum Jobcenter zu gehen, um einen Antrag oder Folgeantrag zu stellen. Durch eine bedrohte Wohnsituation fühlen sich Menschen gesellschaftlich völlig an den Rand gedrängt. Das destabilisiert und macht krank, insbesondere gilt das für Menschen, die schwierige oder auch traumatische Erlebnisse hatten.
Viele Menschen schämen sich ihrer sozialen Situation und auch der Umstand, keine Wohnung zu haben wird ungern offen kommuniziert. Wie ist es möglich, diese Scham zu bearbeiten und zu überwinden?
Besonders bei alleinerziehenden Müttern erleben wir, dass sie versuchen, ihre prekäre Situation zu verstecken und den Schein der Normalität zu wahren. Auch dies dürfte ein allgemeines Phänomen sein. Da das Geld aber hinten und vorne nicht reicht, führt das punktuelle Wahren der Normalität dann aber oft zu Einschränkungen bei der Ernährung, der sozialen und kulturellen Teilhabe oder auch der Teilnahme der Kinder an Schulausflügen. Viele Frauen suchen die Schuld bei sich selbst. Wir helfen ihnen, diese Situation umzudeuten, sodass sie sich auf das Recht einer eigenen Wohnung besinnen und durch das Beenden von Selbstanklagen neue Handlungsmöglichkeiten erarbeiten können. Es muss immer wieder deutlich gemacht werden, dass es keine individuelle Schuld ist, sondern dass es eine gesellschaftliche Verantwortung gibt. Und das kommunizieren wir auch in die politische Ebene, um die individuelle Tragweite politischer Entscheidungen sichtbar zu machen.
Neben der Arbeit mit Frauen seid ihr auch in der Jugendhilfe tätig. Ihr arbeitet vor allem mit Mädchen, die Gewalt in ihren Familien erfahren haben und eigentlich aus ihrem bisherigen Wohn- und Familienumfeld raus müssten. Welche Chancen gibt es dafür?
Im Jugendhilfebereich wird der Wohnraummangel an vielen Stellen deutlich. Wir betreuen Mädchen und ihre Familien, die in Neukölln ihre Wohnung verloren haben und nun in Spandau oder Hellersdorf leben, weil sie in ihrer gewohnten Umgebung keine Wohnung finden konnten. Damit gehen natürlich wichtige soziale Bindungen und die entstandenen Strukturen verloren. In Neukölln hatten sie beispielsweise den Mädchenladen, die Schule und befreundete Familien, das ist nun alles weg. In den letzten drei Jahren sind die Kosten der Jugendhilfe in Hellersdorf und Marzahn dementsprechend unglaublich in die Höhe geschossen. Eine andere Erfahrung, die ich bei Hausbesuchen im Wedding mache, ist, dass die Wohnverhältnisse immer beengter werden. In einer Wohnung, wo zum Beispiel zuvor vier Menschen gelebt haben, müssen jetzt bis zu zwölf unterkommen. Da braucht man nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie sich gerade in Fällen sexualisierter Gewalt die Situation zuspitzen kann. Hier wäre es für Mädchen, die Gewalterfahrungen machen mussten, ungemein wichtig, eine andere Unterkunft zu finden – oder dass der übergriffige Bruder in einer anderen Wohnung untergebracht wird. An dieser Stelle sind wir aber mit der Situation konfrontiert, dass die Jobcenter bei Jugendlichen unter 25 Jahren eine eigene Wohnung in der Regel nicht finanzieren.
Findet ihr denn Wohnungen für die von euch in WGs betreuten Mädchen, wenn diese keine Betreuung mehr benötigen? Und habt ihr da spezielle Erfahrungen mit den landeseigenen oder privaten Wohnungsgesellschaften gemacht?
Wir suchen ständig Wohnungen bei privaten wie auch landeseigenen Vermietern, meist aber erfolglos. Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften machen da keinen Unterschied und auch unsere Bestrebungen, dass die Bezirke ihre Wohnungskontingente für Jugendliche ausbauen, sind ohne Erfolg gewesen. Wir sind froh, wenn die Mädchen Freunde oder Freundinnen finden, zu denen sie ziehen können. Während wir früher einzelnen Jugendlichen, die mit 18 oder 19 aus der Jugendhilfe ausscheiden, noch Wohnungen überlassen konnten, ist das heute überhaupt nicht mehr denkbar, da wir längst keine Wohnungen mehr finden. Insgesamt führt die erfolglose Wohnungssuche aber dazu, dass wir quasi einen Rückstau produzieren, weil viele Mädchen und junge Frauen dann länger bei uns im betreuten Wohnen verbleiben, als es nötig wäre. Glücklicherweise finanzieren die Jugendämter diese verlängerten Aufenthalte. Aber es entstehen hierdurch nicht nur unnötige Kosten für die Betreuung, sondern es müssen auch andere Mädchen länger auf einen dringend nötigen WG-Platz warten.
Hier werden also Gelder im Bereich des Sozialen ausgegeben, die an anderer Stelle viel sinnvoller eingesetzt werden könnten. Welche grundlegenden Weichenstellungen bedürfte es aus eurer Sicht, um an dieser Situation etwas zu verändern?
Die gerade beschriebene Situation zeigt die Nähe der Sozial- zur Wohnungspolitik, wo es nach unserer Meinung mehr Austausch geben müsste. Wahrgenommen werden muss, und das finde ich hier nochmal wichtig zu benennen, dass die Verdrängung auf dem Wohnungsmarkt und aus dem gewohnten Wohnumfeld sowie die Verengung in den Wohnungen das Gewaltpotenzial erheblich erhöht. Die Schwächeren, insbesondere Frauen und Mädchen, sind häufig die Leidtragenden. Bezüglich der Wohnungsversorgung verweist die Sozialverwaltung allerdings immer wieder darauf, dass sie an der Situation des Mangels an Wohnungen nichts ändern könne. In der Wohnungspolitik wiederum fehlt die Wahrnehmung für sozialpolitische Probleme inklusive der vermeidbaren Kosten, wie ich sie skizziert habe. Hier sehen wir einen deutlichen Verbesserungsbedarf
Hat sich unter der rot-rot-grünen Regierung etwas verändert und wenn was?
Da haben wir keine Veränderungen feststellen können.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Hermann Werle.
Weitere Informationen:
https://wildwasser.de
MieterEcho 397 / August 2018