Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 395 / Mai 2018

Die Touristifizierung Berlins

Bunte Bilder, schöne Sprache – Das Tourismuskonzept 2018+ ist literarisch wertvoll, aber politisch fragwürdig

Von Philipp Mattern

Stellen Sie sich vor, Sie verlassen ihren angestammten Kiez und fahren in einen fremden Bezirk. Dann sind Sie Tourist/in. Denn 50 Millionen der jährlich 109 Millionen Tagesgäste kommen aus der Stadt selbst. Verrückt, oder? Wenn Sie im fremden Bezirk auch noch eine Eisdiele oder einen Dönerladen aufsuchen, dann prosumieren Sie zudem. Richtig gelesen, das ist eine Mischung aus konsumieren und produzieren, denn während Sie einen Leckerbissen verspeisen, stellen Sie gleichzeitig das einzigartige Flair dieser Stadt her. Das hört sich noch verrückter an? Ist es auch. Es steht so aber im neuen Tourismuskonzept 2018+, das Anfang dieses Jahres von der Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Bündnis 90/Die Grünen) vorgelegt wurde. Dieses Papier hat es wirklich in sich.

Das Anliegen der Senatsverwaltung war es, mit dem Tourismuskonzept 2018+ die Leitlinien und Maßnahmen zur Etablierung eines stadtverträglichen und nachhaltigen Tourismus zu benennen. Herausgekommen ist ein Meisterwerk der Sprach-akrobatik. Es beginnt mit einem wahren Feuerwerk der großen Zahlen und bunten Grafiken. 178 Millionen touristische Aufenthaltstage in 2016, 30 Millionen Übernachtungen jährlich, doppelt so viele wie vor 10 Jahren, Rom überholt und Paris auf den Fersen, eine Zimmerauslastung von über 78% und ein Bruttoumsatz von 11,5 Milliarden Euro. Das sind 32 Millionen am Tag. 230.000 Arbeitsplätze, 6,7% des Berliner Volkseinkommens, ein Umsatzbringer und Jobmotor, der wichtigste Wirtschaftszweig der Stadt. Es ist der helle Wahnsinn, von Meilensteinen und Kennzahlen ist die Rede, dass einem beim Lesen schwindelig wird. Man kommt aus dem Staunen kaum heraus, der Berlin-Tourismus ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Und klar ist auch: Ihm gehört die Zukunft.
Nachdem das klargestellt wurde, folgt die totale Touristifizierung. „Die Stadt“, so erfährt man, „wird heute nicht mehr nur von Gästen ‚touristisch genutzt‘, auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Hauptstadt selbst sind stets auf der Suche nach neuen Erlebnisorten“. Auf ihrer Suche nach dem „Stadtraumerlebnis“ agieren sie zunehmend „quasi-touristisch“. Während die Berliner/innen sich like the tourists durch die Stadt bewegen, spüren die Tourist/innen like the locals den authentischen Orten in den Kiezen nach. „In einer modernen Gesellschaft“, weiß das Tourismuskonzept, „ kann zwischen beiden Gruppen nicht mehr eindeutig unterschieden werden“. Hier verwischt jede Grenze. Irgendwie ist alles Tourismus und jede/r Tourist/in. Dem kann man sich kaum mehr entziehen, eine nicht-touristische Stadtnutzung scheint schlichtweg unmöglich. Dass diese Ununterscheidbarkeit, diese völlige touristische Überformung des gesamten Stadtlebens selbst das Produkt einer komplett aus dem Ruder gelaufenen Tourismuspolitik ist, spielt hier keine Rolle. Touristin oder Tourist zu sein ist die Existenzform des heutigen Stadtmenschen schlechthin. Nachdem diese Figur aufgebaut wurde, geht es ums Geschäft mit ihr.

Berliner/innen agieren „quasi-touristisch“

Mit einer „SWOT-Analyse“* werden die Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken der Tourismusentwicklung abgewogen. Diese Methode kommt aus dem strategischen Management und man braucht schon ein gewisses Verständnis vom Tourismus als Geschäftsfeld, um diesen Zugang zu wählen. Ebenso wenig, wie es in den Chefetagen großer Unternehmen bei der strategischen Planung und Entscheidungsfindung in erster Linie um die Interessen der Beschäftigten geht, geht es hier in erster Linie um die Interessen der Einwohner/innen. Die Politik nimmt die Perspektive der Tourismusindustrie ein und sorgt sich an ihrer Stelle um die Erschließung neuer Märkte. Berlin ist das Unternehmen und die Marke zugleich. Es geht darum, die Stadt gewinnbringend zu verkaufen, und klar ist, dass mächtige Akteure auch in Zukunft gut daran verdienen werden.
Faszinierend ist die Sprache, in der das ganze Tourismuskonzept verfasst ist. Knallhartes Managementvokabular und neoliberale Wohlfühlsprache geben sich die Hand. Von der „Markenstärke Berlins im Konkurrenzvergleich“ ist die Rede, ebenso vom „Destinationsmanagement“ und vom „Freizeitwert für die Bevölkerung“. Alles ist partizipativ, nachhaltig und ganzheitlich. Zwischen die zahlreichen Anglizismen mischt sich Traditionelles. „Night-Life-Hot-Spots“ treffen auf „Manufakturläden“. Das ist dieses komische Sprachgemisch des neubürgerlichen, weltoffenen Provinzialismus, der konservativ und liberal, heimatverbunden und kosmopolitisch zugleich sein möchte. Hinzu kommen Wortschöpfungen, von denen man nicht dachte, dass sie überhaupt möglich sind. Diese Sprache ist so politisch korrekt, dass sie selbst die Grenzen der Grammatik hinter sich lässt. Im Hause Ramona Pops wird sogar das Neutrum gegendert. So ist schon mal von „Beiratsmitgliederinnen und -mitgliedern“ die Rede.
Die völlig monotone Verwendung emotionsgeladener Begriffe und atemberaubender Superlative wirkt geradezu übermenschlich. Ein Satz ist runder als der andere und dennoch sind sie alle gleich, wie von einem Automaten geschrieben. Diese Sprache kennt keine Ecken und keine Kanten – und leider keinen Inhalt. Zumindest ist sie ihm gegenüber völlig indifferent. Selbst die größten Missstände werden in zartes Rosa getaucht. Reale Probleme werden dabei keineswegs ignoriert, sondern hemmungslos weichgezeichnet. Völlig zu Recht wird etwa auf die Tatsache verwiesen, dass die statistisch erfasste und die reale Marktentwicklung voneinander abweichen. „Bestehende Monitoringinstrumente bilden den Wissensbedarf über touristische Aktivitäten in Berlin nur in Teilen ab.“ Hier wird in Blümchensprache eine Wahrheit benannt, die darin besteht, dass ein beachtlicher Teil des Tourismusgeschäfts sich in der Schattenwirtschaft abspielt, wo Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und Sozialleistungsbetrug an der Tagesordnung sind. Von der illegalen Zweckentfremdung durch Ferienwohnungsbetrieb ganz zu schweigen. Kurzum herrschen hier Verhältnisse, die nach einer wirksamen Regulierung geradezu schreien. Die Antwort ist aber nicht Regulierung – das Wort taucht auf den 47 Seiten lediglich ein einziges Mal auf –, sondern ein neues Monitoring für die „ganzheitliche Erfassung der touristischen Stadtnutzung“. Marktforschung statt Marktregulierung ist das Gebot des Tourismuskonzepts.

„Akzeptanzerhaltung ist eine Daueraufgabe“

Auch die sogenannten Nutzungskonflikte, die die touristische Überstrapazierung in vielen Bezirken mit sich bringt, werden thematisiert. Durch sie „kommt es zu einer verstärkt negativen Wahrnehmung der Belastungen durch den Tourismus in diesen Wohngebieten“. Aber was ist eigentlich schief gelaufen in einer Stadt, in der ganze Viertel sich in Vergnügungsmeilen verwandelt haben? Die Frage wird nicht gestellt. Das Problem ist nicht die ungebremste Expansion eines Tourismusgeschäfts, das von der Politik munter vorangetrieben wurde, das einigen gute Gewinne und vielen prekäre Jobs und Saisonarbeit sowie dem Wohnungsmarkt große Schwierigkeiten brachte, nein, das Problem ist das falsche Gefühl der Einwohner/innen. Die Unerträglichkeit touristischer Überformung wird so zu einer Frage der Befindlichkeit erklärt. Nicht die tatsächlichen Nutzungskonflikte und Belastungen sind das Problem, sondern die schwindende Akzeptanz für den Tourismus durch seine „negative Wahrnehmung“. Mitunter sorgt man sich sogar darum, dass die touristische Monokultur sich selbst auffrisst. Denn durch das Überangebot touristischer Infrastruktur droht das „Flair“ der Stadt verloren zu gehen: „Neben einer abnehmenden Akzeptanz des Tourismus bei den Berlinerinnen und Berlinern durch mangelnde Nahversorgung und Lärmentwicklung werden Orte mit gewerblicher Monostruktur auch zunehmend unattraktiver für den auf Authentizität ausgerichteten New Urban Tourism“. An die Anwohner/innen hingegen wird appelliert, sich als Touristen-Hybride an die eigene Nase zu fassen. „De facto herrscht selten Klarheit über die Quelle der Belastungen, denn zwischen Bevölkerung und Gästen lassen sich keine scharfen Grenzen mehr ziehen, die Übergänge sind fließend.“ Man kann sich geradezu bildlich vorstellen, von welchen Gewissensbissen die Mieter/innen etwa in Nord-Neukölln oder Friedrichshain geplagt sind: Nächtliche Ruhestörung und Urin im Hauseingang – war ich das am Ende selbst? Und dann diese Zweifel: Ist wirklich der Tourismus das Problem oder nur meine Wahrnehmung? Stimmt am Ende etwas mit meinem Gefühl nicht? Sollte ich vielleicht einfach mal positiv denken? Ja, schreibt die Senatsverwaltung für gute Laune, es ist eine „neue Haltung“ und ein „Umdenken auf allen Ebenen“ nötig. Das Senatspapier ist an solchen Stellen mehr Katechismus als Konzept. Man muss zum rechten Glauben finden, dann verschwinden die irdischen Probleme von selbst.
Die Förderung einer positiven Einstellung zum Tourismus soll gelingen durch „bessere Wege der Kommunikation und Kooperation“ sowie „Moderation und Mediation“. Das Ziel ist, „dass sich auch die Berlinerinnen und Berliner selbst als Multiplikatoren und Imageträger der Stadt begreifen“. Durch „innovative Partizipationsformate“ soll ihre Einbindung stattfinden, nicht zuletzt ist ihre „kostbare lokale Expertise“ für die Tourismusbranche eine wichtige „Inspirationsquelle für die Erschließung neuer Potenziale“. Genervte Anwohner/innen können so mit dem Tourismus nicht nur Frieden schließen, sondern ihn sogar noch befördern. Aber warum sollten sie das tun?
Im Zentrum des Tourismuskonzepts stehen strategische Leitlinien. Sie sind als „kontinuierliche, prozesshafte Steuerungsinstrumente“ zu verstehen, die eine „deutliche Perspektivenerweiterung“ und eine „neue Haltung“ vermitteln sollen. Wie das genau aussehen soll, bleibt vorerst offen: „Die fünf strategischen Leitlinien Governance, Qualitative Wertschöpfung, Partizipation, Monitoring und Kiez-basierte Tourismussteuerung sind noch nicht vollständig konkretisiert. Vielmehr sollen sie in einem kooperativen Aushandlungs- und Entwicklungsprozess mit den verantwortlichen Akteurinnen und Akteuren konkretisiert werden.“ Es gehört schon fast zur Logik der Sache, dass in einem Konzept, das wenig Konzeptionelles enthält, strategische Leitlinien auftauchen, die keine Strategie beinhalten. Das ist schade, denn auch interessant klingende Überlegungen bleiben irgendwie kryptisch und in den Klauen des Sprachmonstrums gefangen.

Sharing-Plattformen für New Urban Tourists

Den fünf Leitlinien sind zwei Querschnittsthemen übergeordnet. Das eine ist die Inklusion bzw. Barrierefreiheit, das andere die Digitalisierung. Letzte sei von entscheidender Wettbewerbsrelevanz für den Städtetourismus. „Ein vollständig digitalisiertes und online buchbares Angebot (von der Unterkunft über die Gastronomie, Stadtführung bis hin zum Theaterbesuch) oder die digitale Besucherinnen- und Besucherlenkung (per Leitsystem, App oder smartem Armband) zählen heute bereits zu den Standards in den meisten Metropolen.“ Doch damit nicht genug: „Angesichts der stetig zunehmenden Dynamik der digitalen Entwicklung (in den nächsten Jahren v.a. durch künstliche Intelligenz) liegt hier eine der größten Herausforderungen für den Berlin-Tourismus.“ Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Während smarte Armbänder in den meisten Metropolen Standard sind, ist die größte Herausforderung für Berlin die künstliche Intelligenz. Roboter als neue Zielgruppe des Tourismus? Man weiß es nicht genau...
Aus den Leitlinien folgen die Aufgaben für die Tourismuspolitik der nächsten Jahre. Sie bestehen im Wesentlichen aus Maßnahmen zur Erschließung neuer Geschäftsfelder und zur Herstellung von Akzeptanz. Auch gute Ideen sind dabei, wie die Entzerrung der Touristenströme, der Ausbau von Radwegen und Nahverkehr oder die Verhinderung der Zweckentfremdung. Ähnlich wie die Leitlinien bleiben aber auch die konkreten Maßnahmen wenig konkret. Viele Effekte, so heißt es, werden „anfangs schwer messbar sein, sodass wahrnehmbare Erfolge erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erwarten sind“. Einige Vorhaben sind klar ausformuliert, etwa die Weiterentwicklung des Projekts „Erlebe deine Stadt“. Dahinter verbirgt sich die „vergünstigte Übernachtung in Berliner Hotels für Berlinerinnen und Berliner“. Wahnsinn. Einfach Wahnsinn. Die Gefahr, dass dem Senat das Tourismusgeschäft in den nächsten Jahren völlig entgleitet, besteht aber nicht. Im Fazit heißt es: „Berlin setzt in Zukunft auf Partizipation, Kooperation und einen integrativen Steuerungsansatz zum Wohle Aller.“ Amen, würde man in der Kirche an dieser Stelle sagen. In der Politik hingegen sagen solche Sätze alles und nichts.
Es ist mitnichten so, dass Berlin kein Tourismuskonzept nötig hätte. Im Gegenteil bräuchte man sogar sehr dringend eins. Allerdings ein erstgemeintes, das wirkliche Probleme benennt, anstatt sich in Stilblüten zu ergießen, und das tatsächliche Wege aufzeigt, anstatt vage Andeutungen zu machen. In der Tat sind nicht die Tourist/innen das Problem, sondern das Problem ist das Geschäft, das mit ihnen gemacht wird. Es braucht eine wirkliche Regulierung, und zwar zulasten derjenigen, die Geld mit dem Ausverkauf der Stadt verdient haben, und zum Wohle derer, die unter den Folgen dieses enthemmten Treibens zu leiden haben. Die 47 Seiten eleganter Nonsens, die das Tourismuskonzept 2018+ liefert, helfen hier nicht weiter, auch wenn es sich dabei um den schönsten und lustigsten Text handelt, der von einer Senatsverwaltung in den letzten Jahren veröffentlicht wurde.


* Die SWOT-Analyse ist ein Instrument der strategischen Planung von Unternehmen und Organisationen. SWOT ist ein englisches Akronym für strengths (Stärken), weaknesses (Schwächen), opportunities (Chancen) und threats (Bedrohungen bzw. Risiken).


MieterEcho 395 / Mai 2018

Schlüsselbegriffe: Berlin, Touristifizierung, Tourismuskonzept, SWOT-Analyse, Nutzungskonflikte, Sharing-Platformen, New Urban Tourists

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