Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 399 / November 2018

Alles unter Kontrolle

Google verzichtet auf den Campus in Kreuzberg, neue Mieter stehen im Zeichen der Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge

Von Rainer Balcerowiak

Als der Internetkonzern Google am 24. Oktober mitteilte, dass er auf die geplante Errichtung eines Campus für Start-ups im alten Umspannwerk in der Ohlauer Straße in Kreuzberg verzichtet, jubelten die zahlreichen Kritiker/innen des Projekts. Örtliche Aktivist/innen sprachen von einem großen Erfolg der anhaltenden Proteste gegen den Google-Campus. Der zuständige Bezirksstadtrat Florian Schmidt (B90/Grüne) nannte es einem „Wendepunkt in der kontroversen Debatte“, da Google auf die Forderungen der Nachbarschaft eingegangen sei. Auch Berlins Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (B90/Grüne) merkte an, die neuen Pläne zeigten „die zunehmende Bedeutung von sozial und ökologisch orientierten Unternehmen und der nicht gewinnorientierten Ökonomie in Berlin“.


Auch Ulrike Schneider, die Sprecherin der Initiative „Google Campus & Co verhindern“ sprach von einer erfreulichen Entwicklung. Man habe den Campus „durch einen breiten und vielfältigen Widerstand von Anwohner*innen und Aktivist*innen mit vielfältigen Mitteln – darunter Demonstrationen, Kundgebungen, Farbbeutelwürfe, Sprühereien, Transparente, Infostände, Plakate, Flugblätter und die Besetzung Anfang September – verhindert“. Die Initiative hofft, „dass auch der Protest für eine Stadt für alle durch die erfolgreiche Verhinderung des ‚Google Campus‘ gestärkt wird“.
Die Berliner Oppositionsparteien CDU und FDP zeigten sich betrübt. Für den wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU-Fraktion Christian Gräff ist die Entscheidung von Google ein „schmerzhafter Tiefschlag“. Der Konzern sende „ein fatales Signal in die ganze Welt, wie investorenfeindlich Berlin unter Rot-Rot-Grün inzwischen geworden ist“. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Sebastian Czaja bezeichnete das neue Nutzungskonzept als „schön geredete Resignation“.
Google zieht sich allerdings keineswegs aus dem Projekt zurück. Im Gebäudekomplex entsteht jetzt das sogenannte „Haus für soziales Engagement – Begegnungsstätte für die Zivilgesellschaft“. Der Konzern finanziert den kompletten Umbau, die Ausstattung und die Mietkosten für die ersten fünf Jahre, insgesamt 14 Millionen Euro. Die Eröffnung soll im kommenden Frühjahr erfolgen.

Wohltätigkeit statt Daseinsvorsorge

Als Verwalter wurde die Online-Spendenplattform Betterplace.org eingesetzt. Mit im Boot ist der bundesweit aktive Sozialkonzern Karuna, der dort unter anderem die Redaktion der Straßenzeitung „Karuna Kompass“ und eine Art Head-Office für die diversen Vernetzungsprojekte des Vereins, zu dem auch eine Genossenschaft und mehrere GmbH gehören, unterbringen will. In einer Mitteilung von Karuna heißt es, man plane „Infrastruktur, Programme und Räume für gemeinnützige Organisationen und soziale Akteur*innen aus Berlin und ganz Deutschland“. Auch die „Stiftung Zukunft Berlin“ werde von ihr aus „mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eine Stadtstrategie für Berlin entwickeln, um die Demokratie zu stärken“. Karuna hat bereits mehrere von Google ausgeschriebene „Impact-Challenge“-Wettbewerbe gewonnen und sieht nach eigenem Bekunden „in der Digitalisierung des sozialen Sektors großes Potenzial“. So entwickele man gerade mit Partnern aus der Digitalwirtschaft eine „Blockchain-basierte Geldbörse für obdachlose Jugendliche in Deutschland“.
Karuna selbst werde in dem Komplex lediglich acht Büroplätze belegen, so Geschäftsführer Jörg Richard auf Nachfrage des MieterEchos. Betterplace wird dagegen mit rund 30 Mitarbeiter/innen vertreten sein. Zu den Projekten, die dort koordiniert werden, gehört eine Art Buslinie für Obdachlose. Diese soll im kommenden Frühjahr starten. Die Busse sollen Betroffene zu entsprechenden Hilfsangeboten wie Ärzten, Tagesstätten und Beratungsstellen bringen. Dafür eingesetzt werden hauptsächlich ehrenamtliche Mitarbeiter des Bundesfreiwilligendienstes, die dafür ein Taschengeld erhalten. In diesem Rahmen würden auch Obdachlose zu ersten Gesprächen „im Haus ein- und ausgehen“, so Richard. Feste Anlaufstellen oder gar Wohnprojekte sind allerdings nicht geplant und wären aufgrund der baulichen Gegebenheiten auch nicht realisierbar.
Denn von den 3.000 qm Nutzfläche des alten Umspannwerks sind lediglich 500 qm uneingeschränkt nutzbar, da teilweise kein Tageslicht in die Räume gelangt. Der Rest des Umspannwerks soll für temporäre Coworking-Spaces und einzelne Projekte genutzt werden. Unter anderem ist ein Projekt zur Tabakprävention geplant. Ferner wird ein Veranstaltungssaal eingerichtet, der vermietet werden soll, auch für kulturelle und politische Zwecke. Das neue „Soziale Zentrum“ habe großes Interesse bei sozialen Projekten geweckt, die dort ebenfalls Räumlichkeiten dauerhaft nutzen wollten. Doch die, so Richard, müsse man leider enttäuschen, da dafür der Platz fehle.
Auch bei Betterplace ist man begeistert. Die Plattform gehört ebenfalls zu einem Firmengeflecht aus gemeinnützigen und gewinnorientierten GmbHs und Aktiengesellschaften, die vor allem im Bereich der Unternehmensberatung und im Vertrieb digitaler Dienstleistungen tätig sind. Sprecherin Carolin Silbernagl erklärte zum Vertragsabschluss: „Im Haus können wir die Stärken von Betterplace an einem einzigen Ort bündeln und aus dem Netz direkt nach Kreuzberg tragen. Hier können wir als Spendenplattform noch direkter mit Organisationen und Unterstützer*innen in Austausch treten. Unser Think-and-Do-Tank – das Betterplace Lab – forscht für ein gutes Zusammenleben in unserer digitalisierten Welt. Unser Ziel, Zukunft gemeinschaftlich zu gestalten, können wir an diesem Ort mit vielen anderen zivilgesellschaftlichen Stimmen umsetzen.“ In das Zentrum ziehen auch Projekte des Thinktanks, wie die „Vernetzungsstelle gegen Hatespeech“, und die Plattform Abgeordnetenwatch.de. Doch das „Kerngeschäft“ von Betterplace bleibt die Vernetzung gemeinnütziger sozialer Organisationen und Spender/innen, denen die Möglichkeit geboten werde „ein passendes Hilfsprojekt zu entdecken“. Die Plattform finanziert sich hauptsächlich durch eine Provision in Höhe von 2,5% der eingenommenen Spendengelder. Der Spendenmarkt ist heiß umkämpft. Im vergangenen Jahr ging in Deutschland auch ein Ableger der US-amerikanischen Portals GoFundMe an den Start. Insgesamt beträgt das jährliche Spendenvolumen für soziale und gemeinnützige Zwecke in Deutschland über drei Milliarden Euro.

Google entdeckt den „Gemeinsinn“

Womit man beim eigentlichen Kern der Geschichte angelangt ist. Denn letztendlich betreiben Unternehmen wie Betterplace und Karuna massiv die neoliberale Entstaatlichung und Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Jenseits jeglicher öffentlichen Kontrolle werden unterstützenswerte Projekte identifiziert und im Schulterschluss mit der Digitalwirtschaft durch private Spenden finanziert. Dabei geht es nicht um objektive Prioritäten, sondern um die „Vermarktbarkeit“ sozialer Probleme. Schließlich können sich die Spender/innen – darunter viele Unternehmen – aussuchen, wofür sie ihr Geld ausgeben, um im Gegenzug imagefördernde „Social Responsibility“* zu erhalten.
Selbst beim vermeintlichen „Verlierer“ Google zeigt man sich uneingeschränkt zufrieden mit der Lösung. Rowan Barnett, der bei Google für Start-ups zuständig ist, erklärte, Ziel seines Unternehmens sei stets gewesen, „in Kreuzberg ein Angebot zu schaffen, das der Gemeinschaft zugutekommt und diesem vielfältigen Kiez gerecht wird“. Barnett sagte gegenüber der Presse: „Wir freuen uns, mit dem Haus für soziales Engagement einen substanziellen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft in und um Kreuzberg zu leisten. Betterplace und Karuna sind hierfür die idealen Partner, sie stehen für gesellschaftliche Verantwortung und Innovation im sozialen Bereich. Wir sind überzeugt, dass sie hier etwas sehr Wertvolles schaffen werden.“ Die dort bisher geplante Förderung von Start-ups werde Google „im Rahmen seiner bestehenden Partnerschaften mit der Berliner Digitalwirtschaft, aber nicht im Umspannwerk, fortsetzen“. In der Tat braucht sich der Konzern um Interessenten für einen möglichen Standort wenig Sorgen zu machen. Die Bezirke Spandau und Lichtenberg haben bereits entsprechende Avancen unterbreitet, in Lichtenberg brachte die örtliche CDU eine entsprechende Nutzung der früheren Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR ins Gespräch. Was in Bezug auf die Datenkrake Google durchaus einen Sinn für historische Kontinuität beweist.

Corporate Social Responsibility (CSR) = unternehmerische Gesellschaftsverantwortung oder unternehmerische Sozialverantwortung


MieterEcho 399 / November 2018

Schlüsselbegriffe: Google,Google Campus,Kreuzberg,Umspannwerk,Privatisierung,öffentliche Daseinsvorsorge

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