Soziale Wohnraumversorgung unter ferner liefen
Der Zwischenbericht zum Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030 ist ein Dokument der Mut- und Hilflosigkeit des Senats
Von Rainer Balcerowiak
Auch dem Berliner Senat ist mittlerweile aufgegangen, dass der im August 2014 beschlossene Stadtentwicklungsplan Wohnen 2025 (StEP Wohnen) bereits Makulatur ist. Im vor einigen Wochen veröffentlichten Zwischenbericht zum neuen StEP Wohnen 2030 heißt es dazu, dass der seinerzeit angenommene Bedarf von 10.000 neuen Wohnungen pro Jahr aufgrund der „beschleunigten Entwicklungsdynamik“ nicht mehr realitätstauglich sei, da Berlin zwischen 2011 bis 2016 um mehr als 250.000 Einwohner/innen gewachsen ist.
Für die Erarbeitung des StEP Wohnen 2030 wurde zunächst ein 29-köpfiger beratender Begleitkreis eingerichtet, um die Leitlinien zu erarbeiten. Seine Mitglieder bestehen in erster Linie aus Vertreter/innen der Wohnungswirtschaft und der Kommunalpolitik, aber auch der Berufsverbände der Bauwirtschaft und der Wissenschaft. Im Sinne der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen „neuen Beteiligungskultur“ wurden auch „alternative“ Institutionen und Initiativen eingeladen, unter anderem das Mietshäuser Syndikat und die Gruppe „Stadt von unten“. Den drei großen Mieterorganisationen der Stadt wurde allerdings nur ein Platz zugestanden. Der Zwischenbericht zum StEP Wohnen 2030 und ein „Mengengerüst“ wurden im September vom Senat verabschiedet. Letzteres beziffert den Neubaubedarf für den Zeitraum 2017 bis 2030 auf 194.000 Wohnungen. Davon entfallen allein 77.000 auf den sogenannten Entlastungsbedarf. Damit sind fehlende Wohnungen gemeint, die aufgrund der Bevölkerungsentwicklung bereits in den Jahren 2013 bis 2016 hätten gebaut werden müssen, aber nicht gebaut wurden. Um diesen Rückstand einigermaßen aufzuholen, müssten in den Jahren 2017 bis 2021 laut Senat mindestens 20.000 Wohnungen pro Jahr fertiggestellt werden. Danach würde sich der Neubaubedarf auf jährlich ca. 10.000 Einheiten reduzieren, da mit einer „nachlassenden Einwohnerdynamik“ zu rechnen sei. Es sei allerdings „erkennbar, dass die bisher bekannten Potenziale den Bedarf langfristig nicht decken können“. Für die kommenden fünf Jahre sei das Bauland „rechnerisch noch ausreichend“, allerdings nur „sofern die verfügbaren Flächen mobilisiert werden können“. Dass genau daran erhebliche Zweifel angebracht sind, hat der rot-rot-grüne Senat bereits zu Beginn seiner Amtszeit demonstriert, als er das größte von der Vorgängerregierung ausgewiesene Entwicklungsgebiet, die Elisabeth-Aue in Pankow, aufgrund von Bürgerprotesten komplett aufgab. Vollkommen unklar ist derzeit ferner, ob – und wenn ja wann – mit dem geplanten Bau von 5.000 Wohnungen auf dem Areal des Flughafens Tegel begonnen werden kann. In einem Interview mit der Berliner Zeitung bezifferte Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Die Linke) das Risikopotenzial einer Offenhaltung von Tegel sogar auf 25.000 Wohnungen, da von einer entsprechenden Entscheidung auch viele mögliche Neubauflächen in der Umgebung des Flughafens betroffen wären.
Die Belastbarkeit der mittelfristigen Neubauplanungen ist also ohnehin nicht besonders hoch, aber die im Zwischenbericht zum StEP Wohnen 2030 formulierten acht Leitlinien machen darüber hinaus auch deutlich, dass man den eingeschlagenen Kurs der Ermunterung von Neubaugegner/innen fortzusetzen gedenkt. Es wimmelt nur so vor Allgemeinplätzen und hehren Absichtserklärungen nebst ständiger Betonung der „partizipativen Prozesse“. Das Kernproblem, nämlich der jetzt schon dramatische und weiter wachsende Mangel an bezahlbarem Wohnraum für alle Schichten der Bevölkerung wird kaum benannt. Auch die Profitlogik des Wohnungsmarkts wird durch bestimmte Neubauanteile der städtischen Wohnungsbaugesellschaften und zeitlich begrenzte Belegungsbindungen bei privatwirtschaftlich errichteten Wohnungen nur ein wenig flankiert, aber im Kern nicht angetastet.
Hauptsächlich Allgemeinplätze
Die Präambel beginnt mit dem Satz: „Vorausschauende Stadtentwicklung dient dem Gemeinwohl“. Der StEP Wohnen 2030 sei daher die „Agenda für die räumlichen Aspekte des Wohnens wie Wohnflächenbedarfe und -potenziale, Neubau-, Bestands- und Quartiersentwicklung und Flächenvorsorge“. Ziel sei es, „urbane Quartiere mit ihren vielfältigen Funktionen zu bewahren und zu entwickeln, die im Sinne einer sozial gerechten, innovativen und umweltverträglichen Stadtentwicklung die vielfältigen Bewohner- und Nutzerinteressen berücksichtigen. (...) Zentral für den StEP Wohnen ist dabei der Blick auf die gegenwärtige und künftige Lebenswirklichkeit in Berlin“. Die Leitlinien seien daher dem „Gebot der Nachhaltigkeit mit ihren ökologischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und partizipatorischen Dimensionen verpflichtet“. Viel mehr erfährt man auch in der Folge nicht. In der Leitlinie 1 wird unter der Überschrift „Sozial und funktional vielfältige Quartiere schaffen und erhalten“ die „breite Vielfalt von Akteuren“ beschworen, die „ein enges, kleinräumiges Neben- und Miteinander unterschiedlicher Nutzungen zulässt und Monostrukturen vermeidet“. Das präge „den Charakter der unterschiedlichen Kieze und stärkt deren Identifikationskraft“. Ziel sei „die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen“.
Die Leitlinie 2 trägt den Titel „Kompakte Stadt lebenswert gestalten und ausbauen“. Zwar wird zugestanden, dass „eine wachsende Stadt eine qualitätsvolle Erhöhung der Dichte erfordert“. Doch Verdichtung habe Grenzen, „denn es gilt, die Wohn- und Lebensqualität in der Stadt zu sichern sowie Grünräume für Belange der Erholung, des Naturerlebens und des Stadtklimas zu schützen und zu qualifizieren“. Nachverdichtung sei daher darauf zu beschränken, „im Quartier einen Mehrwert zu schaffen“, zum Beispiel durch „eine ökologische und gestalterische Aufwertung von Quartieren und Freiräumen“. Was das konkret heißt, demonstrierte die zuständige Senatorin im August mit ihrem „Baum-Erlass“. Durch diesen werden die Fällung und der Rückschnitt von Straßenbäumen verboten, auch wenn diese Eingriffe für die Schaffung eines gesetzlich vorgeschriebenen zweiten Rettungswegs – damit ist die Rettung über die Leitern der Feuerwehr gemeint – notwendig wären. „Effektiver“ kann man wohl kaum gegen Verdichtung durch Dachgeschossausbauten vorgehen.
In der Leitlinie 3 („Stadtentwicklung integriert betreiben“) wird immerhin eine „strategische Liegenschaftspolitik“ gefordert, um „die Spekulation mit Boden aktiv einzudämmen und langfristig die Bezahlbarkeit von Wohnraum zu gewährleisten“. Der Erhalt und Ausbau landeseigener Raumressourcen sei dabei für die Stadtentwicklung von zentraler Bedeutung. Zudem sei die Liegenschaftspolitik „auf die Bedürfnisse der wachsenden Stadt auszurichten“. Doch prompt und quasi gleichberechtigt folgt der verbale Kotau vor der eigenen Klientel, denn bei der Umsetzung gelte es nicht nur, „Wohnungsneubau mit den erforderlichen sozialen, grünen und verkehrlichen Infrastrukturen synchronisiert zu entwickeln“, sondern auch „Raum für die Realisierung experimenteller und modellhafter Ansätze zu schaffen und vorzuhalten, auch um flexibel unterschiedlichen Entwicklungsprozessen gerecht zu werden“.
„Guter Städtebau“ , aber für wen?
Vollkommen nebulös wird es dann in der Leitlinie 4 unter der Überschrift „Baukulturelle und städtebauliche Qualität sicherstellen“. Dort heißt es zu den Kriterien eines „guten Städtebaus“: „Der Mensch als Maßstab ist wichtig, um angemessene Räume unterschiedlicher Öffentlichkeit und eine lebenswerte Stadt für alle Bevölkerungsgruppen zu schaffen“. Voraussetzung dafür sei, „die Einbindung und Beteiligung einer Vielfalt von Akteuren, insbesondere von Eigentümern und Nutzern“. Verwiesen wird auch auf den „Konflikt zwischen den Zielen schnellen und kostengünstigen Bauens einerseits und hoher Energieeffizienz und städtebaulicher Qualität andererseits“. Dieser Konflikt müsse vor allem „durch dialogische Verfahren (Wettbewerbe, Konzeptverfahren, Baukollegium, interdisziplinäre Gremien etc.) gelöst werden“.
In der Leitlinie 5 („Siedlungsstruktur im regionalen Kontext weiterentwickeln“) wird mehr oder weniger offen eingeräumt, dass gemeinsame Planungen mit dem Land Brandenburg bzw. mit den Umlandgemeinden bislang sträflich vernachlässigt wurden und „intensiviert“ werden müssten. Dass betreffe nicht nur die räumliche Planung beispielsweise für die Ausweisung von Bauflächen, sondern auch „die Wohn-, Arbeits- und Freizeitfunktionen in ihren räumlichen Verflechtungen und besonders ihren verkehrlichen Auswirkungen“. Auch in dieser Frage wird wieder eine „Stärkung der kommunalen Nachbarschaftsforen“ als Lösungsansatz ins Spiel gebracht.
Die Überschrift der Leitlinie 6 „Bezahlbaren Wohnraum für alle schaffen und bewahren“ weckt ein bisschen Hoffnung, zumal in diesem Abschnitt formuliert wird, dass „der Aspekt einer dauerhaften Bezahlbarkeit von zentraler Bedeutung“ sei. Konsequent angewendet würde dies eine Abkehr von der bisherigen Förderpolitik bedeutet, die ja in den meisten Fällen aufgrund der zeitlich begrenzten Belegungsbindung nur eine befristete soziale Zwischennutzung der geförderten Wohnungen beinhaltet. Doch wer jetzt auf ein ambitioniertes Programm für den kommunalen Wohnungsbau hofft, wird schnell enttäuscht. Vielmehr werde der Senat „verstärkt auf Genossenschaften, gemeinwohlorientierte sowie alle weiteren Akteure zugehen, die Berlin bei der Schaffung bezahlbaren und qualitätsvollen Wohnens unterstützen“, um „möglichst langfristig bezahlbaren Wohnraum“ zu schaffen. Verschwommener geht es kaum.
Natürlich muss im Stadtentwicklungsplan einer rot-rot-grünen Landesregierung auch das quasi identitätsstiftende grüne Steckenpferd gepflegt werden. Das geschieht in der Leitlinie 7 („Stadtentwicklung ökologisch und klimagerecht gestalten“), die eine eindeutige Handschrift trägt. „Zur Verminderung der unvermeidlichen Folgen des Klimawandels (...) sind stadtklimatisch relevante Freiräume wie Frischluftschneisen zu erhalten. Diese sind auch als Räume für das Naturerleben der Anwohnerinnen und Anwohner, als Wege- und Biotopverbindung und zur Erhöhung der biologischen Vielfalt zu qualifizieren. Eingriffe in Natur und Landschaft sind zu minimieren und durch geeignete Maßnahmen möglichst vor Ort auszugleichen.“ Das ist eine Steilvorlage für Neubau- und Verdichtungsgegner/innen in allen Teilen der Stadt. Gerade in innerstädtischen Quartieren werden sich bei jeder auch noch so kleinen Baumaßnahme eine blockierte Frischluftschneise und ein eingeschränktes Naturerlebnis finden lassen, das dann im Rahmen von Bürgerbeteiligung ins Feld geführt werden kann.
Ein Plan gegen Verdrängung
Nahezu zynisch wird es in einer späteren Passage: „Die Reduzierung von klimawirksamen Emissionen durch sozialverträgliche energetische Maßnahmen an Gebäuden (...) ist für das Ziel der klimaneutralen Stadt unabdingbar“. Dem lässt sich ohne Weiteres zustimmen, aber dem Senat sollte bekannt sein, dass die Bundesgesetzgebung zur energetischen Modernisierung deren „Sozialverträglichkeit“ nicht nur einschränkt, sondern faktisch ausschließt. Längst sind derartige Modernisierungen unabhängig von der damit tatsächlich erzielten Energieeinsparung eines der wichtigsten Instrumente der Vertreibung einkommensschwächerer Mieter/innen aus ihren Quartieren. Und so wird im Zwischenbericht auch eingeräumt, dass eine „klimagerechte Stadtentwicklung ein hohes Maß an Kreativität und Innovation bei der Umsetzung erfordert“, aber eine große Chance „für mehr Lebensqualität in der Stadt“ eröffne. Fragt sich nur für wen.
In der Leitlinie 8 („Stadtentwicklung als partizipativen Prozess der Stadtgesellschaft betreiben“) wird dann schließlich so ziemlich alles, was man eigentlich vorhat, unter eine Art Zustimmungsvorbehalt der jeweils betroffenen Bewohnerschaft gestellt. Wie das nun genau funktionieren soll, weiß man im StEP-Begleitkreis allerdings noch nicht, denn gegenwärtig laufe ja erst „ein umfassender Prozess mit der Stadtgesellschaft zur Erarbeitung von Leitlinien für die Partizipation“, der laut bisheriger Planung in der zweiten Jahreshälfte 2018 abgeschlossen werden soll. Dem könne in diesem Zwischenbericht „nicht vorgegriffen werden“. Denn nur „beteiligende Stadtentwicklung schafft für die Bewohnerinnen und Bewohner eine Möglichkeit, die Entwicklung des eigenen Lebensumfelds mitzugestalten. Frühzeitigkeit, Transparenz und Verbindlichkeit in Bezug auf die Spielregeln, die Rollen, die Entscheidungskompetenzen und die Umsetzung sind wesentliche Faktoren erfolgreicher Partizipation. Dafür sind ausreichend Ressourcen für Beteiligungsprozesse abzusichern“.
Unterm Strich: Der Senat konstatiert einen Neubaubedarf von 194.000 Wohneinheiten bis 2030. Davon definiert er 77.000 als „Altlast“, die aus dem Versagen der Vorgängerregierung resultiert. Das geplante Neubauvolumen ist bislang nicht durch entsprechenden Flächenvorhalt gedeckt. Dazu kommen große Unsicherheiten bei den bereits ausgewiesenen Entwicklungsgebieten, besonders bei der Nachnutzung des Flughafens Tegel und seines Umfelds. Wie auch bereits in der Vergangenheit zu beobachten war, wird es bei vielen Neubauvorhaben erheblichen Widerstand geben, dem der geplante Ausbau der „Partizipation“ hervorragende Instrumente zur Verzögerung und Reduzierung der Bauvorhaben liefert. Dabei können sich Neubau- und Verdichtungsgegner/innen auch unmittelbar auf einige Passagen des StEP-Berichts stützen, wenn es zum Beispiel um „Lebensqualität im Quartier“ und „Klimaverträglichkeit“ geht. Dazu kommt, dass die besonders ambitionierten Ziele von 20.000 neuen Wohnungen pro Jahr für den Zeitraum 2017 bis 2021 angesichts der derzeit deutlich geringeren Zahl von Fertigstellungen und Bauanträgen bereits jetzt Makulatur sind. Wie auf dieser Grundlage der dramatische Mangel an bezahlbarem Wohnraum mittelfristig überwunden werden kann, bleibt das Geheimnis der Autor/innen dieses Berichts.
MieterEcho 392 / Dezember 2017
Schlüsselbegriffe: Soziale Wohnraumversorgung, Zwischenbericht, Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030, StEP, Entwicklungsgebiete, Neubauplanung, Partizipation, Dachgeschossausbauten, Konzeptverfahren, Belegungsbindung, geförderte Wohnungen