Schwarzwohnen in der DDR
Mit stillen Besetzungen gegen den Wohnungsmangel
Von Dietmar Wolf
In der DDR war Wohnraum sehr günstig – aber Mangelware. Das „schwarze Wohnen“ und die stille Besetzung waren verbreitete Mittel, um an eine Wohnung zu gelangen. So waren in den Ost-Berliner Altbaubezirken teils ganze Häuser faktisch besetzt.
Während die Staatsführung der DDR alle Kraft in die Schaffung von riesigen Plattenbausiedlungen am Rand Berlins steckte, verfielen große Teile der Innenstadtbezirke zunehmend. Darüber konnten auch gelegentliche Sanierungsprojekte nicht hinwegtäuschen. Die Maxime der DDR-Wohnungspolitik war es, die „Lösung der Wohnungsfrage“ durch gigantische Neubauprogramme anzustreben. Bereits in den 60er Jahren bestand der Plan, den gesamten Bezirk Prenzlauer Berg – oder zumindest den südlichen Teil davon – abzureißen, um an seiner Stelle Plattenbauten zu errichten. Doch bereits in den 70er Jahren wurde der Plan aufgrund des akuten Wohnungsmangels auf Eis gelegt. Die Stadtplanungsbüros wurden nun angewiesen, schnelle Lösungen zu finden. Kurze Zeit später lief das erste Pilotprojekt um den Arnimplatz in der Nähe der Schönhauser Allee an. Durch Entkernungen und Grundrissvergrößerungen sank die Zahl der Wohnungen in dieser Zeit um 15%. Weil aber kein neuer Wohnraum geschaffen wurde und für die Bewohner/innen zudem Ausweichwohnungen freigehalten werden mussten, sahen die Planer/innen das Projekt nicht als Erfolg an. Komplexe Modernisierungen wie am Arnimplatz in Prenzlauer Berg oder dem Arkonaplatz in Mitte blieben Einzelmaßnahmen. Für die große Masse des Altbaubestands unterblieb die überfällige Sanierung, weil die staatlichen Mittel nicht ausreichten. Zwar wurden auch noch in den 80er Jahren Altbauten saniert, der entstandene Rückstand konnte aber bis zur Wende bei Weitem nicht aufgeholt werden. Nicht unähnlich der West-Berliner Sanierungspolitik, setzte man auch in den Innenstadtbezirken des Ostens planungsperspektivisch auf Entmietung, Abriss und kostengünstigen Betonneubau. Stumme Zeugen kann man am Alexanderplatz rund um die Nikolaikirche begutachten. Dieser Bereich war durch den Krieg stark zerstört worden. Während die Nikolaikirche für die 750-Jahr-Feier Berlins zwischen 1980 und 1983 aufwendig und nach historischen Plänen wiederhergestellt wurde, schuf man in der Umgebung ein zusammengewürfeltes Ensemble mit historischen Bezügen auf verschiedene Zeitepochen und Plattenneubauten mit historisierenden Fassaden. Die so errichteten 800 Wohnungen blieben allerdings normalen Menschen ohne höhere Funktion, entsprechende Beziehungen oder ausreichend Schmiergeld von vornherein verwehrt.
Entmietungen und Abrisspläne
Ein ganz anderes und viel extremeres Beispiel für diese Form von Rekonstruktion bzw. „Sanierung mit Platte“ sieht man in Friedrichshain. In der Frankfurter Allee, von der Ringbahn stadteinwärts zwischen der Jessner- und der Colbestraße, wurden in den 80er Jahren mehrere komplette Straßenzüge abgerissen und durch Betonplattenbau ersetzt. Die Wirren der Wende 1989 und das folgende „Jahr der Anarchie“ 1990 verhinderten, dass dieses Schicksal auch die nachfolgenden Straßenzüge der Mainzer-, Kreutziger- und Niederbarnimstraße ereilte. Großangelegte Entmietungen waren auch hier bereits vollzogen. Letztendlich stoppten dort die zahlreichen Hausbesetzungen im Jahr 1990 die weiteren Abrisspläne.
Ein wesentlicher Grund für den steigenden Leerstand in den Altbaugebieten der Innenstadt waren die stetig wachsenden Bestände in den Neubausiedlungen von Marzahn, Hellersdorf und Heinersdorf. Es waren gefragte Wohnungen mit Fernwärme und Warmwasser. Hier zog es viele Menschen hin. Anstatt die freigewordenen Wohnungen im Altbau jedoch für die vielen Wohnungssuchenden zu nutzen, verschwanden ganze Straßenzüge förmlich von der Bildfläche. Sie galten als nicht mehr vermietbar und standen auf imaginären, für die Zukunft angedachten Abrissplänen. Oder sie wurden Bestandteil von Wohnungsschiebereien innerhalb der Kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV, Plural KWVen), gepaart mit viel Schlamperei, Misswirtschaft und Bürokratie.
Zum Schluss, also spätestens ab dem Sommer 1989, kam zusätzlich die verstärkt einsetzende Massenflucht in den Westen hinzu. Viele Menschen schlossen morgens ihre Wohnung ab, als würden sie normal zur Arbeit gehen oder in den Urlaub fahren. Stattdessen verschwanden sie im Westen und kamen nicht wieder. Ihre zurückgelassenen Wohnungen blieben, meist voll möbliert, über Wochen oder Monate leer. Die KWV merkte meist noch nicht einmal, dass keine Miete mehr gezahlt wurde, denn es gab nur selten Nachprüfungen. Falls die „Flüchtlinge“ nicht selbst anderen Menschen – Freund/innen, Verwandten oder Bekannten – ihre Wohnung überlassen hatten, waren diese Wohnungen für den offiziellen Wohnungsmarkt gesperrt.
Vor diesen Hintergründen erklärt sich, warum in der ganzen DDR das sogenannte schwarze Wohnen bereits in den 70er und dann erst Recht in den 80er Jahren zur probaten Methode wurde, um an Wohnraum zu gelangen. Das Ziel dieser Art der stillen Besetzung bestand nicht darin, Miete zu sparen, sondern schlichtweg eine Wohnung zu bekommen. Nach dem Bezug war es wichtig, sich „still zu verhalten“, damit die Besetzung nicht aufflog. Wenn das dann doch passierte, geschah es meist durch Denunziationen von „wachsamen Mitbürger/innen". Gelegentlich führten die Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei bzw. Mitarbeiter/innen der KWV Stichprobenkontrollen der Hausbewohner/innen durch. Hierfür diente auch das sogenannte Hausbuch, in dem alle aktuellen Bewohner/innen verzeichnet waren. Dieses Hausbuch wurde von einem Mitglied der jeweiligen Hausgemeinschaft aufbewahrt und verwaltet. Um Kontrollen, einem Abgleich mit dem Hausbuch und einem möglichen Auffliegen zu entgehen, vermieden Wohnungsbesetzer/innen oftmals Namensschilder am Klingelbrett. Das aber galt bei Kontrollen wiederum als ein Indiz dafür, dass Wohnungen „illegal“ bewohnt sein könnten. War eine Wohnung erst einmal in den Fokus der Kontrolleur/innen geraten, folgte unweigerlich eine verstärkte Überwachung der Wohnung und dann nicht selten die Entdeckung.
„Illegal“ im Altbau
War man als Besetzer/in aufgeflogen, hing das weitere Verfahren von den nicht selten korrupten Sachbearbeiter/innen der KWVen ab. War die jeweilige Wohnung zum Beispiel Teil von Schieberplänen der KWVen, war ein Rauswurf durch die Polizei und auch eine hohe Geldstrafe unausweichlich. Hatte der oder die Sachbearbeiter/in keine Pläne, konnte man hoffen, mit einer geringen Strafe davonzukommen und in der Wohnung bleiben zu dürfen. In den letzten Jahren der DDR waren KWV und Polizei jedoch zunehmend überfordert, die „stillen Besetzungen“ zu bemerken. Mit der Massenflucht von DDR-Bürger/innen Richtung Westen verlor man gänzlich den Überblick darüber, wer nun tatsächlich noch in welchen Wohnungen wohnte.
In den Ende der 80er Jahre bereits bedenklich maroden und heruntergewirtschafteten Altbaubezirken wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain führte die Methode der stillen Besetzung nicht selten dazu, dass ganze Häuser „schwarz“ bezogen waren. Dazu einige Beispiele: Die Dunckerstraße 21 war ab Anfang der 1980er Jahre nach und nach systematisch besetzt worden. Hier lebten viele Oppositionelle. Deshalb befand sich das Haus schnell im Fokus der Staatssicherheit. Mitte der 80er Jahre wurde das Haus entmietet und saniert. Die Bewohner/innen wurden in verschiedene andere Häuser umgesetzt und erhielten Mietverträge. Im Haus Lychener Straße 61 waren ab 1982 ebenfalls fast alle Wohnungen besetzt. Auch dieses Haus galt als ein Hort von Oppositionellen. 1988 wurde es geräumt, aber schon kurz danach von anderen Personen erneut besetzt. In der Fehrbelliner Straße 7 begannen die stillen Besetzungen ab 1982. Ab etwa 1987 wohnten im gesamten Haus Besetzer/innen, vorwiegend Oppositionelle und Künstler/innen. In der Prenzlauer Allee 203/204 wurden seit dem Frühjahr 1989 die Wohnungen des Hinterhauses „schwarz“ bezogen. Im Januar 1990 erklärten die Wohnungsbesetzer/innen das Haus auch öffentlich für besetzt. Da sich das Schwarzwohnen in der Regel und notgedrungen im Verdeckten abspielte, ist das gesamte Ausmaß dieser Praktik auch heute nicht genau bekannt. Jedoch nahm es mancherorts beinahe die Form eines sozialistischen Volkssports an. Und das nicht nur in Berlin.
Dietmar Wolf gehörte Ende der 80er Jahre der linken DDR-Opposition an. Er war Hausbesetzer und Gründungsmitglied der Antifa Ostberlin sowie der Zeitschrift telegraph. Bei letzterer ist er noch heute als Herausgeber und Redakteur tätig.
Weitere Informationen: www.telegraph.cc
MieterEcho 392 / Dezember 2017
Schlüsselbegriffe: Schwarzwohnen, DDR, stille Besetzungen, Wohnungsmangel, Plattenbausiedlungen, DDR-Wohnungspolitik, Entmietung, Abriss, Leerstand, Altbaugebiete, Innenstadt