Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 387 / April 2017

Gegen Vereinzelung hilft nur das Kollektiv

Die Bewegungen für das Recht auf Wohnraum in Frankreich

Von Thomas Chevallier und Vianney Schlegel

 

Gegen die Verwertung von Wohnraum und die neoliberale Stadt organisiert sich in zahlreichen französischen Städten politische Aktivität. Die Kämpfe um das Recht auf Wohnraum sind vielfältig und erfolgreich. Verschiedene Initiativen und Organisationen stemmen sich gegen die Macht der Vermieter, indem sie Mieter/innen individuell begleiten und dies mit der Organisierung kollektiven Aktivismus verbinden.


„Ich bin hier, weil ich über 4.000 Euro Mietschulden habe und mir meine Wohnung gekündigt werden soll.“ Der Mann, der sich bei der wöchentlichen Beratung eines der Ateliers populaires d'urbanisme/APU (Offene Werkstatt für Stadtentwicklung) vorstellt, wurde von einer staatlichen Behörde an die gemeinnützige Organisation APU verwiesen. Der beratende Aktivist beruhigt ihn, erklärt welche rechtlichen Möglichkeiten er als Mieter hat und fügt hinzu, dass sich Kündigungs- und Zwangsräumungsverfahren häufig in die Länge ziehen. Die Situation des Mieters ist kein Einzelfall. Die Aktivist/innen der APU versuchen, individuelle Probleme mit der Wohnung und der Miete mit den Kämpfen gegen die aktuelle städtebauliche Entwicklung in der Metropole Lille zu verbinden. Der Verein hat sich der Verteidigung des Rechts auf Wohnraum verschrieben, will Mieter/innen aus ihrer Vereinzelung heraushelfen und der Machtungleichheit im Verhältnis zu den Vermietern entgegenwirken. Mit dem Verein im Rücken sind die Erfolgsaussichten bei der Durchsetzung von Mieterrechten deutlich höher, beispielsweise wenn die Rückzahlungen von Mietkautionen gefordert oder Mietminderungen aufgrund gesundheitsschädlicher Mängel in einer Wohnung geltend gemacht werden. Über die konkrete Unterstützung hinaus interveniert die APU auch in die Politik. Sie beleuchtet die politischen Hintergründe der Probleme und richtet Forderungen an den Staat. Im Bereich der Sozialwohnungen ist die kollektive Organisierung der Mieter/innen eine große Herausforderung. Bei dieser Arbeit steht der Verein vor dem Problem, dass durch gesetzliche und strukturelle Defizite in der sozialen Wohnraumversorgung Mieter/innen bei der Vergabe von Sozialwohnungen untereinander in Konkurrenz stehen. Um Solidarität unter den Betroffenen herzustellen, ist in diesem Fall die Klarstellung notwendig, dass politische Entscheidungen die Ursache der Konkurrenz sind.

Sicherung der Mieterrechte

Die meisten Recht-auf-Wohnung-Bewegungen begleiten Betroffene einzeln bei der Einforderung ihrer Rechte. Organisationen wie die APU und die Droit au logement/DAL (Recht auf Wohnen) organisieren und handeln dagegen kollektiv. Die DAL ist bekannt für Besetzungen von leer stehenden Wohnungen und unbenutzten Geschäftsräumen. Die Besetzungen haben zwei Ziele: zum einen die Nutzung der Räume als Wohnraum oder für Vereinsarbeit, zum anderen erzeugen sie mediale Aufmerksamkeit für den Kampf um das Recht auf Wohnen. Das Vorgehen der DAL ähnelt dem des Kollektivs Jeudi noir (Schwarzer Donnerstag), das bevorzugt Gebäude im Stadtzentrum von Paris in der Nähe von wirtschaftlich oder politisch einflussreichen Institutionen besetzt. Ein Beispiel ist die Besetzung eines Gebäudes in der Rue de la Banque (Straße der Bank), das Aktivist/innen von Dezember 2006 bis Oktober 2011 als „Ministerium der Wohnungsnot“ nutzten. Im Umfeld der APU organisiert das Kollektiv Accès (Zugang, gemeint ist der Zugang zu Sozialwohnungen) gemeinsame Besuche örtlicher Behörden. Bei den Besuchen fordern die Aktivist/innen gemeinsam mit den Betroffenen Aufklärung über den aktuellen Stand der – in der Regel stockenden – Bearbeitung der Anträge auf Sozialwohnungen. Auch die unzureichende Schaffung von sozialem Wohnraum wird dabei thematisiert.
Seit der Einführung des Programme national de rénovation urbaine/PNRU (Nationales Stadterneuerungsprogramm) im Jahr 2003 gibt es eine Vielzahl von Abriss- und Neubau-Projekten, vor allem in Stadtteilen mit Großsiedlungen. Mieter/innen, deren Häuser abgerissen und die in Ersatzgebiete umquartiert werden, können eine Begleitung des Prozesses durch Organisationen in Anspruch nehmen. Der Zweck der Begleitung ist die Sicherstellung eines rechtmäßigen Vorgehens der Vermieter, Wohnungsbaugesellschaften und Bauträger bei der Umquartierung. Mieter/innen haben ein Recht darauf, bei einer Umquartierung in ihrem angestammten Stadtteil zu bleiben. Die Umquartierung darf zudem nicht zu einem größeren Anstieg der Wohnkosten führen und die neue Wohnung muss über eine Wohnfläche verfügen, die der Haushaltsgröße angemessen ist. Seit 2005 haben sich verschiedene Initiativen in diesem Bereich gegründet, etwa in der Großwohnsiedlung von Coudraie in Poissy (Île-de-France) oder im Stadtteil Pile in Roubaix (Nord). Sie haben sich zum Ziel gesetzt, die betroffenen Mieter/innen zusammenzubringen, um gemeinsam die Einhaltung ihrer Rechte einzufordern.

 

Erfolge durch Vernetzung

Gute Kenntnisse des Mietrechts und der Regelwerke der städtebaulichen Maßnahmen sind ein Grundbaustein für die Arbeit der Organisationen. Sie sind zudem mit verschiedenen Institutionen vernetzt. Eine enge Anbindung besteht an die Sozialarbeiter/innen, die Betroffene an die Initiativen verweisen, sowie zu Beamten aus der Verwaltung, Angestellten der Gerichte und Rechtsanwälten. Das Vorgehen gegen Kündigungen und Zwangsräumungen ist beispielhaft für die Verzahnung von Rechtskenntnissen und der Vernetzung mit den Institutionen. Die Verfahren bei Zwangsräumungen dauern in Frankreich recht lang, durchschnittlich sechs Monate. Ziehen Betroffene vor Gericht und verlieren ihren Fall, bleibt ihnen noch die Möglichkeit, Beschwerde gegen das Urteil einzulegen, um mehr Zeit für die Suche einer neuen Wohnung eingeräumt zu bekommen. Die Initiativen konnten bezüglich Zwangsräumungen erhebliche Verbesserungen für die Betroffenen erstreiten. 2015 fanden Initiativen heraus, dass es gesetzlich erlaubt ist, mehrmals Rechtsbeschwerden gegen Urteile einzulegen. Sie brachten mehrere betroffene Familien zusammen und zogen gemeinsam vor Gericht. Diese Handlungsweise hatte Vorbildcharakter, auch für andere Städte, und drängte die Richter dazu, Familien mehr Zeit bei der Wohnungssuche einzuräumen. In Lille und Marseille wurden ähnliche Aktionen initiiert unter dem gemeinsamen Dach des von der Abbé-Pierre-Stiftung geleiteten Netzwerks Accompagnement aux droits liés à l’habitat/ADLH (Begleitung bei der Durchsetzung der Wohnrechte). Die 1989 gegründete Abbé-Pierre-Stiftung (Fondation Abbé Pierre/FAP) beschäftigt sich mit der unzureichenden Wohnraumversorgung in Frankreich und insbesondere mit der Wohnsituation Benachteiligter. In der Plattform ADLH haben sich seit 2013 rund 40 Organisationen aus ganz Frankreich zusammengeschlossen. Dort kommen für das gemeinsame Ziel des Rechts auf Wohnraum aktivistische Gruppen und karitative Organisationen zusammen. Angestrebt wird, dass die Begleitung marginalisierter Haushalte bei der Geltendmachung ihrer Rechte gegenüber staatlichen Institutionen als gemeinnützige Interventionsmöglichkeit anerkannt wird. Zudem will man die rechtlichen Möglichkeiten und die Gesetzgebung zugunsten der Mieter/innen verbessern.

 

Einklagbares Recht auf Wohnraum

Die zahlreichen Probleme in Bezug auf das Recht auf Wohnraum zeugen von der Sackgasse, in die der neoliberale Kapitalismus die heutige Gesellschaft hineinmanövriert hat. Das Recht auf eine Unterkunft wurde in Frankreich bereits 1982 im  Quilliot-Gesetz benannt. 1990 folgte mit dem Besson-Gesetz die gesetzliche Verankerung des Rechts auf Wohnraum (droit au logement). Allerdings blieb das Recht auf Wohnraum – ohne staatlichen Willen zu seiner Durchsetzung und vor allem ohne Möglichkeiten, dieses Recht auch einzuklagen – wirkungslos. Um angesichts des politischen Versagens das Recht auf Wohnraum wirksam werden zu lassen, setzte in den 2000er Jahren eine Welle der Organisierung rund um dieses Thema ein. Im Winter 2006/2007 kampierten Organisationen, die sich mit der Betreuung von Obdachlosen und der Verteidigung des Rechts auf Wohnraum beschäftigen, sowie Aktivist/innen der Enfants de Don Quichotte (Kinder des Don Quichotte) gemeinsam in Zelten entlang des Kanal Saint-Martin in Paris. Sie forderten vom Staat Verbesserungen hinsichtlich des Rechts auf Wohnraum. Das Ausmaß und die Breitenwirkung des Protests brachten die konservative Regierung schließlich dazu, das Gesetz Droit au logement opposable/DALO (einklagbares Recht auf Wohnraum) zu erlassen. Jede Person, die über eine Berechtigung für eine Sozialwohnung verfügt, kann seither gegen den Staat vor Gericht ziehen, wenn dieser seiner Pflicht nicht nachkommt, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Ausgeschlossen vom Zugang zu Sozialwohnungen –  und damit auch von der Möglichkeit, eine Wohnung einzuklagen – sind aber Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Frankreich, selbst wenn sie einer Lohnarbeit nachgehen. Zudem gibt es bei der Vergabe von Sozialwohnungen erhebliche Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Missstände werden von den für das Recht auf Wohnraum aktiven Organisationen immer wieder öffentlich kritisiert.
Auch wenn die Einführung des DALO ein Erfolg der Bewegungen ist, reichen die Maßnahmen längst nicht aus, um die ungleichen Machtverhältnisse auf dem Wohnungsmarkt im Neoliberalismus zu überwinden. Parallel zur gewerkschaftlichen Idee, die Lohnabhängigen zu organisieren, um sich gegen das Kapital zu verteidigen, zielt die Recht-auf-Wohnraum-Bewegung darauf, Menschen in schwierigen Wohnverhältnissen, ob Obdachlose, Hausbesetzer/innen oder Mieter/innen, gegen die Immobilienbesitzer zusammenzubringen, damit sie ihre Rechte gemeinsam erkämpfen. Das Recht auf Wohnraum wird so zur gemeinsamen Klammer für eine breite Bewegung.


Übersetzung aus dem Französischen von Thomas Chevallier.

 

 

Thomas Chevallier (links) ist Doktorand der Politikwissenschaft an der Université Lille 2 (Frankreich). Sein Forschungsinteresse gilt Formen der Politisierung marginalisierter Schichten sowie Quartierspolitik und zivilgesellschaftlichen Initiativen in Lille und Berlin. Er ist aktiv in Recht-auf-Wohnraum-Bewegungen und Stadtteilinitiativen in beiden Städten.

 

Vianney Schlegel (rechts) ist Doktorand an der Université Lille 1 (Frankreich). In seiner Dissertation forscht er zur medizinisch-sozialen Begleitung von obdachlosen Menschen in Frankreich. Er ist Aktivist bei Atelier populaire d'urbanisme (APU) de Lille-Fives.




MieterEcho 387 / April 2017

Schlüsselbegriffe: Bewegungen für das Recht auf Wohnraum, Droit au logement, Frankreich, Ateliers populaires d'urbanisme, Kündigungen, Zwangsräumungen, Mieterrechte, Sozialwohnungen, kollektive Organisierung, Wohnraumversorgung, Mieterrechte

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