„Qualitätsstandards sind teuer – Schlichtwohnungsbau ist keine Lösung!“
Wie ein Wiedereinstieg in kostengünstigen und sozial integrierten Wohnungsbau gelingen kann
Interview mit Markus Lehrmann, Architektenkammer Nordrhein-Westfalen
Überzogene Normen und Standards machen den Wohnungsbau teuer. Eine vorschnelle und pauschale Standardabsenkung birgt aber die Gefahr, dass Billigunterkünfte für ökonomisch Schwache entstehen. Auch kostengünstiger Wohnungsbau muss qualitätsvoll und nachhaltig sein, meint der Stadtplaner Markus Lehrmann, der für die Bundesarchitektenkammer die Erarbeitung des kürzlich veröffentlichten Positionspapiers „Bezahlbarer Wohnraum für alle“ koordinierte.
MieterEcho: Technische Bestimmungen, Normen und Qualitätsstandards – wer heute bauen möchte, hat einiges zu beachten. Blicken Sie noch durch?
Markus Lehrmann: Schon, aber es wird in der Tat immer komplizierter. Für das Bauwesen sind fast 24.000 DIN-Vorgaben relevant. Die Anzahl neuer Normen hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Bemessungsnormen für die Standsicherheit wurden in den letzten Jahren auf europäische Normen umgestellt. Diese sind so komplex, dass sie nur noch EDV-gestützt berechnet werden können und im Endeffekt den Charakter einer Blackbox aufweisen. Der Mehraufwand für die Berechnung der Statik beträgt 10%, und manche Bauteile müssen um bis zu 20% stärker dimensioniert werden, als nach den früheren nationalen Normen. Diese Entwicklung bereitet mir Sorgen.
Was spricht denn gegen Normen und Standards?
Grundsätzlich nichts. Ursprünglich dienten Normen ja dazu, durch Standardisierung die Herstellung von Produkten zu vereinheitlichen und zu rationalisieren. Das war im gegenseitigen Interesse der Hersteller und Anwender. Schon lange aber gehen viele Normen über ihren ursprünglichen Zweck hinaus. Durch die fortwährende technische Entwicklung und das hohe Maß an Spezialisierung werden die signifikanten Regelwerke immer komplexer und auf Spezialwissen zugeschnitten. Wer es sich leisten kann, lässt seine Vertreter in möglichst vielen Normungsgremien mitarbeiten und versucht, Änderungen in seinem Interesse zu gestalten. Der Bund hat mit seinem normungspolitischen Konzept die Zielsetzung der Europäischen Kommission übernommen, die eine immer stärkere internationale Normierung als Weg sieht, technische Handelshemmnisse abzubauen. Die Tendenz, über Normung nationale und europäische Rechtsvorschriften zu ergänzen, nimmt zu.
Welche Auswirkungen hat die Entwicklung von Normen und Standards auf die Baukosten?
Von 2006 bis 2013 stiegen die Investitionen der Wohnungswirtschaft pro neu gebauter Wohneinheit um 47%. Die Inflation betrug im gleichen Zeitraum 13%. Die Entwicklung von technischen Baubestimmungen, Normen und Qualitätsstandards treibt ohne Frage die Baukosten in die Höhe.
Welches waren die schlimmsten Kostentreiber?
Als einen wesentlichen Kostentreiber möchte ich die Energieeinsparverordnung (EnEV) nennen. Nachvollziehbare Gründe des Klima- und Umweltschutzes führen zwangsläufig zu erheblichem planerischen, technischen und konstruktiven Mehraufwand und damit unweigerlich zu Mehrkosten. Seit dem Jahr 2002 wurde die EnEV jedoch viermal novelliert – und zwar immer mit höheren Anforderungen. Allein das hat die Baukosten um 6,5% ansteigen lassen. Die neue Erhöhung der energetischen Anforderungen für das Jahr 2016 wird das Bauen um weitere 7,3% verteuern. Dieser Standard ist überzogen, weil die Wirtschaftlichkeit in der Regel nicht nachgewiesen werden kann. Die Investitionen werden sich nicht innerhalb der nächsten 20 Jahre amortisieren. Zudem ist der Nutzen immer weiterer bautechnischer Vorgaben in der EnEV fraglich, weil viele Nutzer/innen ihr Wohnverhalten nicht an technischen Vorgaben ausrichten. Ein technisch überperfektes Gebäude wird dann schlichtweg falsch bedient und der angestrebte Nutzen verpufft.
Sollten also die Standards gesenkt werden?
Wir setzen uns dafür ein, Standards zu überprüfen, damit wir zu bezahlbarem Wohnungsbau für alle kommen. Vor einer vorschnellen und pauschalen Standardabsenkung kann ich hingegen nur warnen. Diese Warnung ist vor allem mit Blick auf die Diskussion um die Unterbringung von Flüchtlingen zu verstehen. Wir wollen nicht, dass man unseren Gebäuden ansieht, wer darin wohnt. Deshalb wollen wir auch keine Gebäude speziell für Flüchtlinge, bei denen die Standards abgesenkt wurden. Auch für bedürftige Einkommensgruppen muss die Kategorie Schlichtwohnungsbau weiterhin ein Fremdwort bleiben.
Warum kein Schlichtwohnungsbau?
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich auch für den sozialen Wohnungsbau ein guter Standard etabliert. Hinter den wollen wir nicht mehr zurückfallen. Unsere Wohngebäude werden für eine Lebensdauer von 80 bis 100 Jahren gebaut, da kann man es sich einfach nicht leisten, schlicht zu bauen. Wir wollen beispielsweise keine Leitungen über Putz und wir sehen es kritisch, wenn für Geschosswohnungen keine Balkone mehr geplant würden. Das wäre dann Schlichtbau.
Wie ist es dann zu verstehen, wenn Sie dafür plädieren, „Standards zu überprüfen“?
Standards zu prüfen, heißt nicht zwingend, Standards abzubauen. Wir kämen schon einen guten Schritt weiter, wenn wir Standards einfrieren könnten. So hat niemand Deutschland gezwungen, die EnEV im Jahr 2016 zu verschärfen. Nur hat vor dem Hintergrund des Pariser Klimagipfels die Politik nicht mehr den Fahrplan ändern wollen. Klar ist, dass die EnEV neu strukturiert werden muss. Die Anforderungen an den Schallschutz könnten wir auch auf heutigem Niveau belassen. Für barrierefreie und rollstuhlgerechte Standards brauchen wir keine gesetzlichen Regelungen. Die Architektenschaft setzt stattdessen auf Beratungsangebote und bedarfsorientierte Lösungen für die Bauherren.
Der Bund hat jüngst Neuerungen im Baugesetz vorgenommen, die es erlauben, vorübergehend Unterkünfte für Geflüchtete im Außenbereich zu errichten. Ist das ein Türöffner für einen neuen Substandard?
Ohne Zweifel. Dem Bund ging es mit den neuerlichen und weitreichenden Änderungen im Kontext des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes allein um schnelle bauplanungsrechtliche Lösungen zur Erstunterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden. Die Kammern und Verbände hatten nur wenige Stunden Zeit, sich zu den Entwürfen zu äußern. Wenn heute Flüchtlingsunterkünfte im Außenbereich gebaut werden, kann sich diese bauliche Nutzung sehr schnell verfestigen. Den kommunalen Entscheidern fällt eine sehr hohe Verantwortung zu. Stadtplanung statt Spontanplanung muss das Motto bleiben. Grundsätzlich sollte auch hier das Primat der Innen- vor der Außenentwicklung gelten, weil insbesondere für wirtschaftlich schwächere Gruppen eine ortseingebundene Lage mit guter Infrastruktur unverzichtbar ist.
Was spricht dagegen, den Außenbereich zu erschließen und dort das Wohnungsproblem zu lösen?
Das Bauen auf der grünen Wiese verzehrt in der Regel landwirtschaftliche Flächen. Diese gehen als Produktionsflächen und als Lebensraum für Tiere und Pflanzen, aber auch als Erholungsraum für Menschen verloren. Außerdem ist die Neuausweisung am Stadtrand teuer. Die erforderliche technische und soziale Infrastruktur muss neu geschaffen werden. Das sind Einrichtungen, die es in den Zentren bereits gibt. Die meisten Städte verfügen immer noch über genug Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb ihres Stadtgebiets, sei es durch industriell oder militärisch vorgenutzte Flächen, sei es durch die Möglichkeit von Nachverdichtungen, durch Aufstockungen oder durch das Schließen von Baulücken.
Wir brauchen also mehr Dichte in unseren Städten?
Verdichtung ist das konsequente Gegenmodell zum diffusen Bauen flickenhafter suburbaner Strukturen. Wenn Deutschland in den nächsten Jahren 400.000 neue Wohnungen pro Jahr bauen muss und den Außenbereich schonen möchte, dann müssen wir die städtebauliche Dichte erhöhen. Wir müssen weiteres Bauland im Innenbereich für den Wohnungsbau mobilisieren. Das entspricht dem Bild der mitteleuropäischen Stadt, die weltweit als Erfolgsmodell gilt. Probleme bereitet uns die Baunutzungsverordnung, die die heutigen Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht mehr hinreichend abbildet. Nicht in jedem Baugebietstyp ist ein erhöhtes Maß der baulichen Dichte zulässig. Wir denken in diesem Sinne an neue Kategorien: durchmischt und mit höheren städtebaulichen Dichten.
Warum ist die Baunutzungsverordnung heute nicht mehr zeitgemäß?
Der Städtebau der Nachkriegszeit orientierte sich an der Charta von Athen mit der Entflechtung städtischer Funktionsbereiche und der Trennung von Wohnen und Arbeiten. Dieses Modell ist bis heute Grundlage der Stadtplanung und prägt auch die Baunutzungsverordnung. Konflikte zwischen dem Wohnen und dem Gewerbe können dadurch präventiv verhindert werden. Aber das Problem ist, dass die strenge Funktionstrennung Entwicklungsmöglichkeiten und insbesondere die Aktivierung innerstädtischen Baulands blockiert. Das muss sich ändern. Kleinteilige Funktionsmischungen müssen zulässig sein. Die Bauministerkonferenz hat Gedanken in diese Richtung entwickelt, die wir sehr unterstützen.
Was halten Sie eigentlich von der modularen Bauweise, die häufig im Gespräch ist?
Aktuell besteht kein wirtschaftlicher oder ökologischer Vorteil von modularen im Vergleich zu konventionellen Bauweisen. Es kommt immer auf den Einzelfall an, und ich möchte davor warnen, sich einseitig und von vornherein auf bestimmte Patentlösungen festzulegen. Planung muss zunächst technologieoffen sein. Allein die Rahmenbedingungen der individuellen Planungs- und Bauaufgabe und natürlich der Standort bestimmen die erforderliche Bauweise. Modulares Bauen darf auch nicht mit günstigem, aber monotonen Bauen verwechselt werden. Dieses Missverständnis entsteht schnell. Modularität kann Grundlage individualisierter Gebäude sein. Das ist die zentrale Planungsaufgabe für Architekten. Und die Baukosten selbst könnten vielmehr etwa durch die Verwendung einfacher Materialien und Bauweisen gering gehalten werden.
Was hindert denn Architekten daran, auf einfache Materialien und Bauweisen zurückzugreifen?
Offensichtlich ist in uns immer noch der Gedanke verwurzelt, dass man nur einmal im Leben baut und dann richtig. Dabei könnten gerade in den Ausbaugewerken ohne funktionale Nachteile zunächst einfachere Materialien zum Einsatz kommen. Ich denke an einfache Bodenbeläge, Wandfliesen, die nur im Spritzwasserbereich angeordnet werden, kostengünstige Türen und einfache Elektro- und Sanitärinstallationsprogramme. Wenn sich dann im Laufe des Lebens Anforderungen ändern, können solche Materialien unproblematisch ausgetauscht werden und durch höherwertige Materialien ersetzt werden. Gerade auch im Mietwohnungsbau kann diese Herangehensweise ein Beitrag zur Senkung der Baukosten sein.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Philipp Mattern.
Der Stadtplaner Markus Lehrmann ist Hauptgeschäftsführer der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen. Die Architektenkammern sind die berufsständischen Organisationen der Architekt/innen und Stadtplaner/innen in Deutschland. Die Dachorganisation der 16 öffentlich-rechtlichen Landeskammern ist die Bundesarchitektenkammer. Weitere Informationen: www.bak.de.
Weitere Informationen:Positionspapier „Bezahlbarer Wohnraum für alle“:
https://www.bak.de/presse/positionen-1
MieterEcho 379 / Februar 2016
Schlüsselbegriffe: Markus Lehrmann, Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, Normen , Qualitätsstandards, Wohnungsbau, Baukosten, Energieeinsparverordnung, EnEV, Flüchtlinge, Schlichtwohnungsbau, Baunutzungsverordnung, städtebauliche Dichte