Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 384 / Oktober 2016

Mehr als ein Mythos

Instandbesetzungen in den 1980er Jahren

Von Armin Kuhn    

                                                    

Die Hausbesetzungen im West-Berlin der 1980er Jahre sind zu einem Mythos geworden. Bilder der damaligen Straßenschlachten gehören ebenso zum kollektiven Gedächtnis der Stadt wie die amerikanischen Rosinenbomber, John F. Kennedys Ausspruch „Ich bin ein Berliner“ oder der über die im Bau befindliche Mauer springende Volkspolizist. Doch das Vermächtnis der damaligen Besetzungsbewegung geht über die Geschichten über das wilde West-Berlin mit Punks, Politaktionen, alternativen Lebensentwürfen und den Bands „Einstürzende Neubauten“ oder „Ton Steine Scherben“ hinaus. Die Hausbesetzungen erzwangen eine andere Stadterneuerungspolitik, deren Folgen bis heute zu spüren sind.        


Wenn Urbanität die Verdichtung von Vielfalt ist, verkörpert kaum eine Bewegung das Städtische so wie die Besetzungsbewegung im Westberlin der 1980er Jahre. Die verschiedenen Motive, Formen, Gruppen und Interessen, die in ihr wirkten, sind unmöglich auf einen Nenner zu bringen. Zur Jahreswende 1980/81 hatte der Häuserkampf die Stadtteile Kreuzberg und Schöneberg fest im Griff und löste in der saturierten Westberliner Politik eine regelrechte Panik aus. Dabei wurde klar: Die Hausbesetzungen hatten die Krise der fordistischen Stadt auf die Straße getragen.            

                                        

Wohnungsnot und Leerstand                

Als in der Nacht vom 12. auf dem 13. Dezember 1980 mit einer Besetzung am Fraenkelufer 48 und den darauf folgenden mehrtägigen Straßenschlachten rund um das Kottbusser Tor die explosive Ausdehnung der Instandbesetzungsbewegung begann, hatte sich eine breite Unzufriedenheit mit der bisherigen Stadtentwicklungspolitik kristallisiert. Im Mittelpunkt der Kritik stand die Stadterneuerung durch Abriss und Neubau (siehe Seite 4). Diese Antwort der Nachkriegspolitik auf den Wohnungsmangel und den Verfall der innerstädtischen Gründerzeitbauten hatte die Wohnungsnot eher verschlimmert als verbessert. Im Jahr 1980 waren rund 80.000 Menschen als wohnungssuchend registriert – die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher gelegen haben. Gleichzeitig standen nach Senatsangaben 27.000 Wohnungen leer. Dieses Missverhältnis, das es Mieter/innen in Berlin nahezu unmöglich machte, eine bezahlbare Wohnung zu finden, war kein Zufall. Die Politik der Kahlschlagsanierung – der massenhafte Abriss innerstädtischer Altbauten, um dort neue Blöcke im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus zu errichten – ermutigte viele Eigentümer/innen, ihre Häuser leer stehen und verfallen zu lassen, bis sie in den Genuss von Fördergeldern kamen. Die neu gebauten Wohnungen waren in der Regel deutlich teurer als die abgerissenen Mietskasernen. So wurden günstiger Wohnraum vernichtet, gewachsene Sozialstrukturen zerstört und die ehemals dichte Mischbebauung ersetzt durch gesichtslose Neubauten, die ausgerichtet waren am Ideal der als normal geltenden Kleinfamilie mit dem männlichen Ernährer im Normalarbeitsverhältnis und dem Auto als bevorzugtem Transportmittel. Für alternative Lebensweisen, selbstbestimmte Freizeiträume und für die gewachsene Urbanität der alten Innenstadtviertel war dort kein Platz mehr.              

 

Verschiedene Motive für Besetzungen            

So verschieden wie die Anlässe des Protests, so unterschiedlich waren auch die Hausbesetzer/innen selbst. Bereits am 1. Mai 1970 hatten Jugendliche im Vorzeige-Wohnungsbauprojekt Märkisches Viertel eine Fabrikhalle als Jugendzentrum besetzt (siehe Seite 8). Auch das berühmte, 1971 besetzte Georg-von-Rauch-Haus am Mariannenplatz, das zwei Jahre später folgende Tommy-Weisbecker-Haus in der Wilhelmstraße oder der im September 1979 besetzte „Turm“ am Leuschnerdamm 9 entstanden als Teile einer landesweiten Jugendzentrumsbewegung. Diese Bewegung richtete sich gegen die Perspektivlosigkeit eines Lebens im Normalarbeitsverhältnis und gegen die Bevormundung in lagerähnlichen Heimen, autoritären Elternhäusern oder kirchlichen Jugendfreizeiteinrichtungen. Ebenso war die Jugendzentrumsbewegung eine Reaktion auf die zu dieser Zeit rapide steigende Arbeitslosigkeit.                

Die ersten wirklichen Instandbesetzungen in der Görlitzer Straße 74 und der Lübbener Straße 3 – die Besetzung leer stehender und baufälliger Wohnungen, um sofort mit der Sanierung in Selbsthilfe zu beginnen – initiierten im Februar 1979 Mieter/innen, die sich in der „Bürgerinitiative SO 36“ gegen Verfall, drohenden Abriss und Mangel an sozialer Infrastruktur organisiert hatten. Zentrale Motive waren auch hier die skandalöse Gleichzeitigkeit von Wohnungsnot und Leerstand, die drohende Vernichtung der historischen Bausubstanz und damit der Identität des Stadtteils, aber auch das Bedürfnis nach alternativen Modellen des gemeinsamen Wohnens und Arbeitens. Die im März 1980 besetzte Luckauer Straße 3 wurde zum Sitz des „Besetzerrats K36“ und damit – neben dem Kunst- und Kultur-Centrum Kreuzberg (KuKuCK) in der Anhalter Straße 7 – zum wichtigsten Ort der späteren „Autonomen“, die die besetzten Häuser vor allem als Ausgangspunkt für eine angestrebte soziale Revolution verstanden wissen wollten. Das im November desselben Jahres besetzte „Kerngehäuse“ in der Cuvrystraße 20/23 hingegen war das Aushängeschild eines vorwiegend weißen und mittelschichtsdominierten Alternativmilieus. Etwa zur gleichen Zeit besetzten wiederum türkische und kurdische Frauen mit ihren Familien die Forster Straße 16 und 17 sowie etwas später die Kottbusser Straße 8. Letztere sind als wichtige Akteurinnen der Besetzungsbewegung heute allerdings weitgehend in Vergessenheit geraten.    

                                    

Kulminationspunkt sozialer Bewegungen        

In der Besetzungsbewegung kulminierten die verschiedenen Bewegungen, die seit Ende der 1960er Jahre in der West-Berliner Innenstadt entstanden waren. Die Breite und Vielfalt der Motive und Interessen ermöglichte es, dass zwischen 1979 und 1984 insgesamt 287 Häuser besetzt wurden. Davon 255 allein in den Jahren 1980/81, vorwiegend in den Bezirken Kreuzberg und Schöneberg, aber auch in Charlottenburg, Neukölln oder Zehlendorf. Um die 5.000 aktive Besetzer/innen in 165 zeitgleich besetzten Häusern zählte die Bewegung auf ihrem Höhepunkt im Sommer 1981. An den Demonstrationen zur Verteidigung der Häuser nahmen damals bis zu 25.000 Menschen teil.Der sogenannte Häuserkampf der frühen 1980er Jahre setzte die verfehlte Wohnungspolitik der Nachkriegszeit unwiderruflich auf die politische Agenda. Auch innerhalb der staatlichen Institutionen und in Fachkreisen der Architektur- und Planungsbranche fielen die Forderungen der Besetzungsbewegung auf fruchtbaren Boden. Zum Sammelbecken dieser neuen Ansätze in der Stadterneuerung wurde ab 1979 die Internationale Bauausstellung (IBA). Den letzten Anstoß lieferte dann ein Korruptionsskandal um den Bauunternehmer Dietrich Garski im Dezember 1980, der den SPD-Senat um den Regierenden Bürgermeister Dietrich Stobbe zu Fall brachte. Während des darauf folgenden mehrmonatigen Machtvakuums und des Übergangssenats unter Hans-Jochen Vogel, ebenfalls SPD, explodierte die Besetzungsbewegung regelrecht. Dieser politische Druck von unten sorgte gemeinsam mit dem Einsickern alternativer Ansätze in Architektur und Planung, aber auch in die Sozial- und Kulturpolitik des im Mai 1981 neu gewählten CDU-Senats, für eine breite und gesellschaftliche Akzeptanz der Instandbesetzungen. Das veränderte die Berliner Stadtpolitik nachhaltig. Die im Jahr 1983 vom Senat als zukünftige Leitlinien der eigenen Politik verabschiedeten „Zwölf Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung“ bedeuteten das Ende der autoritär durchgesetzten Kahlschlagsanierung. Stattdessen sollte die Stadterneuerung baulich, sozial und politisch behutsam vorgehen. Das bedeutete: Sanierung vor Neubau, Erhalt der gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen und umfassende Beteiligung und Mitsprache der Betroffenen. Als tatsächliche Leitlinien blieben diese Grundsätze weitgehend auf das Anwendungsgebiet und den Zeitraum der IBA begrenzt. In Kreuzberg wurden auf diese Weise in den Jahren 1979 bis 1987 36.400 Wohnungen saniert und 2.500 Wohnungen neu gebaut. Dennoch wirkten die Zwölf Grundsätze als politischer Konsens für eine gelungene Stadtentwicklung weit über Kreuzberg und die 1980er Jahre hinaus.                

Der zweite große Erfolg der Instandbesetzungsbewegung war der Erhalt eines Großteils der besetzten Häuser selbst. Mehr als 100 Häuser wurden bis November 1984 in einem zähen Hin und Her – begleitet von erheblicher Repression und einer Spaltung der Hausbesetzer/innen entlang der Frage „Verhandeln oder nicht?“ – legalisiert. Gleichzeitig erhielt ein Großteil dieser ehemals besetzten Häuser für ihre Sanierung Gelder aus dem Senatsprogramm „Bauliche Selbsthilfe“.

                                

Legalisierung und Fördermittel                

Doch Legalisierung und „Staatsknete“ hatten ihren Preis. In einem geschickten Machtspiel mit verteilten Rollen innerhalb des CDU-Senats wurde die Besetzungsbewegung eingehegt, gespalten und letztlich aufgerieben. Trotz eines erneuten Aufbäumens um das Jahr 1987 und einer zweiten Besetzungswelle unter den besonderen Bedingungen der Wende-Zeit in Ostberlin ist seit Mitte der 1990er Jahre eine Besetzungsbewegung aus den städtischen Kämpfen in Berlin verschwunden. Der Grund dafür ist nicht nur die damals eingeführte und als „Berliner Linie“ bezeichnete Maßgabe, Hausbesetzungen innerhalb von 24 Stunden polizeilich räumen zu lassen. Entscheidender ist, dass die Bedingungen im heutigen Berlin ganz andere sind als noch in den 1990er Jahren. Ein großflächiger Leerstand existiert heute nicht mehr, die Eigentümerstruktur ist zersplittert und der zuvor als autoritär gescholtene Wohlfahrtsstaat hat sich im Bereich der Stadtentwicklung zurückgezogen auf die Rolle eines vermeintlich neutralen Moderators privater Interessen. Die Agenda der Alternativbewegungen wurde in vielen Punkten aufgenommen in einen Katalog „guten Regierens“ in der neoliberalen Stadt. Die Forderung nach alternativen Lebensweisen wurde unter dem Schlagwort der „Diversität“ zu einer Lifestyle-Frage verharmlost und die Bestrebungen nach Selbstverwaltung und Mitbestimmung wurden in folgenlose Beteiligungsverfahren kanalisiert.              

 

Kurswechsel in der Stadtentwicklung            

Die Hausbesetzungen von damals haben zwar einen Kurswechsel in der Stadtentwicklung erzwungen und unser heutiges Verständnis von Stadt geprägt. Auf diesen Kurswechsel, der letztlich das Zeitalter neoliberaler Stadtentwicklung einläutete, können die „alten“ Ansätze der Besetzungsbewegungen aber keine überzeugenden Antworten mehr bieten. Dennoch lässt sich an ihre Erfahrungen anknüpfen. Die Kombination sozialer und kultureller Motive – damals die Skandalisierung der Wohnungsnot und die gleichzeitige Suche nach alternativen Lebensweisen – war ein wesentlicher Faktor ihres Erfolgs. Gleiches gilt für die gelungene Kombination unterschiedlicher politischer Ansätze, vom Agieren innerhalb der Institutionen bis hin zur Militanz auf der Straße. Wichtig war außerdem die – wenn auch oft genug konflikthafte – Solidarität zwischen verschiedensten Menschen, die letztlich auf der gemeinsamen Betroffenheit im Alltag und den daraus entstehenden Ansätzen der Basisorganisation und Selbsthilfe beruhte. Darüber hinaus haben die damaligen Besetzungsbewegungen mit der Legalisierung und der baulichen Selbsthilfe eine überaus erfolgreiche Wohnraum-förderung durchgesetzt: Nirgendwo sonst wurden so nach-haltig und mit so geringem Mittelaufwand so niedrige Mieten erzielt und zugleich die Bewohner/innen so umfassend an der Sanierung, Gestaltung und Verwaltung ihrer Häuser beteiligt. Auch dies sollte ins Gedächtnis gerufen werden, angesichts der heutigen mieterfeindlichen Stadterneuerungs- und Wohnungspolitik.                                                   

    

Armin Kuhn ist Politikwissenschaftler und politisch aktiv in der Initiative „Stadt von unten“. 2014 erschien sein Buch „Vom Häuserkampf zur neoliberalen Stadt, Besetzungsbewegungen in Berlin und Barcelona“.



Ausstellung und Katalog zu Stadtentwicklung und Mieterprotesten

Das FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum bietet in seiner Dauerausstellung einen Einblick in viele in diesem MieterEcho behandelte Themen. Der Ausstellungsteil „Geschichte wird gemacht!“ beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Protestbewegung und Stadtsanierung in Kreuzberg SO 36. In diesem Zusammenhang lesens- und sehenswert ist auch der im letzten Jahr erschienene Begleitkatalog „Abriss und Aufbruch am Kottbusser Tor 1945-2015“, der auf knapp 100 reichlich bebilderten Seiten die Ausstellung zusammenfasst. Zu beziehen über das FHXB-Museum, Adalbertstraße 95A, 10999 Berlin. Geöffnet Dienstag bis Sonntag 10-19 Uhr. Eintritt frei.

Infos unter: www.fhxb-museum.de


MieterEcho 384 / Oktober 2016

Schlüsselbegriffe: Instandbesetzungsbewegung, 1980er Jahre, West-Berlin, Stadterneuerungspolitik, fordistischen Stadt, Wohnungsnot, Leerstand, Kahlschlagsanierung, Besetzerrats K36, Kreuzberg, Schöneberg, Häuserkampf, CDU-Senat, Stadtentwicklung

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