Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 385 / Dezember 2016

Berlin auf dem Weg zur Start-up-City

Berlin will ein „Ökosystem“ für Start-ups werden, damit einher kommen neue
Big Player auf dem Immobilienmarkt und Niedriglohnarbeit

Von Laura Berner und Stefan Hernádi

 

Start-ups sind in großem Stil in Berlin angekommen, mit ihnen neues Kapital und neue Arbeit. Ob der Hype um die neuen Unternehmen sich halten wird, bleibt abzuwarten. Erste Auswirkungen sind jedoch bereits sichtbar.    

 

Berlin ist im Gründungs- und Start-up-Fieber. Es gibt einen Start-up-Reiseführer, der Tagesspiegel  kürt in unregelmäßigen Abständen das Berliner „Start-up des Tages“, und das lange Zeit unbeliebte Studienfach Informatik boomt an den Universitäten, weil viele hoffen, im verheißungsvollen App-Geschäft gut verdienen zu können. Auch in der Politik ist immer öfter die Rede von der „Start-up-Metropole Berlin“. Die neuen Unternehmen, darunter mehr oder weniger bekannte Namen wie Soundcloud, Wimdu, Helpling, Delivery Hero oder Zalando sollen die Wirtschaft in Schwung und die Stadt im globalen Standortwettbewerb nach vorne bringen. Bereits 2012 kündigte der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit an, sich „mit aller Kraft einzusetzen, die führende Start-up-Metropole Europas zu werden“. Zudem könnten durch die Ansiedlung von Start-ups bis zum Jahr 2020 über 100.000 neue Arbeitsplätze entstehen.            

Tatsächlich schießen Start-ups in Berlin wie Pilze aus dem Boden und die deutsche Hauptstadt findet sich in verschiedenen europäischen Start-up-Rankings stets unter den Top 5. Im Jahr 2015 investierten internationale Kapitalgeber 2,1 Milliarden Euro in Berliner Start-ups, mehr als in jeder anderen europäischen Stadt.        

 

Gründungsfieber trifft Wagniskapital            

Der vom Bundesverband Deutscher Start-ups herausgegebene Deutsche Start-up Monitor definiert ein Start-up als ein Unternehmen, das höchstens 10 Jahre alt ist, eine „(hoch)innovative“ Technologie oder Geschäftsidee entwickelt und dabei ein schnelles Wachstum an Mitarbeiter/innen oder Umsatz vorweisen kann. Die Entwicklungen der Start-ups haben in der Regel mit Digitalisierung und Informatik zu tun. Berliner Start-ups können in drei Gruppen unterteilt werden: Digital Tech (Online-Dienstleistungen/-handel und Software), Bio/ Med Tech (Gesundheitswirtschaft) und Urban Tech (Verkehr, Energiewirtschaft, Optik), wobei Digital Tech rund 85% der Neugründungen ausmacht.        Start-ups sind Anlageobjekte für das sogenannte Wagniskapital (auch als Venture Capital bzw. VC bezeichnet). Das Wagnis besteht für die Investoren darin, die Entwicklung von Geschäfts-ideen bereits im Gründungsstadium zu finanzieren, wofür sie im Gegenzug Beteiligungsrechte an den Unternehmen erhalten. Da 9 von 10 Start-ups die Gründungsphase nicht überleben, sind solche Investitionen mit hohem Risiko verbunden. Wenn allerdings ein erfolgreiches Start-up für hunderte Millionen Euro an einen Großkonzern verkauft wird oder aber an die Börse geht, winkt eine saftige Rendite. Die Berliner Firma Rocket Internet gilt als Deutschlands bekanntestes Unternehmen, das sich auf die Investition in Start-ups spezialisiert hat. Insgesamt flossen 2015 gut zwei Drittel aller VC-Investitionen innerhalb Deutschlands nach Berlin. Über 50 VC-Investoren haben sich bisher in der Stadt angesiedelt. Darunter finden sich vermehrt auch sogenannte Inkubatoren und Acceleratoren, die neben Kapital Unterstützungsleistungen wie Beratung, Räume und Infrastruktur für Start-ups bereitstellen.            

Seit die Politik entdeckt hat, dass sich Berlin als Standort für Start-ups profilieren kann, konzentriert sie sich auf deren Anwerbung als vermeintliche Zugpferde wirtschaftlicher Entwicklung. Die Stadt wirbt unter anderem im Rahmen der „Start-up Unit“ der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Berlin Partner mit einem attraktiven „Ökosystem“ günstiger Ansiedlungs- und Arbeitsbedingungen: steigende VC-Investitionen, im internationalen Vergleich niedrige Büromieten und Lebenshaltungskosten, eine untereinander vernetzte Start-up-Community sowie ein vielfältiges kulturelles und gastronomisches Angebot.        

Mit dem Brexit hat der Wettbewerb um Start-up-Ansiedlungen weiter an Fahrt gewonnen. Im September eröffnete Berlin Partner in London eine Dependance. Die scheidende Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) hofft, durch den EU-Ausstieg und die damit verbundene unsichere Investitionslage in Großbritannien internationales (Wagnis-)Kapital und Gründer/innen aus London abziehen zu können – im Oktober verkündete Berlin Partner stolz, es gäbe mit mehreren Londoner Start-ups bereits fortgeschrittene Verhandlungen über einen Umzug nach Berlin.

 

 Jobs für Berlin: Niedriglöhne, Praktika und Klick-Arbeit                    

Von den 2012 angekündigten 100.000 neuen Start-up-Jobs sind laut der branchennahen Studie „Booming Berlin“ des Instituts für Strategieentwicklung bisher je nach Definition zwischen 13.000 und 30.000 entstanden, Tendenz steigend. Wie viele davon allerdings ein Praktikum oder Zeitarbeit sind, geht aus der Studie nicht hervor. Andere Studien und Umfragen legen nahe, dass im Start-up-Sektor aufgrund des hohen Unternehmensrisikos meist befristete Stellen entstehen. Auch die zahlreichen Klagen aus der Branche über die gesetzliche Pflicht, Praktikant/innen zu entlohnen, sprechen Bände. Auf Start-ups spezialisierte Job-Beratungsseiten im Internet raten Bewerber/innen, sich im Fall einer Anstellung regelmäßig selbst zu informieren, wie es wirtschaftlich um das Unternehmen steht, um die eigene Arbeitsplatzsicherheit einzuschätzen. Auch liegen die Einstiegsgehälter beispielsweise von IT-Fachkräften deutlich unter denen vergleichbarer Jobs bei anderen Arbeitgebern. Als „Ausgleich“ werben Start-ups mit Mitgestaltung sowie der (unsicheren) Option auf Gewinnbeteiligung.             

Mit den Start-ups kommen neue niedrig qualifizierte Jobs in die Stadt. Für viele Apps und digitale Anwendungen werden schlecht bezahlte sogenannte „Klick-Arbeiter/innen“ freiberuflich und unter Mindestlohnniveau beschäftigt.                     

 

Neue Akteure auf dem Wohnungsmarkt        

Ein Großteil der neu entstehenden Arbeitsplätze bringt die dazugehörigen Arbeitskräfte gleich mit in die Stadt. Dadurch trägt der Start-up-Boom zum wachsenden Druck auf den Wohnungsmarkt bei. Die Start-up-Welt findet dabei neue Lösungen, der eigenen Klientel einen privilegierten Zugang zum Wohnungsmarkt zu organisieren. In sogenannten Relocation Agencies kümmern sich spezielle Teams um die Vermittlung von Wohnungen für neue Mitarbeiter/innen. Da ein besonderes Merkmal von Start-ups die hohe Arbeitsplatzmobilität ist, steigt zudem das Angebot an temporären und möblierten Wohnungen. Dies entzieht dem Wohnungsmarkt weiteren regulären Wohnraum.                         

Aber auch der Markt für Gewerbe und Büroflächen ist in Bewegung, da die neuen Firmen Platz brauchen. So hat etwa der sogenannte Start-up-Campus „Factory Berlin“ Immobilien im größeren Stil erworben und plant, innerhalb der nächsten 5 Jahre über 900.000 qm Bürofläche zu verfügen.         

Auch der Online-Versandhändler Zalando hat sich ein halbes Wohnhaus in Friedrichshain gesichert und vermietet dort ausschließlich an seine Beschäftigten (siehe MieterEcho Nr. 383/ September 2016). Rocket Internet hat sowohl das Tempelhofer Ullsteinhaus als auch das ehemalige GSW-Hochhaus in Kreuzberg erworben und zielt zudem auf den Erwerb eines kompletten Häuserblocks in Nord-Neukölln ab (siehe MieterEcho Nr. 383/ September 2016). Für VC-Investoren ist es doppelt sinnvoll, in den Immobilienmarkt einzusteigen. Mit eigenen Wohn- und Gewerbeflächen kann exklusive Infrastruktur für die wachsende Nachfrage von Start-ups bereitgestellt werden. Die derzeit als sehr sicher geltenden Investitionen in Immobilien können wiederum als ein Baustein bei der Diversifizierung des Investitionsportfolios dienen. Mit den VC-Investoren und Akteuren wie Factory Berlin bewegen sich also neue Big Player auf dem Berliner Immobilienmarkt.

                                

Stadt der Apps – Stadt ohne Läden            

Erst vor Kurzem berichtete die englische Zeitung The Guardian über den Londoner Trend der Stadt ohne Läden. Durch neue digitale Angebote bricht die Nachfrage nach klassischer Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs weg. Wer will und dies bezahlen kann, bestellt bereits jetzt sein Essen komplett über Liefer-Apps, lässt schmutzige Wäsche über eine Reinigungs-App abholen und bucht per Friseur-App den nächsten Haarschnitt. Die mittels App gesteuerte Versorgung mit Waren und Dienstleistungen ist in der Start-up-City eines der größten Entwicklungsfelder. Dazu generiert sich die Nachfrage nach den neuen Angeboten selbst aus dem wachsenden Milieu der technikaffinen Stadtbewohner/innen. So entsteht eine boomende Parallel-Infrastruktur, die nicht allen gleichermaßen zugänglich ist und die zudem auf eine Heerschar an prekären Arbeiter/innen angewiesen ist, welche die Tätigkeiten am Ende ausführen.         

 

„Berlin Valley“: von der Kreativen Klasse zur Start-up-City                    

Die Rede von Start-ups ist relativ neu, nicht aber das Konzept, „Kreative“ und „Innovationen“ in die Stadt zu locken, um Arbeitsplätze zu schaffen, wirtschaftliche Dynamik zu befeuern und sich im globalen Standortwettbewerb der Metropolen zu behaupten. Richard Floridas Konzept der Kreativen Klasse wurde in den 2000er Jahren mit Klaus Wowereits „arm, aber sexy“ auch zum Berliner Stadtmodell (siehe auch MieterEcho Nr. 333/ April 2009). Nun haben die Gründer/innen die Kreativen ersetzt. Noch wird das kreative Milieu im Zusammenhang mit der Anwerbung von Gründer/innen und Fachkräften weiterhin als Standortfaktor gebraucht. Für Berlin und gegen London, Tel Aviv oder Stockholm als Arbeits- oder Gründungsplatz entscheide man sich immer noch wegen des Techno-Clubs Berghain und nicht wegen der hier gezahlten Löhne.            

Die gigantischen Investitionssummen, Käufe auf dem Immobilienmarkt und entstehenden Gründer/innen-Zentren lassen erkennen, dass ein neuer Anspruch erhoben wird. „Wir sind fest davon überzeugt, dass wir in Berlin ein europäisches Silicon Valley schaffen können, das zum Anlaufpunkt für Unternehmer in Deutschland und ganz Europa wird“, meint der Manager der Factory Berlin. Das Vorgehen des Unternehmens zeigt auch, dass mit dieser neuen Entwicklung eine Zerstörung dessen einhergeht, was als Ausgangspunkt galt. Im Zuge der Factory-Expansion werden in mehreren Fällen Gebäude mit Atelier- und Bürogemeinschaften entmietet, um Platz für Start-ups zu machen. Wird angesichts dieser Entwicklungen die Stadt zum „Berlin Valley“? Zumindest sind Start-ups bereits Teil des neuen Leitbilds der Stadt. Ob Berlin jedoch tatsächlich zum internationalen Start-up-Mekka wird, ist keinesfalls sicher. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein angestrebtes Stadtmodell nach kurzem Hype wieder in der Versenkung verschwindet. So ist die Global City, die um die Jahrtausendwende ausgelobt wurde, bisher noch nicht in Berlin angekommen. Vielleicht sind es aber gerade die Start-ups und die einhergehenden internationale Kapitalströme, die Berlin endlich zu der Global City machen, die sich Politik und Wirtschaft herbeisehnen.                    

In jedem Fall ist abzusehen, dass die Start-up-Fokussierung die prekäre Lage auf dem Berliner Arbeitsmarkt weiter verschärfen und den Immobilienmarkt stärker unter Druck setzen wird. Die fortschreitende Zersplitterung der Stadt, in der sich soziale Unterschiede immer weiter ausdifferenzieren und große Teile der Bevölkerung von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen sind, ist absehbar. Dass Skepsis gegenüber den Start-up-Verheißungen durchaus angebracht ist, lehrt unter anderem das große Vorbild San Francisco. Dort verlassen mittlerweile Künstler/innen, „Kreative“ und Start-up-Mitarbeiter/innen die Stadt, weil sie keine auch nur halbwegs bezahlbare Wohnung finden, und sich auch die explodierenden Lebenshaltungskosten schlicht nicht mehr leisten können.                    

Für Stadtteilgruppen, Basisorganisationen und eine kritische außerparlamentarische Öffentlichkeit lohnt sich die Beschäftigung mit Start-ups, um zu erfahren, was möglicherweise auf Berlin zukommt und wie dem Hype um die Start-up-City mit seinen immer unsichereren Arbeits- und Lebensverhältnissen entgegengesteuert werden kann.         

 

 

Laura Berner ist Politikwissenschaftlerin, Co-Autorin der 2015 erschienenen Studie „Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems“ und in stadtpolitischen Zusammenhängen aktiv.

Stefan Hernádi beteiligt sich an der Organisierung gegen steigende Mieten und Verdrängung, schrieb seine Abschlussarbeit zum Recht auf Stadt und beschäftigt sich mit Fragen zur Stadtentwicklung.

 

 

Weitere Informationen:

www.deutschestartups.org

www.ifse.de (Studie „Booming Berlin“)

 

 


MieterEcho 385 / Dezember 2016

Schlüsselbegriffe: Start-up-City, Immobilienmarkt, Niedriglohnarbeit, Soundcloud, Wimdu, Helpling, Delivery Hero, Zalando, Gründungsfieber, Digitalisierung, Informatik, Wohnungsmarkt , Factory Berlin

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