Zwischen Stolz und Scham
Wie viel „freien“ Wettbewerb verträgt der soziale Wohnungsbau in Europa?
Von Michaela Kauer
Wer in Wien aufwächst, tut dies mit 60%iger Wahrscheinlichkeit im kommunalen, sozialen oder geförderten Wohnungsbau. Das bedeutet, dass drei von fünf Wiener/innen, die Sie im Kaffeehaus oder in der „Bim“ , so nennen wir liebevoll unsere Straßenbahnen, treffen, in einer öffentlich unterstützten Wohnung leben. In Wien ist man stolz auf den „Gemeindebau“ , die großen kommunalen Wohneinheiten, deren prominentester der Karl-Marx-Hof im bürgerlichen Bezirk Döbling ist. Dem Gemeindebau sind Lieder, Gedichte, Malwettbewerbe, Fernsehfilme und sogar ein Wandertheater gewidmet.
In anderen Ländern ist das undenkbar. Da sind es Unbehagen, Angst und Scham, die das Leben im sozialen Wohnungsbau prägen. Oft rasch und lieblos in den 1960er und 1970er Jahren hochgezogen, an unattraktiven Standorten und schlecht erschlossen bieten sie keine Infrastruktur für einen angenehmen Alltag. Die Vorstädte von Paris sind zum Symbol für soziale Brennpunkte geworden. Die Adresse wird dort zum Knock-out-Kriterium für den sozialen oder Bildungsaufstieg. Wer da drin ist, will nur noch eines: raus. Dazwischen liegen vielfältige Modelle des sozialen Wohnungsbaus, die meist lokal und regional gewachsen sind und mal mehr auf Objekt-, mal mehr auf Subjektförderung abzielen. In manchen Ländern wird das Wohnen steuerlich begünstigt, in anderen gibt es öffentlich gestützte Darlehen für den Mietwohnungs- oder Eigenheimbau. Einige Länder setzen stark auf Mieterschutz, andere auf die Eigenverantwortung der Wohnungsunternehmen. So kommen beispielsweise die gemeinnützigen Genossenschaften aus der christlichen Sozialtradition und aus der Arbeiterwohlfahrt.
Die kommunalen Wohnungsbauten der Zwischenkriegszeit etwa in Amsterdam, Berlin und Wien sind nicht nur soziale, sondern auch architektonische Meisterleistungen ihrer Zeit. Und sie waren finanztechnische Wunderwerke, wenn wir an die „Wohnbausteuer“ von Hugo Breitner in Wien denken. Nach dem Motto „nimm es den Reichen, gib es den Armen“ fand hier bis zum Beginn des Austrofaschismus eine enorme Umverteilung statt, die in die Errichtung von rund 60.000 Wohnungen floss, von der Wien bis heute profitiert – auch als Tourismusstadt.
Wohnungsbau für viele oder für wenige
Nach Ansicht der Wettbewerbshüter in der Europäischen Kommission in Brüssel ist nun jedoch das Modell, das ihren Vorstellungen eines „freien“ sozialen Wohnungsmarkts entspricht, eines, das den Zugang nur einigen wenigen, „sozial schwachen und benachteiligten Gruppen“ einräumt. Aber wie kurzsichtig dies gerade aus ökonomischer Sicht ist, zeigen die Zahlen aus Wien. Zugegeben, Wien ist der Hotspot des sozialen Wohnbaus, nicht nur in Europa, sondern weltweit, und dafür anerkannt und beneidet. Allein durch die Sanierungsoffensive für die Wiener Gemeindebauten, bei der die Stadt 700 Millionen Euro bis 2016 einsetzt, werden 7.000 Arbeitsplätze gesichert. Nur für wenige zu bauen (oder zu sanieren) ist volkswirtschaftlich kurzsichtig.Ein starkes soziales, öffentlich gefördertes Wohnungswesen, quer durch alle Quartiere der Stadt, von der Innenstadt über die bürgerlichen Wienerwaldbezirke bis hin zu den ehemaligen Vorstädten im Donaufeld ist die – noch einmal sei es gesagt – ökonomische Voraussetzung für einen ausgewogenen Markt und für soziale Durchmischung. Diese Durchmischung bedeutet natürlich, dass sich einige Private kein Stück vom Kuchen abschneiden können, weder über hohe Mieten (die dann vom Staat über die Sozialausgaben bezuschusst werden) noch über die Aushöhlung des Mieterschutzes. Daher zogen seit dem Jahr 2000 institutionelle Immobilieninvestoren gegen die Wohnbauförderungssysteme von Schweden, den Niederlanden und Frankreich vor die EU-Wettbewerbsbehörde. Die Kläger zielen im Grunde alle auf eine Verknappung des institutionellen sozialen Wohnungsangebots ab, sei es durch eine Verringerung der Einkommensgrenzen wie in den Niederlanden, durch Neuordnung der Verhandlungsmodalitäten für die Miethöhen wie in Schweden oder durch eine Hinterfragung der Zugangskriterien wie in Frankreich.
Leider konnten sich die Kläger und die EU-Kommission als Wettbewerbsbehörde dabei auf eine Grundlage im EU-Beihilfenrecht, das sogenannte Almunia-Paket, beziehen. Gegen diese gingen 2013 die Bürgermeister/innen von 30 europäischen Großstädten, denen es dann mal langsam reichte, mit einer Resolution für den sozialen Wohnungsbau in Europa vor. Im Kern zielt diese vom Wiener Bürgermeister Michael Häupl gestartete Initiative darauf ab, eben jene Bestimmung zu ändern, die den sozialen Wohnungsbau nicht als universell versteht, sondern ausschließlich auf besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen einschränkt. Dies sei ein Eingriff in die lokale Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht der Städte, so die Resolution.
Ökonomische Kurzsichtigkeit der Kommission
Wenn schon nicht wirksam, so doch unangenehm genug für die Kommission, die dann 2014 ein neues Arbeitspapier – diesmal aus der Generaldirektion Finanzen und Wirtschaft – herausgab. Das sehr technisch formulierte Dokument unter dem vordergründig harmlosen Titel „Regulierung des Mietwohnungsmarkts in der EU“ gab ein klares Ziel vor: Durch Aufweichung von Mieterschutz und Mietpreisbindungen sollen die Märkte für Mietwohnungen ihr „volles Potenzial entfesseln“. Diese Studie greift inhaltlich viel zu kurz und trägt dem sehr heterogenen Bild der Wohnungswirtschaft in Europa keineswegs Rechnung. Anstatt einen integrierten Blick auf die Wohnraumversorgung in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU zu werfen, wird lediglich das private Mietwohnungssegment analysiert. Das bedeutet eine Absage an die gemeinnützige Wohnungswirtschaft und ist damit konjunkturpolitisch vollkommen kontraproduktiv. Interessant ist, dass diese Position aus einer Ecke kommt, der doch eigentlich die Konjunkturbelebung ein Anliegen sein sollte. In dem Arbeitspapier wird jegliche Regulierung des Mietwohnungsmarkts an den Pranger gestellt. So heißt es etwa: „Mietpreisregelungen scheinen eine destabilisierende Rolle im Wohnungsmarkt zu spielen, sie erhöhen die Volatilität bei Immobilienpreisen bei größeren Krisen.“ Die gelernte Wienerin kann hier nur noch staunen. Um Preisschwankungen auf dem Wohnungsmarkt zu verhindern, regt die Kommission die „Weiterentwicklung des privaten Mietwohnungsmarkts“ an. Dazu sollen „effiziente, faire und rasche Verfahren“ dienen – nichts anderes als eine Aushebelung des Mieterschutzes. Und eine weitere scharfe Erkenntnis lautet: Der soziale Wohnbau verzerrt in Wahrheit das Angebot ebenso wie Mietbeihilfen die Nachfrage verzerren. Nun ja. In Wien haben wir es gerne verzerrt, wenn es hilft, dass sich Menschen das Wohnen leisten können.
Gemeinwohl kein Primat europäischer Politik
Warum ist das Papier beunruhigend? Nun, zunächst, weil es aus der Generaldirektion für Finanzen und Wirtschaft kam. Das ist einer der mächtigsten Motoren für Liberalisierung und Wettbewerb in der Europäischen Kommission, der auch die Regeln gestaltet, wie wir sie im Mechanismus des sogenannten Europäischen Semesters mit den entsprechenden Länderempfehlungen kennen. Dann: Mit einer solchen Studie wird ein Regelungsbedarf konstruiert, was schon allein Anlass zur Sorge bietet. Und schließlich noch: Aus der Kommission tönt es bereits länger, dass ein Anteil von maximal 6% geförderten Wohnungsbaus am Gesamtwohnungsbestand ausreiche, um – da sind wir wieder bei der von den EU-Stadtoberhäuptern kritisierten Bestimmung aus dem Almunia-Paket – die wenigen „sozial schwachen und benachteiligten Gruppen“ – zu versorgen. So schließt sich der Kreis.
Europa hat einen Konstruktionsfehler. Trotz des im Vertrag von Lissabon endlich gestärkten Subsidiaritätsprinzips ist das Gemeinwohl, das auf lokaler und regionaler Ebene am besten organisiert (und definiert!) wird, nicht zum Primat europäischer Politik geworden. Anders gesagt: Die Armen sollen sich mal schön weiter schämen. Die Vielfalt, auch im sozialen und geförderten Wohnungsbau, muss sich immer wieder gegen die Agitatoren des Beihilfen- und Wettbewerbsrechts der EU stemmen. Deren Orientierung auf die kurzfristigen Profitchancen einzelner Unternehmen verhindert den Blick darauf, dass von einem gesamtwirtschaftlichen Nutzen auch der gesamtgesellschaftliche Mehrwert Europas abhängt.
Michaela Kauer ist Chefin des Verbindungsbüros der Stadt Wien zur EU, das auch als „Wien-Haus in Brüssel“ bekannt ist. Sie ist Mitglied der SPÖ und arbeitet zu den Themen Wohnungspolitik, Daseinsvorsorge, Umwelt- und Gleichstellungspolitik. Darüber hinaus ist sie als Dozentin für „European Public Management“ an den Fachhochschulen in Wien und Eisenstadt tätig.
http://michaelakauer.at
MieterEcho 376 / September 2015
Schlüsselbegriffe: sozialer Wohnungsbau, Europa, Wien, Gemeindebau, Wohnbauförderungssysteme , Schweden, Niederlande, Frankreich, Mietpreisbindung, Wohnungswirtschaft, Mieterschutz