Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 375 / Juli 2015

"Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit haben politische Ursachen.“

Interview mit Laura Berner und David Schuster

Interview mit Laura Berner und David Schuster    

                                    

Zwangsräumungen und das staatliche Hilfesystem bei Wohnungslosigkeit werden in einer neuen Studie untersucht. Anhand der sozialwissenschaftlichen Auswertung statistischer Daten und qualitativer Interviews weisen die Autor/innen nach, dass jedes Jahr Tausende Berliner/innen mit einer Räumung konfrontiert werden. Zudem konstatieren sie ein Scheitern des Hilfesystems. Gegen Zwangsräumung gibt es seit 2012 verstärkt Proteste. Mehrfach konnten Räumungen oder Wohnungslosigkeit verhindert werden. Ein Gespräch mit Laura Berner, Mitautorin der Studie, und David Schuster vom „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ .                                                                    

 

MieterEcho: Die Studie zeichnet ein drastisches Bild, sowohl was das Ausmaß von Räumungen als auch den Zustand des Hilfesystems angeht. Sind Sie von den Ergebnissen der Studie überrascht?

David Schuster: Für uns im „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ ist das meiste nicht überraschend. Jede in der Studie dargestellte Situation kennen wir aus unserer dreijährigen politischen Arbeit: Zwangsräumungen wegen des Jobcenters und durch städtische Wohnungsbaugesellschaften, im Anschluss heruntergekommene Unterbringungen und insgesamt entwürdigende Behandlungen. Das alles gehört zum Alltag in der Stadt.                                

Laura Berner: Persönlich schockiert war ich von den sich auftuenden Moralvorstellungen im Hilfesystem. Bis auf eine Ausnahme haben wir in allen Interviews Schuldzuweisungen an Räumungsbedrohte oder rassistische bzw. sozialdarwinistische Zuschreibungen gehört.                

Schuster: Den Blick auf das Innenleben des Hilfesystems finde ich sehr aufschlussreich. In der wohnungspolitischen Diskussion wird dieser Bereich oft als Blackbox gesehen, in der alle nur ihren Job machen. Dass dort aber Leute mit teils sehr problematischen Moralvorstellungen sitzen, und sich deren Ansichten und Handeln zum Nachteil der Betroffenen auswirken, wird bisher gar nicht berücksichtigt.                                                


Das Jobcenter nimmt in der Studie eine zentrale Rolle ein. Es ist für Unbeteiligte jedoch schwer zu glauben, dass es verantwortlich für Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit ist.

Schuster: Diese Gutgläubigkeit begegnet uns in der Öffentlichkeit häufig. Dass Menschen ihre Wohnungen aufgrund des Jobcenters verlieren, könne doch nicht sein, da würden wir doch übertreiben. Das tun wir aber nicht.                                                


Aber wie kann es sein, dass Menschen ohne eigenes Zutun plötzlich ihre Wohnung verlieren?                                            

Berner: Da gibt es verschiedene Varianten. Die häufigsten sind die sogenannten Fehler. Anträge werden vom Jobcenter monatelang nicht bearbeitet und dementsprechend keine Leistungen gezahlt, wodurch dann Mietrückstände entstehen. Viele Erwerbslose können sich nicht einfach so Geld leihen. Sie werden vom Jobcenter auch nicht über ihre Rechte aufgeklärt, unter bestimmten Bedingungen eine Barauszahlung zu erhalten. Kündigungen wegen Mietrückständen gibt es aber auch, weil das Jobcenter enorme Probleme hat, Kontoänderungen der Vermieter rechtzeitig zu verarbeiten und die Miete auf ein falsches Konto gezahlt wird.                                                    

Schuster: Es ist übrigens bekannt, dass einige Vermieter diese Kontoänderungen ganz bewusst als Taktik einsetzen, um Kündigungen aussprechen zu können.

Berner: Außerdem verursachen Sanktionen Räumungen. Wenn das Jobcenter das Arbeitslosengeld kürzt, müssen Menschen entscheiden, ob sie am Essen oder an der Miete sparen. Auch liegen die Mieten bei ALG-II-Beziehenden immer häufiger über den Bemessungsgrenzen der Kosten der Unterkunft. Diese Bemessungsgrenzen legen die Jobcenter sehr streng aus. Zudem ist die Anzahl der ALG-II-kompatiblen Wohnungen im gesamten Stadtgebiet drastisch zurückgegangen.                                            


Das „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ und die Erwerbsloseninitiative „Basta“ haben dem Jobcenter Neukölln nach der Veröffentlichung der Studie demonstrativ einen goldenen Knüppel verliehen. Warum gerade dort?

Schuster: In der Studie wird eine Mitarbeiterin zitiert, die sich die Prügelstrafe für Leistungsbezieher/innen wünscht. Es ist das repressivste Jobcenter der Stadt und das gesamte Neuköllner Hilfesystem ist eine Katastrophe. Die Zustimmung der Betroffenen vor Ort zur Aktion hat uns das bestätigt.                                       

Berner: Tatsächlich ist es so, dass das Jobcenter dort eine beispiellose Machtposition hat. Die Berichtspflicht über Räumungsklagen liegt in Neukölln beispielsweise beim Jobcenter, das aber gar keine Statistiken führt. Das Bezirksamt nimmt seine vorgesehene Kontrollfunktion bei Anträgen auf Mietschuldenübernahmen außerdem nicht wahr, sondern es übernimmt einfach alle Entscheidungen des Jobcenters.                                        


Zwangsräumungen oder Wohnungslosigkeit werden in der Öffentlichkeit als Einzelschicksale dargestellt. Die Schuldfrage richtet sich an die Betroffenen. Die Studie nimmt hier eine andere Perspektive ein.                                                

Berner: Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, einzelne Schicksale zu beleuchten. Wir betrachten dagegen die Systematik des Wohnungsmarkts und des Hilfesystems und stellen fest, dass dieses Hilfesystem vor allem den Markt bedient. Auch ist es angesichts der aktuellen Wohnungsnot nicht in der Lage, Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit zu verhindern. Das Hilfesystem ist von der Mär dominiert, die Schuld an Zwangsräumungen läge bei den Betroffenen selbst und diese hätten ihre Wohnungsnotlage allein zu verantworten.                                        

Schuster: Alle Räumungen haben eine Gemeinsamkeit: Den Willen der Vermieter, Leute unbedingt aus ihren Wohnungen herauszuwerfen. Wir beziehen eindeutig Position dagegen und solidarisieren uns mit den Betroffenen. Das heißt auch, dass wir uns von dieser individuellen Schuldfrage lösen und die Geschichte einer Zwangsräumung anders erzählen.                                        


Es gibt ja nicht nur Betroffene. Wer profitiert von Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit?                                            

Berner: Unsere Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Räumungskosten und Marktdynamik kommt zum Schluss, dass Vermieter von Zwangsräumungen immer schneller profitieren. Da die Neuvermietungspreise so in die Höhe gehen, rechnen sich die Kosten einer Räumung viel eher.                   

Schuster: Wir haben aber auch erlebt, wie mit privaten Wohnheimen Geld gemacht wird. Im Fall einer geräumten Familie hat der Bezirk Charlottenburg für die anschließende Unterbringung 25 Euro pro Tag und Person gezahlt. Die Unterbringung hieß zwar ansprechend Luisenstadt-Apartments, war aber ein verwanztes Wohnheim.                        

Berner: Wohnungslosigkeit ist ein lukratives Geschäftsfeld, in dem private Wohnheimbetreiber sehr viel Geld machen, während die untergebrachten Menschen oft unwürdige Zustände ertragen müssen. Die Bezirke lassen sich in der aktuellen Situation die Bedingungen der Unterbringung diktieren. Ihnen fehlen schlicht Kapazitäten zur Kontrolle.                                            


Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich angesichts solcher Schilderungen an die Politik?                                            

Schuster: Wir wenden uns als erstes an die Mieter/innen. Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit haben politische Ursachen. Also lohnt es sich, aktiv zu werden. Neben der Notwendigkeit einer rechtlichen Beratung kann man zu unserem Bündnis kommen, um sich zu wehren. Bei den Nachbar/innen und im Kiez findet man am ehesten die, die ähnliche Probleme haben, und mit denen man Gegenmacht aufbauen kann.

Berner: Wir haben uns dagegen entschieden, Empfehlungen oder Forderungen zu formulieren. Ich denke, unsere Aufgabe ist die Analyse und Aufarbeitung des Themas. Die Expert/innen der Praxis sind dort, wo politische Arbeit stattfindet. Den Willen, den Wohnungsmarkt an sich infrage zu stellen und das Hilfesystem dementsprechend strukturell zu verändern, sehen wir aber bei keiner denkbaren Regierungskoalition. In Richtung der institutionellen Politik sollte man jedoch einmal nach einer Rechtfertigung dafür fragen, warum ein staatliches System derart versagt.         

 

Könnte der Mietenvolksentscheid ein wirkungsvolles Instrument für Zwangsräumungsbedrohte und Wohnungslose sein?                                                        

Berner: Ich sehe einen begrenzten Spielraum so einer Initiative. Für ein Ende aller Zwangsräumungen müsste man in das Eigentumsrecht eingreifen, das auf Bundesebene zu verändern wäre. Zudem ist dieses Eigentumsrecht eines der Heiligtümer dieses Staates. Der Volksentscheid würde Zwangsräumungen von Transferleistungsbezieher/innen mit Mietrückständen bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften verbieten. Für Wohnungslose könnte die Neuausrichtung der städtischen Wohnraumversorgung natürlich bedeuten, dass sie wieder Zugang zum Wohnungsmarkt erhalten. Beides sind meiner Meinung nach erste Schritte in die richtige Richtung.                                      

Schuster: Wir unterstützen den Entscheid, wissen aber, dass unsere Arbeit danach genauso nötig sein wird, da es weiterhin Zwangsräumungen geben wird. Wir werden uns als Mieter/innen weiterhin organisieren, um praktische Solidarität und erfolgreichen Widerstand leisten zu können. Und natürlich geht es auch darum, den privaten Vermieter/innen etwas entgegenzusetzen und zu zeigen, dass Zwangsräumungen Ärger bringen und es keinen naturgegebenen Anspruch auf Profit mit Wohnraum gibt.                          

 

Vielen Dank für das Gespräch.                                             

Das Interview führte Stefan Hernádi.                                    

 

 

 

Weitere Informationen:

„Bündnis Zwangsräumung verhindern“:

http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de

 

Erwerbsloseninitiative Basta: http://basta.blogsport.eu

 

Link zum Download der Studie:

https://www.sowi.hu-berlin.de/de/ lehrbereiche/stadtsoz/forschung/projekte/studie-zr-web.pdf

 

 


MieterEcho 375 / Juli 2015

Schlüsselbegriffe: Zwangsräumungen, Wohnungslosigkeit, staatliches Hilfesystem, „Bündnis Zwangsräumung verhindern“, städtische Wohnungsbaugesellschaften, Jobcenter, Mietrückstände, Bemessungsgrenzen, Mietschuldenübernahme, Wohnungsnot, Neuvermietungspreise, Mietenvolksentscheid

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