REZENSION: Rosemarie F. Kein Skandal.
In ihrem Buch zeigt Margit Englert die Hintergründe auf, die zur Zwangsräumung der schwerkranken Rentnerin vor zwei Jahren führten
Von Benedict Ugarte Chacón
Im April dieses Jahres wurden die Ergebnisse einer Studie der Humboldt-Universität veröffentlicht, wonach es in Berlin von 2009 bis 2012 jährlich zu ca. 9.000 Räumungsklagen kam (Seite 4). Der Presse zufolge ist Berlin die „Hauptstadt der Zwangsräumungen“ . Auch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ließen nach Angaben des Senats zwischen 2009 und Mitte 2013 immerhin 4.600 Wohnungen zwangsräumen. Dass hinter solchem Zahlenmaterial menschliche Schicksale stehen, wird oft verdrängt. Andererseits steht die Frage im Raum, ob die Beschreibung einzelner Schicksale die systemischen Gründe von Zwangsräumungen sowie der Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten aus bestimmten städtischen Bereichen erklären kann. Margit Englert gelingt dies in ihrer Fallstudie zur Zwangsräumung von Rosemarie F.
Die 67-jährige Rosemarie F. war am 11. April 2013 – zwei Tage nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung in Reinickendorf – in einer Wärmestube im Wedding verstorben. „Kein Skandal“, so der provokante Titel von Englerts Buch. Der Fall Rosemarie F. zeigt, wie Menschen zwischen desinteressierten bzw. eigene Ziele verfolgenden bürokratischen Apparaten, Verwertungsbestrebungen von Vermietern und einer verantwortungslosen Presseberichterstattung zerrieben werden. Englert schildert diesen Fall akribisch in einem Kapitel zum sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex. Die Autorin rekonstruiert dabei anhand von ihr vorliegenden Unterlagen und Briefen das Vorgehen von Birgit Hartig, die die Wohnung von Rosemarie F. im Jahr 2012 gekauft hatte und sodann als deren Vermieterin auftrat, und dem sich daraus ergebenden Vorgehen verschiedener staatlicher Stellen. Der Einblick, der damit in die einer Zwangsräumung vorausgehenden Mechanismen gegeben wird, ist zum Teil schockierend. „Grundsicherungsamt, Sozialpsychiatrischer Dienst, gesetzliche Betreuung – drei Institutionen, die schlimmstenfalls zusammenwirken in eine Richtung: Die möglichst geräuschlose Entfernung der Mieterin aus der Wohnung“, schreibt Englert an einer Stelle zusammenfassend. Ebenfalls sehr lesenswert ist die Rekonstruktion der Berichterstattung über Rosemarie F. Für die Presse interessant geworden sei der Fall, so Englert, weil Rosemarie F. sich dem „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ angeschlossen und zusammen mit dem Bündnis Pressemitteilungen herausgegeben hatte. Aussagen und Einschätzungen, die von unterschiedlichen Journalist/innen in verschiedenen Medien über den Fall getroffen wurden, werden von der Autorin versucht zu entkräften, die hier konsequent für Rosemarie F. Position bezieht. „Auffälligster Punkt an der gesamten Berichterstattung: Rosemarie kommt nicht zu Wort“, stellt Englert fest. Die Autorin sieht ihren Text vor allem als einen Diskussionsbeitrag und stellt zu Beginn Fragen, wie sich Menschen mit emanzipatorischem Ziel „mit den Verhältnissen auseinandersetzen“ können, was das „friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Menschen unter einem Dach und in einer Stadt“ behindert und wie sich Menschen schließlich „tatsächlich gegen die Vertreibung aus ihren Wohnungen wehren“ können. Dabei präsentiert sie auch ihre Sicht über die Möglichkeiten politischer Interventionen, wie sie vom „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ immer wieder versucht werden. Die Autorin war selbst eine zeitlang Mitglied des Bündnisses und stellt in einem Kapitel durchaus berechtigt die Art und Weise infrage, wie solche politischen Zusammenschlüsse mit den Betroffenen, für die sie sich einsetzen, umzugehen pflegen. Die Darstellung der Autorin hierzu wird sicherlich nicht allen Leser/innen zusagen – diskutiert werden sollte sie „bewegungsintern“ jedoch allemal.
Margit Englert: Rosemarie F. Kein Skandal. Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex
edition assemblage
Münster 2015, 134 Seiten, 7,80 Euro
ISBN 978-3-942885-83-6
MieterEcho 375 / Juli 2015
Schlüsselbegriffe: Fallstudie, Rosemarie F., Margit Englert, Zwangsräumung, Studie Humboldt-Universität, Räumungsklagen, Grundsicherungsamt, Sozialpsychiatrischer Dienst, gesetzliche Betreuung, Verdrängung