Mehr Europa, aber anders
Konzepte für eine andere Sozialpolitik statt neoliberaler Strukture
Von Klaus Busch
Obwohl seit der Debatte über den europäischen Binnenmarkt Mitte der 1980er Jahre und erst recht seit der Diskussion über die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) Anfang der 1990er Jahre immer wieder gefordert wird, den Integrationsprozess durch eine soziale Dimension zu vertiefen, verfügt die EU bis heute weder in der wohlfahrtsstaatlichen Politik noch in der Lohnpolitik über eigenständige Kompetenzen. In der Beschäftigungspolitik kann die EU zwar Ziele formulieren und Programme vereinbaren, da es aber keine gemeinsame Haushaltspolitik der EU gibt, ist die europäische Beschäftigungspolitik nur eine abhängige Größe und letztlich ein Schönwetterprogramm.
Um die Sozialpolitik der EU ist es nicht nur schlecht bestellt, weil auf der europäischen Ebene trotz der permanenten Beschwörung eines „Europäischen Sozialmodells“ keine ausreichenden Kompetenzen vorhanden sind. Schlimmer ist, dass in der EU seit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion Mitte der 1990er Jahre Mechanismen wirken, die den Interessen der Arbeitnehmer/innen sogar zuwider laufen. Darüber hinaus wird seit der Finanzkrise von 2008/2009 in der EU eine Wirtschaftspolitik praktiziert, welche die Arbeitslosigkeit in vielen Teilen der EU auf neue Höchststände getrieben hat.
System der Wettbewerbsstaaten
Mit der Einführung der WWU im Maastrichter Vertrag von 1993 schuf die EU ein System von Wettbewerbsstaaten. Es gibt zwar eine gemeinsame Währung, aber viele Politikfelder blieben in der Kompetenz der Nationalstaaten wie die Lohn- und die Steuerpolitik sowie die wohlfahrtsstaatlichen Politiken. Weil in diesen Bereichen keine Koordinierung auf europäischer Ebene stattfindet, können die Nationalstaaten versuchen, sich durch Lohn-, Sozial- und Steuerdumping Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.
Seit der Einführung des Euro im Jahr 1999 ist es in der Lohnpolitik nur in sehr wenigen Mitgliedstaaten gelungen, die Reallöhne parallel zum Produktivitätswachstum zu steigern. Fast überall hat es stattdessen eine Umverteilung zugunsten der Kapitaleigentümer gegeben. Am stärksten war bis vor Kurzem Deutschland von diesem relativen Abbauprozess der Löhne betroffen. Deutschland war in der Eurozone das Zentrum einer Politik des Lohndumpings, die in hohem Maß zu den großen Ungleichgewichten in den Leistungsbilanzen der Mitgliedstaaten beigetragen hat.
Abbau der Wohlfahrtsstaaten
Darüber hinaus ist in den letzten 20 Jahren in vielen EU-Staaten der Wohlfahrtsstaat Abbauprozessen unterworfen. Der Abbau wird mit ähnlichen Problemlagen begründet: demographischer Wandel, Haushaltsdefizit, Arbeitslosigkeit und das System der Wettbewerbsstaaten. Durch neoliberale Reformen der sozialen Sicherungssysteme sind die Rentenleistungen, die Gesundheitsleistungen und die Arbeitslosenunterstützungen zurückgefahren oder deren Finanzierung zulasten der Arbeitnehmer/innen umgeschichtet worden. In den Rentensystemen wurden kapitalgedeckte Elemente eingeführt und die relativen Rentenniveaus reduziert. In den Arbeitslosenversicherungen wurden die Leistungen (Höhe und Dauer) abgebaut und Aktivierungselemente etabliert. Die Reformen im Gesundheitssektor sind komplexerer Natur, aber auch hier sind unter anderem die Leistungskataloge reduziert und private Finanzierungselemente wie Selbst- und Zuzahlungen stark erhöht worden.
Austerität und soziale Rückschritte
Während die USA auf die Krise 2008/2009 mit einer wirtschaftspolitischen Expansionspolitik antworteten, wurde in der EU eine harte Sparpolitik eingeführt. Die USA erzielten sehr bald wieder hohe Wachstumsraten, während sich die Eurozone 2012 und 2013 in einer Rezession befand. Seit 2010 ist die Arbeitslosenrate in den USA gesunken, und zwar von 10 auf 6% im Jahr 2014. In der Eurozone stieg die Rate im gleichen Zeitraum von 10 auf 12%. Doch die europäische Austeritätspolitik hat nicht nur die Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit, stark ansteigen lassen, sie hat darüber hinaus vor allem in Südeuropa zu erheblichen Einbrüchen bei den Sozialleistungen geführt und die Tarifvertragssysteme neoliberal umgebaut. Der Tarifdeckungsgrad, also der Grad der Erfassung der Beschäftigten in Tarifverträgen, ist in den Ländern, welche die härteste Sparpolitik durchführten (Portugal, Spanien, Griechenland, Irland) drastisch gesunken. Darüber hinaus wurden in diesen Ländern die Reallöhne abgebaut. Es ist davon auszugehen, dass diese Schwächung der Gewerkschaften in vielen Teilen Europas in absehbarer Zeit auch die Tarifpolitik in Deutschland, die in den letzten drei Jahren wieder Erfolge verzeichnen konnte, negativ beeinflussen wird.
Alternative Konzepte
Die genannten sozialen Probleme der EU könnten nur durch eine weitere Vertiefung der Integration behoben werden. In der Lohnpolitik müssten die Gewerkschaften der verschiedenen Staaten ihre Aktivitäten mit dem Ziel koordinieren, die Reallöhne mit der Produktivität Schritt halten zu lassen. In der wohlfahrtsstaatlichen Politik müssten die Sozialausgaben an das ökonomische Entwicklungsniveau der Mitgliedstaaten gekoppelt werden. Auf EU-Ebene wäre zu regeln, dass der Zusammenhang von Pro-Kopf-Einkommen der Staaten und Sozialleistungsquoten aufrechterhalten wird. Durch diese Koordinierungsmaßnahmen im Bereich der Löhne und der Sozialleistungen wäre das System der Wettbewerbsstaaten mit seinen Dumpingdruck ausgehebelt. Im Bereich der Wirtschaftspolitik müsste die Haushaltspolitik analog zur Geldpolitik europäisiert werden. Die Haushaltskompetenz wäre auf der europäischen Ebene anzusiedeln. Ihre Ziele müssten es sein, für qualitatives Wachstum und einen ausreichenden Beschäftigungsgrad zu sorgen. Damit wäre die Vorherrschaft der Austerität in der europäischen Wirtschaftspolitik überwunden. Für einen solchen Politikwechsel unter dem Motto „mehr Europa, aber anders“ fehlen zurzeit die politischen Voraussetzungen. In Europa dominieren die konservativen und neoliberalen Kräfte, denen sich in vielen Ländern – wie in Deutschland – auch die Sozialdemokraten untergeordnet haben. Schlimmer noch: In Europa sind rechtspopulistische Strömungen und Re-Nationalisierungstendenzen auf dem Vormarsch. Die EU ist nicht einmal in der Lage, in der Flüchtlingspolitik gemeinsame Quoten verbindlich festzulegen. Ein Ausscheren Großbritanniens und Griechenlands aus der EU ist nicht mehr auszuschließen. Ungarn interessiert sich einen Teufel für die europäischen Grundwerte und fördert offen ausländerfeindliche Tendenzen. Diese Entwicklungen hat die EU dadurch gefördert, dass sie nach der Krise in der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf Austerität und Wettbewerb gesetzt hat. Nicht gemeinsame solidarische Lösungen standen im Vordergrund des politischen Handels, sondern das Gegeneinander und das Ausgrenzen. Unter solchen politischen Vorzeichen steht es schlecht um die soziale Dimension der EU und um die Realisierungschancen der genannten alternativen Konzepte.
SozialpolitikDer Begriff Sozialpolitik umfasst in diesem Beitrag nicht nur Politiken, die sich auf die sozialen Sicherungssysteme (Renten, Gesundheit, Familien, Arbeitslosigkeit) beziehen, sondern alle Politiken, welche die soziale Lage von Arbeitnehmer/innen betreffen. Diese ist im Wesentlichen abhängig von der Situation auf dem Arbeitsmarkt, der Lohn- und Einkommensentwicklung und der Absicherung durch die genannten wohlfahrtstaatlichen Sicherungssysteme. Sozialpolitik im weiteren Sinne umfasst deshalb die Beschäftigungspolitik, die Lohnpolitik sowie die wohlfahrtsstaatliche Politik. |
MieterEcho 376 / September 2015
Schlüsselbegriffe: Sozialpolitik, EU, europäischee Sozialmodell, Maastrichter Vertrag, demographischer Wandel, Haushaltsdefizit, Arbeitslosigkeit, Sparpolitik, Sozialleistungen, Lohnpolitik, Gewerkschaften