„Die Finanzkrise entstand durch den Mangel an erschwinglichem Wohnraum.“
Europaparlament fordert in einem Bericht staatlich finanzierten Wohnungsbau
Interview mit Karima Delli
Vor zwei Jahren wurde im europäischen Parlament nach heftiger Debatte über einen Bericht abgestimmt, der sich mit dem sozialen Wohnungsbau beschäftigte. Hintergrund waren die bereits damals deutlich fortgeschrittene Verarmung vieler Menschen in Europa im Zuge der Austeritätspolitik und die sich aufdrängende Erkenntnis, dass der private Wohnungsmarkt unfähig ist, ein ausreichendes und sozial verträgliches Angebot bereitzustellen. Mit der Forderung nach einem staatlich finanzierten Wohnungsbau setzte das Europaparlament zugleich ein deutliches Zeichen für eine zukünftige soziale Union im Gegensatz zu ihrer gegenwärtig extrem liberalen und marktorientierten Ausprägung. Zu dem Bericht hat das MieterEcho die Verfasserin, Karima Delli, französische Europaabgeordnete der Grünen, interviewt.
MieterEcho: Frau Delli, Sie hatten die Verantwortung für einen Bericht, der sich mit dem zunehmenden Wohnungsmangel in der EU befasst und für sozialen Wohnungsbau ausspricht. Wie kam es zu dem Bericht und in welchem politischen Umfeld entstand er?
Karima Delli: Dieser Bericht wurde erstellt, weil die Finanzkrise, die wir seit 2008 erleben, vor allem auf den Wohnraumsektor zurückzuführen ist. Die Subprime-Krise wurzelt im Mangel an erschwinglichem Wohnraum und in der Erleichterung der Kreditaufnahme zur Eigentumsbildung. Das Ergebnis ist: Sobald sich Schulden ansammeln, bricht das ganze Wirtschaftssystem zusammen. Wir wollten zeigen, dass die Wohnungsversorgung nicht das Problem ist, sondern vielmehr Teil der Lösung sein kann. Um der Krise zu begegnen, müssen wir den sozialen Wohnungsbau entwickeln. Das ist eine dringende Aufgabe.
Wie ist die Lage in den verschiedenen EU-Ländern?
Die Situation ist katastrophal. Der generelle Trend geht in Richtung Deregulierung und Verkauf von Sozialwohnungen, die somit für die meisten EU-Staaten kein Thema mehr sind. Leider beobachten wir seit einigen Jahren, dass eher die Qualität des bereits vorhandenen Wohnungsbestands, die gesundheitliche Zuträglichkeit oder die Energieeffizienz Priorität haben. Selbstverständlich sind das alles auch grundlegend wichtige Themen. Gleichzeitig aber führte dies zu einem Notstand der Wohnraumversorgung und zum Ende der Bereitstellung von erschwinglichem Wohnraum, vor allem in Deutschland und Schweden. Die Ergebnisse der Residualisierung der Sozialpolitik sind beängstigend, da wir eine sich weiter öffnende Schere aufgrund der wachsenden Prekarisierung der Bevölkerung und der Preiserhöhungen der Wohnkosten beobachten. Die einzige von den EU-Mitgliedstaaten ins Auge gefasste Antwort ist, den Zugang zu Krediten durch geringere Zinsen zu erleichtern. Das ist genau das, was uns im Jahr 2008 hat an die Wand fahren lassen. Man schaue sich nur an, was in Polen passiert. Es wurden 40% der Darlehen in Schweizer Franken aufgenommen. Durch den explosiven Kursanstieg des Franken nach der Loslösung vom Euro wuchsen die Schulden der polnischen Bürger/innen um 20 bis 25%.
Im Bericht wird von einer zunehmenden Unfähigkeit der EU gesprochen, dem Bedarf an bezahlbaren Wohnungen zu begegnen, und es werden die Auswirkungen von Austeritätsmaßnahmen beklagt. Könnten Sie dazu einige Beispiele nennen?
Ich habe bereits in der vorherigen Antwort auf die Auswirkungen der Sparpolitik verwiesen. Doch das ist nicht alles. Die Strenge einiger europäischer Fiskalregeln, die nicht zuletzt auf den Druck von Bundeskanzlerin Angela Merkel zurückgehen, lähmt in einigen EU-Staaten vollständig den Bau von erschwinglichem Wohnraum. Beispiele sind Schweden oder die Niederlande. Dort werden wegen des Risikos der Zurückweisung durch die Europäische Kommission keine weiteren Projekte initiiert, da die Wettbewerbsregeln aufgrund staatlicher Beihilfen nicht eingehalten würden. Diese Länder ziehen daher vor, den Ball flach zu halten und abzuwarten. Dies zeigt, wie sehr wir uns neu erfinden müssen, aber auch, wie stark es uns an theoretischen Modellen mangelt.
Die Bildung eines Fonds, aus dem eine Untersuchung über die aus unzureichender Wohnungsversorgung entstehenden Kosten und Folgen finanziert werden soll, ist ein Vorschlag des Berichts. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten Analysen über die sozialen Auswirkungen erstellen. Liegen darüber bereits Ergebnisse vor?
Es gibt keine Ergebnisse, aus einem einfachen Grund: Dieser Fonds hat leider nie das Licht der Welt erblickt.
Der Bericht fordert darüber hinaus die Mitgliedstaaten der EU zu dringendem Handeln auf, um den Zugang zu bezahlbarem Wohnen zu ermöglichen. Handelt es sich dabei nur um einen Appell oder sind konkrete politische Maßnahmen zu erwarten?
Wir stehen hier vor einem Problem der europäischen Kompetenzen. Wohnen fällt aufgrund des Subsidiaritätsprinzips in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, was bedeutet, dass die EU außen vor bleibt. Das ist sehr schade, da hier die Möglichkeiten europäischer Politik nicht genutzt werden, der es ein Leichtes wäre, nützlich zu sein und eine direkte Auswirkung auf die Wohnraumversorgung und somit das Leben der Menschen zu haben. Dies sieht man beispielsweise am derzeit diskutierten Investitionsplan des Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker. Die Weigerung, dem Investitionsplan eine soziale Ausrichtung zu geben, ist katastrophal. Juncker wird nicht wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt in die Geschichte eingehen, der den USA mit seinem New Deal auf die Beine geholfen hatte. Dennoch sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Charta der Grundrechte zu respektieren, die den Status eines Vertrags hat. Artikel 34 beschreibt das Recht eines jeden auf Wohnraumversorgung. Im Gegensatz dazu sehen wir in ganz Europa Angriffe auf die individuellen Wohnhilfen. In Großbritannien werden vielen Haushalten die Wohnbeihilfen durch die sogenannte Bedroom-Tax gekürzt (MieterEcho Nr. 364/ Dezember 2013). Als Folge explodiert die Höhe der Verschuldungen und wir finden uns wieder in einer Sparpolitik, die letztlich sozial und wirtschaftlich kostenintensiver ist. Das ist absurd. Wir beobachten heute eine Jagd auf den Wohlfahrtsstaat, insbesondere durch die Empfehlungen der Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten während der alljährlich koordinierten Strukturanpassungen, dem sogenannten Europäischen Semester. Doch zeitgleich werden auch gesellschaftspolitische Empfehlungen ausgesprochen. So werden die baltischen Staaten aufgefordert, ihren Wohnungsbestand zu verbessern, Großbritannien soll die Spekulationsblase reduzieren, und Frankreich und Ungarn sind gebeten, sich um die Roma-Minderheiten zu kümmern. Wie widersprüchlich.
Im Bericht wird auch von einem europäischen Rahmenwerk für den sozialen Wohnungsbau gesprochen. Was ist darunter zu verstehen? Da es in den europäischen Ländern keine einheitliche Definition von sozialen Wohnungsbau gibt: Wie kann solch ein Rahmenwerk aussehen, sodass es den verschiedenen Traditionen sozialen Wohnungsbaus in den Mitgliedstaaten gerecht wird?
Stellen wir uns zum Beispiel ein europäisches Sparbuch nach dem Vorbild des französischen Livret A vor: Dies würde die Europäische Union nicht einen Cent kosten, doch es wäre ein unglaublich nützliches Werkzeug. Bei dem Livret A geht es schlicht darum, die Ersparnisse zu bündeln, um langfristige und stabile Darlehen bei geringen Kosten auszugeben, sodass für die Haushalte die Mietkosten reduziert oder ein einfacherer Zugang zur Eigentumsbildung gewährt wird. Dies alles bei gleichzeitiger Verhinderung einer neuen Spekulationsblase und dem Respektieren der Grundrechte der Europäer/innen wie beispielsweise ihr Recht auf Wohnraum. Es gibt auch jetzt schon weitere europäische Fonds, die dazu verwendet werden könnten. Aber es müssten einige Akteure endlich beginnen, aktiv zu werden.
Könnte der soziale Wohnungsbau zu einer sozialpolitischen Aufgabe für die EU werden? Welcher Voraussetzungen bedürfte es in diesem Fall, damit dieser Bereich der schützenswerten Daseinsvorsorge nicht durch die liberalen Wettbewerbsregelungen dem Markt überantwortet wird?
Hier gibt es ein Problem der Entscheidungskompetenzen. Wenn man sieht, welche Rolle der Wohnungssektor in der Krise von 2008 gespielt hat, wie dieser Sektor die gesamte Weltwirtschaft destabilisiert hat, stellt sich die Frage, warum nicht sofort mit sozialem Wohnungsbau begonnen wird. Die politischen Entscheidungsmöglichkeiten sind leider zu oft von der Art der Konstruktion der EU beschränkt. Welche daher leider vergisst, dass sie an Grundprinzipien gebunden ist, die sie zu schützen vorgibt. Um die Daseinsvorsorge zu verteidigen, müsste man sich über Grenzen verständigen, die keine europäische Politik überschreiten darf. Leider werden mit TTIP in der Wirtschaftspolitik oder den Aussagen des Ministerpräsidenten von Ungarn Viktor Orbán über die Todesstrafe gewisse Prinzipien, die als grundlegend erachtet wurden, in der Debatte wieder infrage gestellt.
Wir sollten nicht zulassen, dass die europäischen Entscheidungen durch autoritäre Führer oder von der Technokratie bestimmt werden. Wir brauchen eine umfassende Debatte und die Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder, um die Daseinsvorsorge zu schützen. Ich wage zu hoffen, dass noch Zeit ist, dies mit allen gemeinsam zu erreichen. Juncker sagte, dass seine Kommission die der letzten Chance sei. Er hat nicht notwendigerweise Unrecht. Für den sozialen Wohnungsbau wie auch für das europäische Projekt als Ganzes wäre es besser, wenn er seine Chance ergreift, bevor es zu spät ist.
Vielen Dank für das Gepräch.
Das Interview führten Grischa Dallmer und Matthias Coers.
Übersetzung aus dem Französischen: Grischa Dallmer.
Karima Delli ist eine französische Politikerin der Grünen (Les Verts) und seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. Sie ist Mitglied im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr und in der Delegation für die Beziehungen zu Indien sowie Vize-Präsidentin der fraktions-übergreifenden Urban Intergroup im europäischen Parlament. Als Stellvertreterin ist sie in den Ausschüssen für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten sowie für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter tätig. Über ihr Engagement im EU-Parlament hinaus war sie beim Collectif Jeudi Noir (Schwarzer Donnerstag), einem Aktionsbündnis gegen hohe Mieten, aktiv.
Livret ADas französische Sparbuch Livret A wurde 1818 von König Ludwig XVIII ins Leben gerufen, um die finanziellen Folgen der napoleonischen Kriege zu begleichen. Heute dient es dem Staat als Anlagevermögen für öffentliche Investitionen. Die Einlagen werden hauptsächlich für die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus, aber auch für energetische Sanierung, Infrastrukturmaßnahmen und Kredite für kleine und mittlere Unternehmen genutzt. Bis 2009 war der Vertrieb des Livret A allein der Postbank, den Sparkassen und den Genossenschaftsbanken vorbehalten, auf Druck der EU-Kommission wurde der Verkauf jedoch liberalisiert. Das Livret A kann seitdem bei allen Banken erworben werden. 60% der Anlagen fließen an die staatliche Caisse des dépôts et consignations (eine Bank mit ähnlichen Aufgaben wie die KfW in Deutschland), welche das Geld verwaltet. Vor der Liberalisierung flossen bis zu 100% an die Caisse de dépôts, welche die zinsgünstigen Kredite an die Bauträger der öffentlichen Hand vergibt, um die Kosten für den sozialen Wohnungsbau niedrig zu halten. Etwa 63 Millionen Livrets A sind in Frankreich derzeit im Umlauf, die Höchstanlagesumme beträgt 22.950 Euro. Die steuerfreien Zinsen liegen momentan bei 1%, im Dezember 2012 wies das Livret A einen Gesamtbetrag von etwa 250 Milliarden Euro auf. |
MieterEcho 376 / September 2015
Schlüsselbegriffe: Finanzkrise, erschwinglicher Wohnraum, Europaparlament, staatlich finanzierter Wohnungsbau, Austeritätspolitik, Wohnungsmangel, EU, Prekarisierung, Preiserhöhung der Wohnkosten, Subsidiaritätsprinzip