Verdrängung brutal
Istanbul ist nicht nur von schweren sozialen und ökonomischen Konflikten geprägt, sondern es werden auch ganze Stadtviertel abgerissen und Tausende Menschen vertrieben
Von Grischa Dallmer und Matthias Coers
Die aggressive Stadtentwicklung Istanbuls wird spätestens seit den im Mai 2013 begonnenen Gezi-Taksim-Protesten viel beachtet. Ein Mitinitiator der Proteste, der Dokumentarfilmer Imre Azem, berichtete im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise“ über die Hintergründe.
Zum Ende des osmanischen Reichs gehörte in Istanbul die Stadtinfrastruktur privaten Unternehmen. Nach der Gründung der Republik im Jahr 1923 verließ jedoch das große Kapital die Stadt und die Industrialisierung und die Infrastruktur lagen in staatlichen Händen. So wurde zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr in Istanbul zusammen mit dem landesweiten Schienennetz immer weiter ausgebaut. In den 40er Jahren kam es zur grundsätzlichen Umstrukturierung. Straßenbahnlinien wurden ab- und der motorisierte Privatverkehr umfassend ausgebaut. Aufgeschobene Landreformen und die Industrialisierung der Landwirtschaft führten zur Landflucht, die Menschen mussten ihre Arbeitskraft billig in den neuen städtischen Fabriken verkaufen. Wohnraum wurde für die Arbeiter und ihre Familien jedoch weder von der Wirtschaft noch vom Staat geschaffen. Stattdessen war es den Menschen erlaubt, ihre Behausungen auf städtischem Boden zu errichten, die sogenannten Gecekondus.
Flächenabriss von Gecekondus
Der Militär-Putsch von 1980 brachte das neoliberale Wirtschaftsmodell in die Türkei. In den 80er Jahren wuchs die Einkommensungleichheit enorm, die öffentliche Infrastruktur wurde umfassend privatisiert. Um die Jahrtausendwende begann die Vertreibung ärmerer Bevölkerungsschichten aus der Innenstadt, um Platz zu machen für eine globale Metropole des Konsums, in der Einkommensschwache unerwünscht waren. Mit der Regierungsübernahme der konservativen AKP im Jahr 2002 wurden etliche Gesetze zur Vereinfachung dieses Stadtumbaus beschlossen und die Toki, die staatliche Wohnungsbaubehörde, nach betriebswirtschaftlicher Logik organisiert. Immer mehr Geld floss in den Immobilienmarkt, der zum mächtigsten Wirtschaftssektor des Landes anwuchs. An den Rändern der türkischen Großstädte entstehen so bis heute riesige Hochhaussiedlungen, die von der städtischen Infrastruktur abgeschnitten sind.
Die stark importabhängige Bauwirtschaft richtet ihre Produkte an den Binnenmarkt. Das so konstante Handelsdefizit wird kaschiert durch Kredite an die Bevölkerung für den Kauf der neuen Wohnungen. Als die gesetzlichen Regelungen für den Verkauf von Immobilien ins Ausland gelockert wurden, wurden im gleichen Jahr Immobilien im Wert von 3,5 Milliarden US-Dollar an die Golfstaaten verkauft. Doch selbst solche Summen reichen nicht aus, um die Investitionen inklusive der erwarteten Profitmargen zu realisieren. Entsprechend wird eine Stadtpolitik gefördert, die eine breite Masse von Menschen dazu bringen soll, die neuen Wohnungen zu kaufen.
Fast 50 Viertel in Istanbul sind mit den Umstrukturierungen konfrontiert. Insbesondere werden Gecekondu-Wohngebiete als Entstehungsorte für Gewalt und Kriminalität gebrandmarkt, der Bau weiterer Häuser verboten und mit neuen Gesetzen die Umsiedlungen legitimiert. Zwei Gecekondu-Viertel wurden besonders stark betroffen: Ayazma und Sulukule. In Ayazma wohnten hauptsächlich Kurden, in Sulukule vor allem Roma. Ayazma entstand in den 70er Jahren in einem Industriegebiet und liegt nah am für die türkische Olympia-Bewerbung gebauten Atatürk-Stadion. Die Armut der dortigen Bevölkerung war den Stadtherren ein Dorn im Auge. So wurden die Fassaden der Gecekondu-Häuser, die zum Stadion zeigten, weiß gestrichen. Bei einigen Großveranstaltungen durften die Menschen tagsüber ihre Häuser nicht verlassen und nachts kein Licht einschalten. Zeitweise wurde dem ganzen Bezirk der Strom abgestellt. Die dortige Bevölkerung wurde bis Februar 2007 nach Bezirganbahçe im Norden vertrieben. Inzwischen sind fast alle alten Gebäude des Viertels abgerissen und Luxusvillen, deren Verkauf der Bauwirtschaft enorme Profite ermöglichen, nehmen ihren Platz ein.
Erdbebengefahr und Vetternwirtschaft
Das Gesetz zum angeblichen Schutz vor Naturkatastrophen wurde 2012 verabschiedet. Dieses vielfach als autoritär angesehene Gesetz zentralisiert in Ankara die Entscheidungsgewalt, in der ganzen Türkei Gefährdungen feststellen zu können. Ohne weitere Gutachten ist dann der dortige Abriss der Häuser erlaubt. Mit der Argumentation, dass die einstöckigen Gecekondu-Häuser nicht erdbebensicher seien, werden die Menschen aus ihren Häusern vertrieben und genötigt, in den neuen Hochhäusern an den Stadträndern Wohnungen zu erwerben. Doch gerade viele dieser neuen Hochhäuser würden einem starken Erdbeben nicht standhalten. Die sehr niedrigen Abfindungen, die die Bewohner/innen für das erzwungene Verlassen ihrer Häuser bekommen, reichen bei Weitem nicht aus, um sich die neuen Wohnungen zu leisten. Dies hat die private Verschuldung der türkischen Bevölkerung in die Höhe getrieben. In der Regierungszeit der AKP stieg sie um das 40-fache und betrug im Jahr 2013 rund 300 Milliarden US-Dollar.
Viele Haushalte in den neuen Bauten sind gezwungen, mehr als die Hälfte des Monatseinkommens für die Rückzahlung der Kredite aufzuwenden. Als Konsequenz hören viele junge Menschen auf, zur Schule zu gehen, um sich unmittelbar Arbeit zu suchen und das Familieneinkommen zu erhöhen. Doch angesichts der niedrigen Einkommen ist es beinahe unmöglich, dass die Menschen jemals die Raten abbezahlen können. Schon beim Ausfall von zwei Kreditraten besteht die Gefahr, dass die Bewohner/innen ihr neues Zuhause verlieren.
Für die staatliche Wohnungsbaubehörde Toki existiert außer dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) keinerlei Aufsichtsinstanz. Niemand kann die Geschäftstätigkeit der Toki prüfen. Dementsprechend ist nicht bekannt, wie viele Menschen bei der Toki arbeiten oder wie viel Geld ausgegeben wird. Die Toki hat weiterhin einen direkten Zugriff auf den Staatshaushalt. Die profitabelsten Aufträge werden an diejenigen Immobiliengesellschaften vergeben, die Verwandten und nahen Freunden von Ministerpräsident Erdoğan gehören. Die reichsten 1% in Istanbul besitzen 76% des Vermögens. Durch das Naturkatastrophengesetz und die fehlende Aufsichtsinstanz bei der Toki haben die Eliten wie auch in anderen Bereichen der Wirtschaft eine sehr große Verfügungsgewalt über weite Lebensbereiche der Bevölkerung.
Eine der letzten Freiflächen: Gezi-Park
Sollte es zu starken Erdbeben in Istanbul kommen – und die Gefahr ist realistisch – seien Freiflächen, so eine Studie, und unbebaute Plätze als Sammelorte von größter Bedeutung. Im Jahr 2003 gab es rund 400 dieser Flächen und es wurde die Empfehlung ausgesprochen, noch mehr freie Flächen zu schaffen. Das Gegenteil geschah, bis 2012 wurden 200 Plätze bebaut. Eine der wichtigsten Freiflächen ist der Gezi-Park. Dort wollte Erdoğans Regierung ein Shoppingcenter sowie eine Untertunnelung für eine Autobahn bauen lassen. So werden im Zuge der profitgetriebenen Stadterneuerung den Menschen die öffentlichen Plätze entzogen, um sie in profitablere Orte zu verwandeln.
Im Mai letzten Jahres waren die Bauvorhaben im Park der Funke, der die größten Sozialproteste in der Türkei seit Jahrzehnten entzündete. Der Kampf um den Gezi-Park bedeutet für Imre Azem eine neue Stufe urbaner Aufstände in der Türkei. Es existiert nun ein fundamental-kritisches Bewusstsein für die Probleme, die durch die rigide Stadterneuerung geschaffen werden. In der ganzen Türkei sind infolgedessen Gruppen aktiv, die sich mit dem Thema befassen. Es haben sich in den Statteilen Foren zusammengefunden, in denen jeweils Dutzende bis Hunderte Menschen zusammenkommen, debattieren und Aktionen in Gang setzen. In Istanbul allein gibt es 60 autonome Foren, die zu verschiedensten Themen arbeiten. Ein gemeinsames Ziel aller Foren ist es, das Naturkatastrophengesetz zu kippen. Zudem wird erfolgreich versucht, stadtweit öffentliche Nachbarschaftszentren zu etablieren, um die Kritik und Praxis einer anderen Stadtentwicklung dauerhaft betreiben zu können.
Am 10. Oktober 2013 berichteten Imre Azem, aktiv bei İMECE/Urbane Gesellschaftliche Bewegung in Istanbul und im Dokumentar-filmbereich, sowie Dennis Kupfer von der Berliner Taksim-Initiative im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise. NEOLIBERALISMUS – KÄMPFE – PERSPEKTIVEN“ über das Wohnen und städtische Auseinandersetzungen in Istanbul und der Türkei.
Die Veranstaltungsreihe wirft einen Blick auf die Situation in anderen Ländern und Städten. Dokumentation, Videos und weitere Informationen unter:
www.youtube.com/WohneninderKrise
www.bmgev.de/politik/wohnen-in-der-krise.html
MieterEcho 369 / September 2014
Schlüsselbegriffe: Türkei, Istanbul, Gezi-Taksim-Proteste, Stadtentwicklung, Gecekondus, Ayazma, Sulukule, Vertreibung, Bauwirtschaft, Vetternwirtschaft, Wohnungsbaubehörde Toki, Naturkatastrophengesetz, Recep Tayyip Erdoğan, AKP