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MieterEcho 371 / Dezember 2014

Schutzmechanismen greifen nicht

Gasag und Vattenfall klemmen tausendfach Gas und
Strom ab – dabei kann es auch anders gehen

Von Christian Schröder                                        

Rund 17.200 Berliner Haushalten wurde 2013 der Strom abgeklemmt, über 2.900 das Gas. Viele davon waren Bezieher/innen von Hartz IV und Sozialhilfe, denn deren Regelsätze decken die stark steigenden Energiekosten nicht ab. Während der Strompreis in den letzten fünf Jahren um bis zu 40% gestiegen ist, wurde der im Regelsatz enthaltene Betrag dafür nur um etwa 4% erhöht. Für alleinstehende Erwachsene sind monatlich 30,39 Euro für Energiekosten vorgesehen. Dafür bekommt man pro Jahr lediglich etwa 1.000 KWh Strom. Für besonders schutzbedürftige Haushalte gibt es Mechanismen, die sie vor vorschnellen Energiesperren bewahren sollen. So sieht es die Grundversorgungsverordnung vor. In Berlin funktionieren diese Mechanismen nicht.                                                        

Vattenfall hat in Berlin einen Anteil von rund 80% am privaten Strommarkt. Im Gasbereich versorgt die Gasag die Mehrzahl der Berliner/innen. Vattenfall und Gasag sind damit sogenannte Grundversorger, die bestimmten Pflichten unterliegen. Insbesondere sind sie verpflichtet, jede/n mit Strom oder Gas zu versorgen – auch diejenigen, die ihre Rechnung nicht immer pünktlich begleichen. Die Gasag hatte zum Jahresende 2013 offene Forderungen in Höhe von rund 17 Millionen Euro. Vattenfall veröffentlicht die Zahlen nicht. Um offene Forderungen einzutreiben, drohen die Berliner Grundversorger standardmäßig mit der Sperrung von Strom und Gas. In Berlin geschieht dies bereits bei geringen Ausständen. Laut Grundversorgungsverordnung darf Vattenfall den Stromanschluss erst sperren, wenn die Forderung mindestens 100 Euro beträgt. Für Gas gibt es keine Untergrenze. Die Gasag lässt bereits ab einem Forderungsbetrag von 50 Euro sperren. Vattenfall hat 2013 knapp 94.000 Sperrandrohungen versandt, die Gasag fast 140.000. Die Energieunternehmen setzen säumige Kund/innen unter enormen Zeitdruck. Zwei Wochen nach der Zahlungsaufforderung ist der Betrag fällig, sonst folgt die erste Mahnung. Weitere zwei Wochen später landet die zweite Mahnung im Briefkasten, in der bereits mit der Sperrung des Anschlusses in vier Wochen gedroht wird. Somit kann sechs Wochen nach Fälligkeit rechtskonform der Energiezugang abgeklemmt werden. Die Sperre wird nur drei Werktage im Voraus durch den beauftragten Netzbetreiber angekündigt. Dieser Zeitdruck überfordert viele Berliner/innen mit schmalem Geldbeutel. Kurzfristig einen Termin bei einer Schuldnerberatung zu erhalten, ist meist aussichtslos, auch wenn die Anlaufstellen bei Krisensituationen Termine ohne die sonst üblichen Wartezeiten anbieten. Eine dieser Beratungsstellen ist die Gemeinnützige Gesellschaft für Verbraucher- und Sozialberatung (GVS), die auf Energieschulden spezialisiert ist. Sie unterstützt rund 3.000 Menschen pro Jahr.            

 

Anschlusssperren kosten zusätzlich            

Gasag und Vattenfall dürfen als Grundversorger nur dann den Anschluss abklemmen, wenn dies keine schwerwiegenden Folgen hat – so schreibt es die Grundversorgungsverordnung vor. Schwerwiegende Folgen wie Gesundheitsschäden drohen etwa, wenn Kleinkinder, Kranke, Behinderte oder alte Menschen betroffen sind. Doch in der Praxis prüfen die Unternehmen nicht, ob solche Härten vorliegen. Sie informieren die säumigen Kund/innen auch nicht über die Härtefallregelung. Und die zuständige Senatsverwaltung überprüft nicht, ob die Grundversorger die Sperrvoraussetzungen einhalten. Anschlusssperren setzen schnell eine Kostenspirale in Gang. Für die Sperrung des Stromanschlusses werden 88,60 Euro in Rechnung gestellt, für den Wiederanschluss noch einmal 56,20 Euro. „Die Kosten für die Unterbrechung und Wiederherstellung der Versorgung sind vor Wiederherstellung der Versorgung der elektrischen Anlage zu zahlen“, so das Vattenfall-Preisverzeichnis. Die offene Forderung erhöht sich damit um 144,80 Euro. Solange dieser Betrag nicht beglichen wird, bleibt das Licht aus. Für jede Mahnung berechnet Vattenfall 3,10 Euro, für eine Ratenzahlungsvereinbarung zusätzlich 16 Euro. Für einen abgeklemmten Gasanschluss müssen derzeit 64 Euro und für den Wiederanschluss 75,21 Euro aufgebracht werden. Hat der Grundversorger bereits ein Inkassounternehmen beauftragt, kommen weitere Kosten hinzu.        

                                        

Jobcenter schalten auf stur                

Wer Hartz IV bezieht, kann beim Jobcenter einen Antrag auf Energieschuldenübernahme stellen. Wer Sozialhilfe bekommt oder Geringverdiener/in ist, beim Sozialamt. Wie viele Berliner/innen das jährlich tun, ist nicht bekannt. Daten zu Energieschulden existieren in Berlin nicht, weil Miet- und Energieschuldenübernahmen statistisch zusammen erfasst werden. Auf die Übernahme der Energieschulden durch Jobcenter oder Sozialamt besteht kein Rechtsanspruch. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung, die den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen hat. In der Praxis zeigen sich in Berlin erhebliche Unterschiede in der Auslegung dieser Spielräume. Jedes bezirkliche Sozialamt und jedes Jobcenter agiert nach eigenen Verfahrensregeln. Der Erfolg der Anträge ist je nach Bezirk unterschiedlich. Viele Jobcenter lehnen die Anträge rigoros ab – mit fatalen Folgen von Verschuldung und auch gesundheitlichen Schäden für die Betroffenen. Die pauschale Begründung lautet meist, dass Haushaltsstrom im Regelsatz bereits enthalten sei. Nachzahlungen für Gasheizkosten werden von Jobcentern und Sozialämtern oft nicht übernommen, weil sie nicht „angemessen“ seien. Viele Leistungsbezieher/innen werden bereits mündlich mit dem Hinweis abgewimmelt, dass ein Antrag chancenlos sei. Aufgrund der kurzen Zeiträume zwischen Zahlungsaufforderung, Mahnung und Sperre sind die Jobcenter meist nicht in der Lage, rechtzeitig über die Anträge zu entscheiden. Der zuständigen Senatsverwaltung scheint das egal zu sein: Dem Senat liegen „weder statistische noch anderweitige Erkenntnisse vor“, wie lange es im Durchschnitt dauert, bis Jobcenter und Sozialämter über einen Antrag auf Energieschuldenübernahme entscheiden, so der damalige Wirtschaftsstaatsekretär Christoph von Knobelsdorff im Juli 2012.          

 

Miserabler Kundenservice                

Im Zuge seines Sparkurses hat Vattenfall Stammpersonal abgebaut und seinen Kundenservice ausgelagert. Nach Angaben von Beratungsstellen ist infolgedessen die Servicequalität des Berliner Stromgrundversorgers gesunken. Telefonanfragen von Ratsuchenden seien mit langen Wartezeiten verbunden. Bei persönlichen Nachfragen im mittlerweile einzigen Berliner Kundenzentrum in der Sellerstraße im Wedding sei mit Wartezeiten von drei bis vier Stunden zu rechnen. Vattenfall bietet seinen Kund/innen Ratenzahlungen – wenn überhaupt – über maximal sechs Monate an. Die daraus folgenden hohen monatlichen Beträge können Grundsicherungsbezieher/innen jedoch schwerlich von ihrem niedrigen Regelsatz abzweigen.                                    

 

Es geht auch anders                    

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel München. Dort ist das kommunale Energieunternehmen, die Stadtwerke München GmbH, als Grundversorger verpflichtet, jedes Jahr rund vier Millionen Euro für die Energieschuldenberatung und zum Austausch von stromintensiven Altgeräten von Grundsicherungsbezieher/innen auszugeben. Zudem besteht eine enge Kooperation von Stadtwerken, Sozialreferat und Wohlfahrtsverbänden zur Vermeidung und Behebung von Sperrungen für Härtefallgruppen. Diese Kooperation sieht ein standardisiertes Verfahren vor. Pro Jahr werden so bei rund 350 Haushalten Stromsperren vermieden oder aufgehoben. Mit einem starken kommunalen Energieversorger hätte auch das Land Berlin Chancen, soziale Standards zu setzen und die Anzahl der Energiesperren zu senken. Doch mit dem von der rot-schwarzen Koalition beschlossenen Mini-Stadtwerk ist dies nicht zu haben. Gerade hat Grundversorger Vattenfall zudem seine seit 2009 bestehende freiwillige finanzielle Förderung der Beratungsstelle GVS ohne Angabe von Gründen zum Jahresende eingestellt. In den kommenden Wintermonaten dürften in Berlin die Abklemmungen rasant in die Höhe schnellen.       

 

 


MieterEcho 371 / Dezember 2014

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