Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 356 / September 2012

Keine Wirkung ohne Mitwirkung

Um Stadterneuerung und Mieterinteressen in Einklang zu bringen, ist neben hoher öffentlicher Förderung auch Druck von unten nötig

Alf Bremer

Stadterneuerung geht nur gemeinsam. Das zeigt der Blick in die Geschichte des ehemaligen Kreuzberger Sanierungsgebiets Chamissoplatz und in die Chronik der großen Richtungswechsel der Stadterneuerung in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg.

 

Alf Bremer ist einer der Autor/innen des Buches „Kreuzberg Chamissoplatz. Geschichte eines Sanierungsgebietes“, Berlin 2007.

 
Nachdem West-Berlin 1961 durch den Mauerbau zur Insel geworden war, fanden Investitionen in Altbauquartiere kaum mehr statt. Was den Krieg überstanden hatte, begann zu verfallen. Vom Wirtschaftswunder war dort wenig zu spüren. Zwei Jahre später initiierte der West-Berliner Senat unter Willy Brandt das erste Stadterneuerungsprogramm, durch das neue Wohngebiete gebaut und 55.000 Wohnungen „saniert“ werden sollten. Sanierung meinte: Abriss und Neubau. Das Weddinger Brunnenviertel wurde als „Schaufenster des Westens“ Europas größtes Sanierungsgebiet. Doch die Kahlschlagsanierung krankte am Mangel von Ersatzwohnungen, denn die Neubaumieten waren für viele zu teuer.

Ersatzwohnungen fehlen

Der Chamissoplatz hatte den Zweiten Weltkrieg trotz der Nähe zum Flughafen Tempelhof gut überlebt. Standen nun einerseits Fördermittel zur Verfügung, um den unmodernen Stuck von den Fassaden zu klopfen, gab es zugleich Bestrebungen, die verbliebene historische Stadtkulisse zu bewahren: Weite Teile des Chamissokiezes wurden 1964 als „geschützter Baubereich“ ausgewiesen. Und als 1971 in Vorbereitung des zweiten Stadterneuerungsprogramms 27 „Sanierungsverdachtsgebiete“ festgelegt wurden, war der Chamissoplatz darunter.  Zwar galt inzwischen bundesweit das Städtebauförderungsgesetz, doch West-Berlin hielt an der Anfang der 60er Jahre festgelegten Struktur fest: Die Träger der Stadterneuerung waren städtische Wohnungsbaugesellschaften. Ein Gutachten begründete 1973 die Notwendigkeit der Sanierung am Chamissoplatz mit städtebaulichen Missständen. Zwar galt die Kulisse als erhaltenswert, doch sollten die Blockinnenbereiche entkernt und so Platz für „Anlagen des ruhenden Verkehrs“, Grünflächen und Spielplätze geschaffen werden. Die Umsetzung scheiterte indes an knappen öffentlichen Budgets infolge der ersten Ölkrise. Und noch immer fehlte es an Ersatzwohnraum. So wurden am Chamissoplatz und in anderen Sanierungsgebieten viele der freigemachten Wohnungen erneut vermietet: An „Gastarbeiter/innen“, da man glaubte, dass diese nur vorübergehend blieben, und eine Vermietung an sie die weitere Sanierung nicht hemmte.

Abrisssanierung heizt öffentliche Debatte an

Die 1975 im Rahmen der vorbereitenden Untersuchungen vorgelegte Sozialstudie stellte fest, dass am Chamissoplatz nur wenige Bewohner/innen bereit und in der Lage waren, ihren Kiez für eine bessere Wohnung zu verlassen. Von der Sanierung erwarteten die Mieter/innen Instandsetzung und bezahlbare Verbesserungen der Ausstattung. Den Erhalt der Ofenheizung sahen viele als Chance, die Wohnkosten niedrig zu halten. 1976 stellte der Senat ein Neuordnungskonzept vor, dessen Varianten vom weitgehenden Erhalt der Bebauung bis zum vollständigen Abriss aller Hofgebäude reichten. Der von Planern und Senat  favorisierte Abriss heizte die öffentliche Debatte an. Als der Chamissoplatz 1979 Sanierungsgebiet wurde, regte sich an Kottbusser Tor und Mariannenplatz bereits massiver Widerstand gegen die Sanierung. Zur Finanzierung der Sanierung griff der Senat in die Haushalts-Trickkiste: Mit § 17 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes sollten die gründerzeitlichen Altbauten auf den Standard des sozialen Wohnungsbaus gehievt werden. Zur Rechtfertigung der hohen Kosten sollten die sanierten Wohnungen auch wie sozialer Wohnungsbau der 70er Jahre aussehen: Stuck wurde abgeschlagen, Holzfußböden, Türen und Fenster herausgerissen, Zentralheizungen eingebaut und familiengerechte Grundrisse geschaffen. Nur die Fassaden wurden nach historischen Vorlagen wiederhergestellt. Die Menschen im Chamissokiez waren empört, denn man hatte ihnen Instandsetzung und angepasste Modernisierung versprochen. Nun formierte sich auch hier der Widerstand gegen die zerstörerische Sanierung und die Vernichtung preiswerten Wohnraums. Der „Mieterrat Chamissoplatz“ vertrat fortan die Bewohnerinteressen.

Instandbesetzungen und Skandale erzwingen Kurswechsel

Angesichts hunderter leer stehender Häuser eskalierte der Konflikt zwischen Senat und Bürgerinitiativen in den Sanierungsgebieten in Kreuzberg und Schöneberg. Ende 1980 kam es zu Straßenschlachten, an Weihnachten waren 20 Häuser besetzt. Zunehmend härtere Polizeieinsätze konnten die Instandbesetzer/innen nicht einschüchtern, an Ostern 1981 waren mehr als 160 Häuser besetzt. Auch am Chamissoplatz wurden 17 Häuser besetzt, davon später 8 legalisiert, die übrigen polizeilich geräumt oder verlassen. Der Garski-Skandal, eine Affäre um Millionenbürgschaften West-Berlins für dubiose Immobiliengeschäfte, hatte das Vertrauen in die seit Kriegsende regierende SPD tief erschüttert. 1981 kam in vorgezogenen Wahlen die CDU unter Richard von Weizsäcker an die Macht. Er sah sich gezwungen, in seiner Regierungserklärung eine Parole des Mieterladens Dresdner Straße aufzugreifen: Instandsetzung vor Modernisierung, Modernisierung vor Abriss. Der Alternativen Liste gelang der Einzug ins Abgeordnetenhaus und zudem in allen Bezirken, die 5%-Hürde zu überspringen. Die erste rot-grüne Koalition im Kreuzberger Rathaus wählte Werner Orlowsky, einen Aktivisten der Mieterbewegung am Kottbusser Tor, zum Baustadtrat. Durch eine zunehmend sozial orientierte Stadterneuerung wurde nur noch genehmigt, was zuvor mit den Bewohner/innen abgestimmt worden war. Viele besetze Häuser wurden legalisiert und mit dem Selbsthilfeprogramm bei der Sanierung unterstützt.

Behutsame Stadterneuerung auf Druck der Mieter/innen

1983 stimmte das Abgeordnetenhaus den „12 Grundsätzen der behutsamen Stadterneuerung“ zu, und das durch die Internationale Bauausstellung (IBA) abgestimmte „Erhaltungs- und Erneuerungskonzept“ wurde zum Rahmenplan der Stadterneuerung. Am Chamissoplatz wurde das Neuordnungskonzept durch einen Stufenplan abgelöst, der sich dem Beteiligungsverfahren unterordnete. Bereits 1982 wurde hier eine eigentümerunabhängige Mieterberatung zur Umsetzung der Sozialpanverfahren eingesetzt. Nun wurde um jedes Mietervotum gerungen und meist gegen Abriss und für reduzierte Maßnahmen gestimmt. Um die Erneuerung in Schwung zu bringen, schuf der Senat das Kombi-Programm, das eine Modernisierung ohne Eigenkapital des Sanierungsträgers durch die Kombination von Landes- und Bundesmitteln ermöglichte. Die Modernisierung umfasste den Einbau von Bädern, Isolierglasfenstern und zeitgemäßen haustechnischen Anlagen und war für die Mieter/innen mit einer sehr geringen Mieterhöhung verbunden. Ab Mitte der 80er Jahre konnte immer öfter bei der Sanierung Vollstandard erreicht werden, preiswerten Wohnraum garantierte der hohe Einsatz an Fördermitteln.

Wegfall von Förderung und Mitbestimmung

Nach der Wende reagierte Berlin mit der „Sozialen Stadterneuerung“ auf den großen Erneuerungsbedarf in den neuen Sanierungsgebieten im Ostteil der Stadt. Die energetische Sanierung hatte hohe Priorität. Um Verfahrenshemmnisse zu reduzieren, wurde jedoch die Mitwirkung der Mieter/innen eingeschränkt. Die Förderung wurde auf Instandsetzung reduziert, die Kosten der Modernisierung führten zu höheren Einstiegsmieten und schnellerem Mietanstieg. Mit der Aufrüstung der Kombi-Häuser auf den Vollstandard begann 1995 die letzte Phase der Sanierung am Chamissoplatz. 2003 zog sich Berlin aus der Förderung der Wohnungssanierung zurück. Die Hauptakteure der Stadterneuerung wurden nun private Investoren, die im Ostteil der Stadt zusätzlich hohe Steuerersparnisse durch die Investitionsförderung des Bundes erzielen konnten. Am Chamissoplatz wurde nach 25 Jahren die Sanierungssatzung aufgehoben. Die Bilanz liest sich durchaus erfolgreich: Die städtebauliche Struktur wurde erhalten, die Wohnverhältnisse bei weitgehendem Erhalt der Bewohnerschaft verbessert, Straßen, Plätze und Grünflächen erneuert und Höfe begrünt. Dazu haben vor allem die Bewohner/innen beigetragen, die sich damals dem Abriss widersetzten.Heute ist der Chamissokiez ein begehrtes Wohngebiet. Steigende Angebotsmieten, Eigentümerwechsel, aufgesattelte Modernisierungen und Umwandlungen in Wohneigentum prägen den Kiez. Um die  Aufwertung ein wenig kontrollieren zu können, hat der Bezirk eine Milieuschutzsatzung nach § 172 Baugesetzbuch erlassen. Dadurch bedürfen Maßnahmen, die über den ortsüblichen Standard hinausführen, der besonderen Genehmigung. Auch die vom Bezirk beauftragte Mieterberatung wird fortgeführt. Um die Bewohner/innen vor Verdrängung zu schützen, werden diese Bemühungen allein jedoch kaum ausreichen. Hier ist auch die Politik und das Engagement der Mieter/innen gefragt.

 


MieterEcho 356 / September 2012

Schlüsselbegriffe: Soziale Stadterneuerung, Kreuzberg, Sanierungsgebiet Chamissoplatz, Stadterneuerung, Stadterneuerungsprogramm, Städtebauförderungsgesetz, Abrisssanierung, Instandbesetzungen, Milieuschutzsatzung

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