Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 353 / März 2012

Emanzipation oder Etikettenschwindel

Warum auch Unternehmer nach mehr Bürgerbeteiligung rufen

Thomas Wagner

Das aktuelle Versagen der etablierten Parteien, in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise adäquate Antworten auf drängende soziale Fragen zu finden, hat einer in weiten Teilen der Bevölkerung ohnehin seit Langem gärenden Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie neue Nahrung gegeben. Infolge der Bürgerproteste gegen Großbauvorhaben wie Stuttgart 21 und diverse Flughafenprojekte mehren sich Vorschläge, wie Demokratie von unten noch einmal ganz neu zu denken ist. Merklich wächst die Bereitschaft, alternative, horizontale Formen der Entscheidungsfindung auszuprobieren und auch noch die letzten Reste obrigkeitsstaatlicher Traditionen im vereinten Deutschland ein für alle Mal zu überwinden.

 

 

Thomas Wagner, Jahrgang 1967, ist Soziologe und arbeitet als freier Autor. Er promovierte im Jahr 2002 über die Einflussnahme der Irokesen auf die US-Verfassung und publizierte Bücher über herrschaftsfreie Institutionen, die Sloterdijk-Debatte, Thilo Sarrazin sowie über engagierte Literatur. Zum Weiterlesen: Thomas Wagner: „Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus.“ Köln, Papyrossa, 2011 (Rezension auf Seite 15).

 


Die Weichen für einen weiteren Demokratisierungsschub der Bundesrepublik scheinen also gestellt. Aber Achtung: Die Kritik an postdemokratischen Tendenzen im Parteiensystem und am Parlamentarismus ist nicht immer emanzipatorisch. Das Gleiche muss von der Forderung nach mehr unmittelbarer Mitsprache und Plebisziten gesagt werden. Schaut man sich deren Verfechter einmal genauer an, finden sich in der Geschichte und in der Gegenwart eine stattliche Reihe ausgesprochen reaktionärer Köpfe darunter: der Staatsrechtler Carl Schmitt, sein französischer Verehrer Alain de Benoist, Journalisten aus dem Umfeld der Jungen Freiheit, islamfeindliche Pro-Bewegungen und Funktionäre der NPD. Auch Medienintellektuelle, Journalisten und Wirtschaftslobbyisten wie der Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel, Hans Herbert von Arnim, Gabor Steingart oder Hans-Ulrich Jörges geben sich seit Jahren als dezidierte Parteienkritiker und Anhänger direktdemokratischer Formen. Die Forderung nach mehr Partizipation der Bürger, einer Selbstorganisation der Zivilgesellschaft und einer Demokratisierung der Demokratie gehört mittlerweile zum Standardrepertoire von Teilen der herrschenden Eliten.
 

Vorsicht bei radikaldemokratischer Rhetorik

Wenn aber Unternehmervertreter, finanzkräftige Konzernstiftungen oder Vordenker einer gar nicht so neuen Rechten eine radikaldemokratische Rhetorik bemühen, ist allergrößte Vorsicht angebracht. Fast immer handelt es sich dabei um eine ideologische Mogelpackung. Statt um bessere politische Partizipationschancen der abhängig Beschäftigten, Wirtschaftsdemokratie oder gar einen neuen Anlauf zum Sozialismus geht es ihnen im Kern um die plebiszitäre Absicherung der Elitenherrschaft, um Legitimationsbeschaffung für das herrschende System und eine Vergrößerung des Einflusses jener Kräfte, die aufgrund ihrer ökonomischen Macht ohnehin schon mehr zu sagen haben als die Mehrheit der Bevölkerung. Manche Wirtschaftslobbyisten schlagen die Trommel für mehr direkte Demokratie, weil sie glauben, dass die Unternehmen dadurch mehr Einflusschancen bekämen als durch das parlamentarische System allein. Patrick Adenauer, der ehemalige Sprecher des Verbands der Familienunternehmer, argumentierte, dass sich viele Unternehmer in einzelnen Volksinitiativen mit einem nur verhältnismäßig geringem Zeitaufwand sehr effektiv engagieren könnten. So seien Initiativen gegen zu viel Steuern über Direktdemokratie leichter möglich. Dass seine Annahme nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen die Beispiele USA und Schweiz, wo sich kapitalistische Eigentumsverhältnisse, ein sogenannter schlanker Staat und fest verankerte Formen einer direkten Demokratie in einigen Bundesstaaten ausgesprochen gut vertragen. Zirka ein Fünftel bis ein Viertel aller Volksbegehren in den USA betreffen die Einnahmen und Ausgaben des Staates. Dabei sind insbesondere Maßnahmen beliebt, die Steuern und Staatsausgaben begrenzen. Über die viel gelobten Bürgerhaushalte (siehe Seite 10), bei denen die Menschen über die Ausgaben ihrer Kommune mitentscheiden, urteilte Martin Kaul, dass sie vor allem dazu geeignet seien, um für die dauernden Kürzungen im öffentlichen Haushalt Akzeptanz zu schaffen. Von Unternehmern werde der Ruf nach mehr Mitsprache heute so offensiv geführt, weil es die einzige Möglichkeit sei, die Debatte zu bestimmen. „So wie die ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’ einst angetreten war, um soziale Marktwirtschaft zu predigen und Neoliberalismus zu meinen, so werben heute Unternehmer für mehr Mitsprache“, schrieb die taz am 7. Februar 2012.
 

Zurückdrängen sozialer Interessen

Der zweite Grund für die Freude an der direkten Demokratie in diesem Lager liegt in einem strategischen Kalkül, das mittel- und langfristig auf die Entmachtung von Parteien, die soziale Interessen vertreten, zielt. Hinter der immer wieder vorgebrachten Parteienschelte verbirgt sich der Wunsch, den Einfluss der abhängig Beschäftigten auf die Gesellschaft schrittweise so weit wie möglich zurückzudrängen. Denn gerade die abhängig Beschäftigten brauchen starke Organisationen und Parteien, wenn ihr Kampf um soziale, ökonomische und politische Beteiligung erfolgreich sein soll. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die vielfach gepriesenen neuen Beteiligungsformen aufgrund der mit ihnen verbundenen Anforderungen an kommunikative Kompetenzen die Hürde für Angehörige sozial benachteiligter Schichten erhöhen.                

Bürgerlichen Parteienkritikern wie Hans Herbert von Arnim oder dem Wirtschaftslobbyisten Hans-Olaf Henkel kann das freilich nur recht sein. Sie sind sich hinsichtlich eines politischen Hauptziels mit der radikalen Rechten weitgehend einig: der Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch ein autoritäres Präsidialregime. Zum Beispiel sollen die Ministerpräsidenten künftig durch ihre Direktwahl dazu legitimiert werden, eine neoliberale Verwaltungsreform „notfalls auch gegen den Widerstand der öffentlichen Bediensteten und ihrer Gewerkschaften durchzuführen“ (Hans Herbert von Arnim). Die direktdemokratische Rhetorik soll dabei helfen, politische Zustände herbeizuführen, in denen das „Volk“ oder „die Bürger“, das heißt, eine Masse vereinzelter, voneinander isolierter Individuen, in einem möglichst direkten, unmittelbaren Verhältnis zu seinen politischen „Führern“ steht. Man kann in diesem Zusammenhang von einem demokratischen Autoritarismus sprechen.
 

Ungefährlich für das Ungleichheitssystem

Den dritten Grund für die partizipatorische Euphorie von Teilen der Eliten vermute ich in einem durch die Protestkultur provozierten Strategiewechsel der Herrschenden. Während Protestierende in früheren Jahren vornehmlich ausgegrenzt, als Chaoten diffamiert und kriminalisiert wurden, versuchen intelligente Ideologen ihre kritische Widerstandsenergie und das demokratische Mittunwollen auf Bahnen zu lenken, die den Menschen attraktiv erscheinen, aber für das System ungefährlich sind. Hierin besteht die Funktion des demokratiepolitischen Engagements von Think Tanks wie der Bertelsmann-Stiftung, der Körber-Stiftung oder der Herbert-Quandt-Stiftung (siehe Seite 8). Bürgerproteste sollen durch Dialog- und Mediationsverfahren kanalisiert, entschärft oder neutralisiert werden. Dem gleichen Zweck dienen zuweilen die Vernetzung und Aktivierung von kommunalen Gruppen, wie es das aus den USA importierte Konzept des Community Organizing vorsieht.

Durch Bürgerplattformen (siehe Seite 14) und Bürgerdialoge soll das Engagement der Menschen in Bahnen gelenkt werden, die einerseits den Basisaktivisten attraktiv erscheinen, andererseits aber ungefährlich sind für das sich ständig reproduzierende Ungleichheitssystem des Kapitalismus. Gesellschaftliche Institutionen sollen verändert werden, ohne privates Eigentum und die Verfügung an den Produktionsmitteln sowie die grundsätzliche Verteilung von Einfluss- und Machtchancen zugunsten der Eliten infrage zu stellen. Im Einzelfall kann dabei durchaus etwas Sinnvolles herauskommen. Doch selbst dann gerät in der Regel der Fokus auf übergeordnete Herrschaftsverhältnisse aus dem Blick. Fragen, die das Eigentum an Produktionsmitteln und die Kontrolle von ökonomischen Prozessen, Betrieben, Konzernen, Banken usw. betreffen, also den ganzen Bereich der Wirtschaftsdemokratie, werden gar nicht erst gestellt. Dabei gehören Arbeit und Konsum zu den elementaren Bereichen des menschlichen Lebens. Was, wie viel, auf welche Weise, von wem und unter welchen Arbeitsbedingungen produziert wird und was mit dem kollektiv erarbeiteten Reichtum schließlich gemacht wird, darüber zu bestimmen, ist heute das Exklusivrecht von Wenigen. Privates Eigentum an Produktionsmitteln und quasi diktatorische Anordnungsbefugnisse von Betriebseignern gegenüber den Beschäftigten werden kaum hinterfragt. Wieso eigentlich?
 

Neue Qualität demokratischer Beteiligung

An diese Frage können emanzipatorische Gegenstrategien ansetzen. Wenn unter Demokratie nicht nur eine spezielle Form der Legitimation von Herrschaft, sondern zumindest perspektivisch die Überwindung von Herrschaftsbeziehungen verstanden wird, dann hat der Begriff einen sozialen Inhalt und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Wirtschaften und Eigentum. Denn Macht, die aus der ungleichen Verteilung des Zugangs zu ökonomischen Ressourcen herrührt, ist eine ebenso große Gefahr für die Beteiligungschancen der großen Mehrheit wie die unverblümte Ausübung autoritärer Regierungsgewalt. Es geht also um gleiche Teilhabe, nicht nur an den im engeren Sinne politischen Institutionen, sondern darüber hinaus am gesellschaftlichen Reichtum, am Eigentum und an den wirtschaftlichen Entscheidungen. Im heute in liberalen kapitalistischen Gesellschaften vorherrschenden Diskurs über Demokratie bleibt freilich der Bereich der Ökonomie in der Regel ausgeklammert. Zum einen erscheinen die Strukturen innerhalb der Betriebe zwar als eine rechtlich regulierte, aber, was die Entscheidungsverfahren betrifft, weitgehend demokratiefreie Zone. Zum anderen wird das Thema einer vernünftigen gemeinschaftlichen Planung gesamtgesellschaftlicher Prozesse tabuisiert. Für wie selbstverständlich die Abtrennung und der Ausschluss der ökonomischen Sphäre genommen wird, zeigt sich daran, dass auch unter jenen Stimmen, die lauthals mehr Bürgerpartizipation einfordern, kaum jemand eine Demokratisierung der Wirtschaft auch nur in Betracht zieht. Dabei greifen sogenannte ökonomische Sachzwänge heute unübersehbar in die politische Sphäre durch, was durch immer neue Formen der Bürgerbeteiligung eher kaschiert als bekämpft wird. Damit diese nicht zum bloßen Feigenblatt verkommen, muss auch die Sphäre der Produktion und des Warentauschs demokratisiert werden. Der Bielefelder Staatsrechtler Andreas Fisahn fordert deshalb, die heute noch „politisch halbierte Demokratie“ aus „der Sphäre des Politischen in die bisher geschiedene Sphäre des Ökonomischen“ zu erweitern. Nur dann ist wirklich eine neue Qualität demokratischer Beteiligung zu erreichen.
 

GLOSSAR:

Plebiszit: Ein Plebiszit ist eine Abstimmung des Wahlvolkes über eine Sachfrage. In einer repräsentativen Demokratie ergänzen Plebiszite die Wahlen. Das Plebiszit ist damit ein Oberbegriff, der alle Formen von Volksabstimmungen, Volksentscheiden, Referenden, Bürgerentscheiden, Volksbefragungen und dergleichen umfasst. Auch Volksinitiativen, (An-träge auf ein) Volksbegehren und Bürgerbegehren können zu Plebisziten gezählt werden. Sofern ein Plebiszit in verbindlicher Form den Beschluss eines Gesetzes oder Verfassungsartikels bewirkt, ist es Teil der Gesetzgebung.

Community Organizing: Community Organizing bezeichnet ein Bündel an Maßnahmen für die Mitgliedergewinnung – meist von Gewerkschaften, aber auch Kirchengemeinden – und für die Stärkung der eigenen Durchsetzungskraft, das in dieser Form erstmals in den Armenvierteln von Chicago in den 1920er Jahren angewandt wurde. Unter Anleitung von Community Organizern werden die Bewohner/innen befähigt und bestärkt, aktiv für ihre eigenen Interessen und oft gegen die Interessen großer Unternehmen, einzelner Unternehmer oder mächtiger staatlicher Einrichtungen vorzugehen.

Think Tank: Ein Think Tank oder eine Denkfabrik ist ein nicht gewinnorientiertes Forschungsinstitut oder eine informelle Gruppe von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, (ehemaligen) Politikern und/ oder Unternehmern, die gemeinsam politische, soziale und wirtschaftliche Konzepte oder Strategien entwickeln und entsprechende öffentliche Debatten fördern, also wissenschaftliche Politikberatung betreiben. In der Bundesrepublik Deutschland werden Denkfabriken überwiegend öffentlich finanziert. Daneben gibt es auch einige privat finanzierte Denkfabriken, die von Unternehmen, Verbänden, privaten Stiftungen oder Einzelpersonen unterstützt werden. Zu den wichtigsten Funktionen von Denkfabriken zählen die Forschung, das Agenda Setting, die Beratung von Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit und die Forcierung einer öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte. (Quelle: Wikipedia)


MieterEcho 353 / März 2012

Schlüsselbegriffe: Bürgerbeteiligung, Unternehmer, Eliten, Bürgerproteste, Stuttgart 21,Bertelsmann-Stiftung, Think Tanks, Mediationsverfahren, Thomas Wagner

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