Editorial März 2012
MieterEcho Editorial
Liebe LESERINNEN und LESER,
Parteienverdrossenheit, so belehrt uns Wikipedia, „bezeichnet in der deutschen Geschichte ursprünglich die antiliberale und antidemokratische Einstellung zu Beginn der Weimarer Republik“. Erst in den 80er Jahren, werde der Begriff synonym verwendet für Politikverdrossenheit oder auch „politischer Entfremdung“, „Krise der Demokratie“ sowie „Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus“.
Sahen die rechten bürgerlichen Kreise der Weimarer Republik die Alternative in der scheinbar über den Parteien – und den durch sie verkörperten gesellschaftlichen Kräften – stehenden konstitutionellen Monarchie mit dem Beamtenstaat, so vertrauen inzwischen die zeitgenössischen Eliten ihre Interessen gerne den Untertanen an.
Bürgerbeteiligung ist angesagt.
Der ehemalige Präsident des Bundesverband der Industrie Hans-Olaf Henkel und der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim propagieren in allen möglichen Talkshows plebiszitäre Lösungen. Auch die Bertelsmann-Stiftung, frei von jedem Verdacht soziale Interessen fördern zu wollen, setzt auf direkte Demokratie. Die Frage nach der Motivation drängt sich auf.
Im 2004 erschienenen Heft „Bürgergesellschaft/Stiftungen“ der Bundeszentrale für politische Bildung findet sich ein wichtiger Hinweis: „Der Gerechtigkeit und Emanzipation verheißende deutsche Wohlfahrtsstaat stößt an seine Grenzen. Nach jahrzehntelangem Reformstillstand und der Ausdehnung der sozialen Sicherungssysteme auf das Gebiet der untergegangenen DDR sind seine Fehlentwicklungen offen zutage getreten. (...) Wahlergebnisse und Umfragen belegen indes, dass die Kakofonie immer neuer Reformankündigungen und Appelle von weiten Teilen der Bevölkerung als plan- und zielloser Leistungsabbau empfunden wird. Der Verdruss über die etablierte Politik wächst.“
Das macht Sinn. Der Sozialstaat wird abgebaut und an seine Stelle treten aus lauter Verdruss die ehrenamtlich aktiven Bürger/innen. Die eingesparten Gelder lassen sich – ebenfalls sozial gedacht – als Rettungsschirm für notleidende Banken und ihre Manager verwenden. Doch das ist nur ein Nebeneffekt. Bürgerbewegung ist die Domäne artikulationsfähiger Mittelschichten, deren Partizipation und Konsens für die gesellschaftliche Stabilität dringend gebraucht werden. Die subalternen Schichten, die Arbeiter und Angestellten, sind schon lange als politisch handelnde Subjekte an den Rand gedrängt. Die Artikulation ihrer Interessen wurde bisher von Organisationen wie den Gewerkschaften und von Parteien wahrgenommen. Aber gerade das ist in den Vorstellungen der Bürgerbeteiligungslobby à la Henkel, von Arnim und Co. höchst überflüssig.
Ihr MieterEcho
MieterEcho 353 / März 2012
Schlüsselbegriffe: Parteienverdrossenheit, Krise der Demokratie, Bürgerbeteiligung, Partizipation, Sozialstaat, Politikverdrossenheit, Weimarer Republik