Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 355 / Juli 2012

„Die ganz Armen konkurrieren mit den etwas weniger Armen um den knappen Wohnraum.“

Steigende Mietbelastung verschärft die sozialen Probleme

Interview mit Sigmar Gude von Topos-Stadtforschung

Ganz verschiedene Reaktionen löste die Topos-Studie zur Sozialstrukturentwicklung in Nord-Neukölln aus. Der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) fand es eine „gute Sache, dass Panik in Sachen Gentrifizierung nicht angesagt“ sei. Demgegenüber ist in den „Randnotizen“, der Stadtteilzeitung aus dem Schillerkiez zu lesen, dass sich „der gesunde Menschenverstand natürlich verarscht“ fühle, könne „man doch am Herrfurthplatz (...) inzwischen sogar Delikatessen erstehen“. Das MieterEcho hat bei Sigmar Gude von Topos-Stadtforschung nachgefragt, wie er die Entwicklung Nord-Neuköllns beurteilt und was im Zusammenhang mit der Festlegung des Sanierungsgebiets Karl-Marx-Straße/Sonnenallee zu erwarten ist.

 

MieterEcho: Ihre Untersuchung hat ganz unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Was entgegnen Sie der „Entwarnung“ Buschkowskys einerseits und der „gefühlten Verarschung“ auf der anderen Seite?


Sigmar Gude: Wir müssen damit leben, dass alle gern ihre eigenen Auffassungen von der Entwicklung durch unsere Untersuchungen bestätigt sehen möchten. Herr Buschkowsky hat ja im Übrigen weniger Entwarnung gegeben, als eine gewisse Enttäuschung formuliert, dass die Sozialstrukturveränderungen so gering ausgefallen seien.

 

 

Zu welchen Ergebnissen kommt Ihre Untersuchung in Bezug auf Nord-Neukölln?


Es sind in den letzten Jahren sehr viele junge Leute auf der Suche nach preiswerten Wohnungen in den Stadtteil gekommen. Günstige Wohnungen gab es in Nord-Neukölln länger als in anderen Berliner Stadtteilen.  Vor rund 10 Jahren waren aufgrund der starken Abwanderung ins Berliner Umland auch noch in Quartieren mit einem besseren Image Wohnungen zu haben. Zudem schreckte der Fluglärm bis zur Schließung des Flughafens viele Wohnungssuchende ab. Tatsächlich hat die Einstellung des Flugbetriebs zu einer stärkeren Mieterhöhungsentwicklung geführt als die Öffnung des Flughafengeländes als Park. Die Mieten waren 2010 schon fast auf dem allgemeinen Berliner Niveau angekommen, während sie 2007 noch deutlich darunter lagen. Seitdem die Zahl der Haushalte in Berlin aber schnell wächst und die Zahl der Mietwohnungen dagegen eher abnimmt – auch infolge der Umnutzung in sogenannte Ferienwohnungen, die ja in Wahrheit eher Hotelzimmer sind –, wird der Wohnungsmarkt in Berlin immer enger. Viele Gegenden, in denen Studierende und andere junge Leute mit geringen Einkommen in der Vergangenheit  Wohnungen bekommen hatten, sind für sie jetzt verschlossen, weil solventere Mieter/innen von den Eigentümern/Verwaltungen vorgezogen werden. Hinzu kommt, dass der zunehmende Modernisierungsgrad die Mieten zusätzlich deutlich verteuert hat.

 

 

Wie stark ist die Gentrifizierung Ihrer Untersuchung zufolge bereits in Nord-Neukölln vorangeschritten?

 

Seit einigen Jahren sind Kreuzberg im Allgemeinen und SO 36 im Besonderen, wie bereits in den 80er und 90er Jahren, wieder Ziel von jungen Mietergruppen. Im gleichen Zeitraum sind jüngere Mieter/innen in Friedrichshain immer schwerer an eine Wohnung gekommen. Als dann auch in den Kreuzberger Gebieten wie SO 36 und Graefekiez bezahlbare Wohnungen immer seltener wurden, wichen immer mehr Wohnungssuchende über den Landwehrkanal nach Nord-Neukölln aus. Hier waren preiswerte Wohnungen noch leichter zu haben und die Szenegebiete in Kreuzberg dennoch nahe. Das hatte auch schon in den 80er Jahren viele Studierende und junge Familien angezogen und bereits aus dieser Zeit stammt der Begriff Kreuzkölln für das Gebiet zwischen Kanal, Kottbusser Damm und Sonnenallee, das heute auch Reuterkiez genannt wird. Inzwischen ist der Anteil der jungen Leute, die in der Gentrifizierungsforschung Pioniere genannt werden, so hoch, dass sie Straßenbild und die Angebotsstrukturen deutlich verändert haben, ohne dass dieser neue Lebensstil so dominant geworden wäre wie in Teilen von Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Der Anteil der Haushalte, die den sogenannten Gentrifiern zugerechnet werden, hat sich in Kreuzkölln ebenfalls kontinuierlich erhöht und für die Pioniere ist es wegen dieser Konkurrenz und wegen der gestiegenen Mieten schon deutlich schwerer geworden, überhaupt noch ins Gebiet zu kommen. Damit ist im Gebiet Reuterkiez durchaus ein Gentrifizierungsprozess festzustellen und von uns auch so benannt worden. Der hat noch bei Weitem nicht das Niveau der oben genannten Vergleichsgebiete erreicht. Die Gebietsentwicklung ähnelt der des Kreuzberger Graefekiezes auf der anderen Seite des Kottbusser Damms.

 

 

Das ist die Beschreibung für den Reuterkiez. Was ist zum Rest Nord-Neuköllns und den Schillerkiez zu sagen?


Im restlichen Nord-Neukölln sind zwar viele junge Leute hinzu gekommen, aber es hat so gut wie keine Zunahme der Gentrifier gegeben. Im Gegenteil, die Zuwanderer/innen, und zwar nicht nur die Studierenden, haben ein gemessen an Gesamtberliner Verhältnissen geringes Einkommen. Es liegt nur geringfügig über dem sehr niedrigen Einkommensniveau, das in diesen Gebieten – auch in der Schillerpromenade – weiterhin vorherrscht. Im Grunde haben wir in unseren genaueren Analysen festgestellt, dass hier die ganz Armen mit den etwas weniger Armen um den knappen Wohnraum konkurrieren, der ja auch nicht mehr so billig ist.

 
Pioniere und Gentrifier
Für die Analyse wurden die Haushalte in vier Gruppen geteilt: Ältere, Pioniere, Gentrifier und Stammbevölkerung. Bei der Zuordnung wurden die in der Tabelle aufgeführten Indikatoren verwendet. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Äquivalenzeinkommen in Berlin beträgt 1.450 Euro.





In Ihrer Präsentation hieß es, dass auf den Zuzug von Pionieren nicht zwangsläufig eine Gentrifizierung folgen würde. Wovon hängt der Prozess der Gentrifizierung ab?


In einem Gentrifizierungsprozess steckt keine Automatik, nach der, wenn einmal Pioniere in einem Gebiet auftauchen, es in jedem Fall eine Entwicklung bis zur mehr oder minder vollständigen Gentrifizierung geben wird. Wie es sich im Einzelnen entwickelt, hängt stark von den Verhältnissen auf dem Wohnungsmarkt, von den jeweiligen Gebietsqualitäten für potenzielle Gentrifier und von dem Vorhandensein von Gentrifiern ab, also dem Vorhandensein von Haushalten mit hohem Einkommen auf der Suche nach einem Wohngebiet, in denen sie ihren persönlichen Lebensstil verwirklichen können. Diese Gruppe ist aber in Berlin aufgrund der schwachen Wirtschaft relativ klein und es ist mehr als zweifelhaft, ob sich diese Personen angesichts einer Reihe anderer Gebiete, in denen Gentrifizierungsprozesse vor-anschreiten, wie die Kreuzberger Gebiete Bergmannkiez, Graefekiez, Chamissoplatz, die Friedrichshainer Gebiete, aber auch Gebiete in Schöneberg und Mitte, überwiegend für Nord-Neukölln entscheiden. Dass in einigen Gebieten in Nord-Neukölln in stärkerem Maße Gentrifier-Haushalte ankommen werden, hängt mit besonderen Gebietsqualitäten zusammen. So ist auch jetzt schon am Richardplatz eine entsprechende Entwicklung zu sehen.

 


Wenn keine Gentrifizierung zu befürchten ist, welche Folgen und Probleme zeichnen sich dann ab?


Wir halten für den größten Teil Nord-Neuköllns eine andere Entwicklung für wahrscheinlich. Soziale Umstrukturierungen werden dort nur in begrenztem Maße stattfinden. Der Anteil junger Leute und – in sehr begrenztem Maße – von Haushalten mit höheren Einkommen wird zunehmen. Gleichzeitig werden die Gruppen mit ökonomischen und sozialen Problemen in den Quartieren bleiben. Weiter zunehmen wird aber der Druck auf die Mieten, wie mehr oder minder in allen Bezirken Berlins, und damit wird die Mietbelastung der Haushalte weiter steigen, was für viele einer zunehmenden Verarmung gleichkommt. Insoweit sehen wir keineswegs ein Ende der sozialen Probleme in Nord-Neukölln, sondern teilweise sogar das Gegenteil. Eine Entwarnung können wir daher aus den Ergebnissen unserer Studie nun wirklich nicht ableiten.

 

 

Wohin ziehen die Leute, die sich die gestiegenen Mieten in Nord-Neukölln nicht mehr leisten können?


Ich sehe keine Stadtteile, die armen Mieter/innen als Ausweichmöglichkeiten offen stehen. Sie werden im Wesentlichen weiterhin in den bekannten Quartieren versuchen, eine einigermaßen preiswerte Wohnung zu finden. Die Siedlungen der Nachkriegszeit werden dabei stärker in den Fokus rücken, weil die Wohnungen vergleichsweise klein sind und daher bei gleicher Zimmerzahl – aber deutlich weniger Quadratmetern – eine niedrigere Gesamtmiete haben. Zurzeit weichen einige ärmere Haushalte in die im Westen wie im Osten gelegenen Großsiedlungen aus. Daraus wird die Erwartung abgeleitet, in diese Siedlungen würde ein großer Teil der jetzigen Nord-Neuköllner Mieter/innen ausweichen. Auch diese Möglichkeit halten wir für weitaus überschätzt. Der Leerstand in den Großsiedlungen ist bereits stark zurückgegangen. Inzwischen ist er häufig geringer als in Altbaugebieten. Die Eigentümer der dortigen Wohnungen, in der Regel große städtische oder ehemals städtische Gesellschaften, werden zudem so eine Entwicklung zu vermeiden suchen. Die Vermarktung der eigenen Wohnungen würde schließlich erheblich schwerer, wenn die Siedlungen das Image erhielten, reine Armenwohngebiete zu sein. Angesichts des engen Wohnungsmarkts werden sie auch in Zukunft Mieter/innen aus der unteren Mittelschicht für den größten Teil ihrer Wohnungen finden (siehe auch Beitrag „Absage mit einem Lächeln“ von Joel Vogel). Die meisten armen Haushalte werden also mangels Ausweichmöglichkeiten in Nord-Neukölln bleiben müssen. Die überproportionalen Mietsteigerungen, die eintreten werden, wenn der Berliner Wohnungsmarkt weiter angespannt bleiben wird – wofür augenblicklich alles spricht – werden bei den betroffenen Familien zu einer Verringerung des für den Lebensunterhalt nach Abzug der Aufwendungen für die Warmmiete zur Verfügung stehenden Einkommens führen. Ein wachsender Teil der armen Haushalte wird in kleinere Wohnungen ausweichen oder untervermieten. Schon jetzt ist die Überbelegung von Wohnungen bei Hartz-IV-Familien mehr als doppelt so häufig wie im Berliner Durchschnitt und betrifft fast 20% der Hartz-IV-Haushalte.

 


Nun zum Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße/Sonnenallee. Welche Erfahrungen gibt es bezüglich Mietenentwicklung und Verdrängungsprozessen aus früheren Sanierungsgebieten?


Das lässt sich meines Erachtens nicht so pauschal beantworten, denn es hängt sehr von den jeweiligen Bedingungen vor Ort, vom Wohnungsmarkt im Allgemeinen und von den Möglichkeiten öffentlicher Förderung ab. In den bekannten Gentrifizierungszonen im Prenzlauer Berg usw. hat es sicher in den Sanierungsgebieten schnellere und stärkere Veränderungen der Bevölkerungsstruktur gegeben. Die Mieten in vergleichbaren Nachbargebieten, die kein Sanierungsgebiet waren, unterscheiden sich aber prinzipiell wenig. Die Erfahrungen in anderen Sanierungsgebieten, beispielsweise dem Weitlingkiez in Lichtenberg, weichen davon ab. Hier sind die Mieten deutlich niedriger und die soziostrukturellen Veränderungen wesentlich geringer.

 


Lassen sich diese Erfahrungen auf Neukölln übertragen? Wie schätzen Sie die Situation für Neukölln ein? Welche Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt wird es durch die Aufwertung des Gebiets geben?


Ich denke, dass die Erfahrungen kaum übertragbar sind, wie es sich schon an den unterschiedlichen Ergebnissen der verschiedenen Gebiete zeigt, die von den Gesamtberliner Rahmenbedingungen gleiche Voraussetzungen hatten. In Nord-Neukölln wird es sich meines Erachtens wesentlich auswirken, ob die Eigentümer stärker auf eine kostenintensive Aufwertung mit anschließend sehr hohen Mieten setzen werden, oder ob sie lieber die durch den engen Wohnungsmarkt gegebenen Steigerungsmöglichkeiten, vor allem bei der Neuvermietung, ausnutzen wollen, ohne dabei groß zu investieren. Ich glaube, dass die Mehrheit die letztere Variante wählen wird, weil sehr hohe Mieten, die sie bei hohen Investitionen nehmen müssten, auch in Zukunft in Nord-Neukölln nicht so einfach zu erzielen sein werden.

 


Vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Hermann Werle.



Junges, erfolgreiches Neukölln

„Jung, bunt, erfolgreich“ soll sie werden, die Karl-Marx-Straße mitsamt der sie umgebenden Gebiete. Dafür initiierte das Bezirksamt Neukölln die „Aktion! Karl-Marx-Straße“. Um das „erfolgreiche“ Neukölln zu realisieren, wurden zudem im März 2011 große Teile des nördlichen Neuköllns – wie auch sechs weitere Gebiete in Mitte, Wedding, Kreuzberg, Spandau und Lichtenberg – vom Berliner Senat zu Sanierungsgebieten erklärt. Viel Geld wird in diese Gebiete fließen, wobei Mieterinteressen unter einer Welle neuer Mieterhöhungen unterzugehen drohen. Über 200 Millionen Euro sollen in den kommenden 15 Jahren in die Gebiete investiert werden und „einerseits die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger verbessern und andererseits Anreize für private Investitionen schaffen“, wie die frühere Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) versprach. Schaut man sich die Vorhaben an, gibt es zunächst kaum Anlass für Kritik: der Verkehr soll beruhigt, Bürgersteige verbreitert, Schulen und Kitas erneuert werden. Bauvorhaben in Sanierungsgebieten unterliegen dem Baugesetzbuch, welches unter § 137 eine „Beteiligung und Mitwirkung der Betroffenen“ vorsieht. Dementsprechend wurde in den letzten Monaten von den zuständigen Bezirksverwaltungen zu mehreren Versammlungen unter anderem in Neukölln eingeladen. Im Zentrum dieser Versammlungen standen die Vorstellung der in den Gebieten vorgesehenen Bauvorhaben und Berichte zu den Voruntersuchungen, die als Grundlage der Planungen dienen. Steigende Mieten, unerwünschte Modernisierungen oder der Mangel an bezahlbaren Wohnungen wurden bei keiner dieser Vorstellungen thematisiert, dafür aber von anwesenden Mieter/innen umso vehementer problematisiert. Die Reaktionen der Vertreter der Bezirksämter und des Koordinationsbüros KoSP reichten dabei von der Feststellung, dass die Wohnungs- und Mietenproblematik zurzeit der Voruntersuchung im Jahr 2009 noch nicht absehbar war, bis zu dem Hinweis, dass die Mietenproblematik auf bezirklicher Ebene nicht zu lösen sei. Das verspricht nichts Gutes für die Mieter/innen und es bleibt abzuwarten, ob sich die Vermutung Sigmar Gudes bewahrheiten wird und Investoren auf kostenintensive Modernisierungen verzichten werden (siehe Interview). Das Bezirksamt Neukölln gibt sich zumindest alle Mühe, die Hauseigentümer zu Modernisierungen anzuregen, und veröffentlichte im Mai einen „Leitfaden für die energetische Modernisierung und Gestaltung von Fassaden“, der neben detaillieren Beschreibungen von einzelnen Maßnahmen auch Hinweise auf entsprechende Förderungen beinhaltet. (hw)


Weitere Infos:
www.aktion-karlmarxstrasse.de
www.stadtentwicklung.berlin.de


MieterEcho 355 / Juli 2012

Schlüsselbegriffe: Topos-Stadtforschung, Sozialstrukturentwicklung, Nord-Neukölln, Topos-Studie, Gentrifizierung, Sanierungsgebiet, Karl-Marx-Straße/Sonnenallee, Sozialstrukturveränderungen, Kreuzkölln, Reuterkiez, Schillerkiez, Mietbelastung

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