Demokratie am Katzentisch
Neue Strategien der Bürgerbeteiligung
Hermann Werle
Die großen Fleischtöpfe sind vom Katzentisch unerreichbar weit entfernt. Wer also am Katzentisch sitzt und zusehen muss, wie sich andere immer dreister den Wanst voll schlagen, während die Portionen auf dem eigenen Teller von Tag zu Tag bescheidener ausfallen, kann mit der Zeit missmutig werden. An den europäischen Katzentischen hat sich in den letzten Jahren eine Menge Wut auf die Profiteure der Euro-Krise angestaut. Um diese Wut in Deutschland gar nicht erst aufkommen zu lassen, arbeiten Denkfabriken und Praktiker an neuen Strategien der Bürgerbeteiligung. Diese „Demokratie am Katzentisch“ verfolgt das Ziel, die großen Fleischtöpfe aus dem Blickfeld geraten zu lassen.
Ende Januar formulierte Dirk Schümer im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Bedenken über die Entwicklungen in der Europäischen Union. Unter der Überschrift „Postdemokratie – Europa schafft sich ab“ lautete sein Befund, dass sich Europa in einer schweren Verfassungskrise befinde. Dafür würde ein Blick in die „Stammländer der Demokratie“, Griechenland und Italien genügen. Bei deren Regierungen handele es „sich um bloße Notstandsverwaltungen, die Reformen beschließen, Einsparungen durchsetzen, Personalentscheidungen treffen, zu denen über viele Jahre die demokratisch gewählten Regierungen der Parteien nicht fähig waren“. Es sei eine bittere Ironie, so Schümer, „wenn der griechische Finanzminister Venizelos erklärt, vor April könnten keine Wahlen stattfinden, denn vorher müsse die neue Expertenregierung noch die wichtigsten Reformen einführen. Worüber sollte das Volk, das unter Perikles die Demokratie erfand, denn abstimmen, wenn nicht über seine Schicksalsfragen?“.
„Ökonomischer Putsch“
Laut Schümer würden Staaten wie Irland, Portugal, Spanien, Italien, Slowenien und Griechenland bereits von „Kassenprüfern der Banken regiert“. Aber auch in Deutschland „beim vermeintlichen Kassenprimus“ würden die „Notverordnungen aus Brüssel über Nacht im Finanzministerium eintrudeln“, um dann „von einem überrumpelten Parlament abgesegnet zu werden“. Von diesem „ökonomischen Putsch“ müssten sich die Abgeordneten doch entwürdigt fühlen, so Schümer.
Auch Jens Beckert und Wolfgang Streeck vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung widmen sich in der Januarausgabe der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Zukunft der EU. Angesichts der „Suspendierung der parlamentarischen Demokratie in Griechenland und Italien“ würden die gegenwärtigen „Technokratien“ ihre Legitimität bald einbüßen „und eine Situation der demokratischen Unregierbarkeit“ entstehen, in der es „statt um Demokratie nur noch um die Herstellung von Ordnung geht“. Mit der sich abzeichnenden „Neuformierung des integrierten Europa als Austeritätsgemeinschaft“ würde sich die Frage stellen, „wie die zukünftige EU mit der auf absehbare Zeit zementierten Übermacht der internationalen Finanzmärkte, dem enormen wirtschaftlichen Gefälle zwischen ihren Mitgliedstaaten, der wirtschaftlichen und politischen Dominanz Deutschlands (...) sowie der Neutralisierung der nationalen Demokratie durch inter- und supranationale Institutionen, die in erster Linie den Kapitalmärkten verpflichtet sind, umgehen wird“. Einen Versuch, die seit Langem kritisierten und immer offenkundiger werdenden Demokratiedefizite der EU zu kaschieren, stellt die Europäische Bürgerinitiative dar. Diese wurde mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt und kann ab April 2012 zur Anwendung kommen. Nach Meinung des slowakischen Vizepräsidenten der EU-Kommission Maroš Šefcovic wurde damit „ein weiteres Kapitel im demokratischen Leben der EU aufgeschlagen“. Das klingt angesichts der oben beschriebenen Befunde wie Hohn, vor allem aber ist die Europäische Bürgerinitiative ein völlig ungeeignetes Mittel, wirksam an den Weichenstellungen der europäischen Politik zu rütteln. Eine Million Unterschriften – wahrlich kein Pappenstil – müssen aus mindestens sieben EU-Ländern zusammengesammelt werden, um bei der EU-Kommission vorstellig zu werden. Diese hat dann drei Monate zur Prüfung Zeit. Sieht sie keinen Handlungsbedarf, muss sie dies lediglich in einer Stellungnahme begründen, bevor die Europäische Bürgerinitiative im Papierkorb landet.
„Selektiver Partizipationsstil“
Mit der Europäischen Bürgerinitiative wird „kritische Widerstandsenergie“ in der Weise, die Thomas Wagner auf Seite 6 beschreibt, „in Bahnen gelenkt“, die für das Europa der Konzerne und die europäische Austeritätsgemeinschaft von vornherein völlig ungefährlich sind. Anderen Formen der Neutralisierung von Widerstandsenergien widmen sich verschiedene Veröffentlichungen der (inoffiziellen) Regierungsberater der Bertelsmann-Stiftung. Bezug nehmend auf die Aushöhlung der sozialstaatlichen Sicherungssysteme im Rahmen der Agenda 2010 wird in der Broschüre „Die Kunst des Reformierens“ festgehalten, dass die Regierung Schröder in den Jahren 2002/2003 den „konsensorientierten Korporatismus“ – mit den Gewerkschaften als wichtigstem Partner – aufgekündigt hätte. Mit den eingesetzten (Hartz-, Rürup-)Komm- issionen sei eine „neue Form der Partizipation von Interessengruppen, Experten und Vertretern anderer gesellschaftlicher Gruppen“ ermöglicht worden. Festzuhalten sei nach Meinung der Bertelsmann-Stiftung also, dass sich „ein geschickter Partizipationsstil“ dadurch auszeichne, dass er versuche, durch „flexible und neue Formen der Inklusion das Widerstandspotenzial großer Interessengruppen (gemeint sind die Gewerkschaften) aufzubrechen“. Dementsprechend könnten Reformen auch so konzipiert werden, „dass sie manche Interessengruppen begünstigen und andere benachteiligen, um so eine potenziell geschlossene Abwehrfront zu verhindern“. „Teile und herrsche“ ist zwar nichts Neues, wird aber als „strategisch gehandhabte Inklusion und Exklusion bestimmter Akteure“ und als „selektiver Partizipationsstil“ definiert und ist somit ein wichtiger Bestandteil der bertelsmännischen „Kunst des Reformierens“.
„Organisierte Dialoge“
Grundlage für eine möglichst widerstandsfreie Durchsetzung von Reformen oder Großprojekten sind strategische Konzepte der Kommunikation. Diese zielen darauf ab, unkontrollierten Protest von der Straße an runde Tische, Bürger- oder Dialogforen zu verlagern. „Organisierte Dialoge als Strategie“ heißt die entsprechende Publikation der Bertelsmann-Stiftung. Der Autor, Dr. Christopher Gohl vom Institut für Organisationskommunikation (IFOK), sieht in „Beteiligungsverfahren im Rahmen strategischer Steuerung“ ein Instrument, mit dem Menschen für ein bestimmtes Ziel aktiviert werden und „politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse“ gesteuert werden könnten. Etwas konkreter umreißt das IFOK das Problem: „Aus Sicht der Investoren sind die Proteste gegen geplante Projekte (Bundesstraßen, Industrieanlagen, Kraftwerke oder Landebahnen) nur schwer verständlich. (...) Ganz anders der Standpunkt der betroffenen Anlieger: Sie erleben eine tiefgreifende Veränderung ihres Umfeldes.“ So könne es zur Eskalation und zu Gerichtsprozessen kommen und selbst wenn am Ende doch gebaut werden könne, „verzögert sich das Projekt erheblich und wird meist teurer als geplant. (...) In einem moderierten Dialog lassen sich neue Wege der Zusammenarbeit zwischen den vermeintlichen Kontrahenten ausloten, sinnvolle Kompromisse finden und tragfähige Lösungen entwickeln.“ „Organisierte Dialoge“ folgen einzig dem Zweck, ein (Bau-)Projekt durchzusetzen und Zeit und Kosten zu sparen. Die Bürgerbeteiligung bedeutet also kein Mehr an Demokratie, sondern ein Weniger an Widerstand. Seine Erfahrungen mit der Organisierung von Dialogen machte Gohl unter anderem in Frankfurt, wo er den Flughafenausbau moderierend voranbringen sollte. Dieses Vorhaben kann als gescheitert gelten, der Widerstand gegen den weiteren Ausbau des Flughafens ist quicklebendig und auf der Straße. Gohl kann sich nun wieder ganz seiner Parteiarbeit widmen. Als Leiter der Abteilung für „Politische Planung, Programm und Analyse“ der FDP steht er vor großen Aufgaben, zu deren dringendsten auch organisierte Dialoge gehören dürften.
„Was du für deine Kommune tun kannst“
Strategische Konzepte sind auch bei den Sparorgien auf kommunaler Ebene gefragt. Besonders pfiffig agierte der Kämmerer von Solingen. Aus einem Katalog von 248 Sparmaßnahmen ließ Ralf Weeke einfach die Bürger abstimmen, ob sie lieber bei den Schulen, Schwimmbädern, Bibliotheken oder sonst was sparen würden (siehe auch nachfolgender Beitrag). „Üblicherweise entwickeln sich Bürgerhaushalte zu einem Wunschkonzert, doch wir haben das Verfahren zu einem Konsolidierungsinstrument umfunktioniert“, so Weeke in der Zeitung „Der neue Kämmerer“ vom Dezember 2010. Ähnlich fantasievoll und im Kämmerer vom Dezember 2011 nachzulesen, ist das Konzept der „Koproduktion“. Bürgerschaftliche Mitwirkung funktioniere beispielsweise in der Altenpflege, indem Mitwirkende ihre eingebrachten Stunden anrechnen lassen „und als Guthaben wieder in Anspruch nehmen“ könnten. Da sich die Bürger aber nicht ohne Weiteres als „Nothelfer für marode öffentliche Haushalte verstehen“, sei eine „gezielte Strategie“ gefordert, die „tatsächlich Einsparungen ermöglicht“, so der Kämmerer Florian Birk aus der Samtgemeinde Artland. Nach dem Motto: „Frage nicht, was die Kommune für dich tun kann, sondern was du für deine Kommune tun kannst“, ist auch im Bereich der Straßenreinigung, Kriminalitätsbekämpfung oder Grünflächenpflege bürgerschaftliche Mitwirkung anzuregen. Auch diese Form der Bürgerbeteiligung stellt natürlich keine Fragen bezüglich der großen Fleischtöpfe. Die verschwinden hinter propagandistischen Nebelwänden und „organisierten Dialogen“ in der Demokratie am Katzentisch.
GLOSSAR:Austerität: Austerität (engl. austerity, von lat. austeritas „Enthaltsamkeit“, „strenge Einfachheit“) ist ein Fremdwort für „Strenge“ oder „Sparsamkeit“, das vor allem in ökonomischen Zusammenhängen gebraucht wird und eine staatliche Sparpolitik bezeichnet, die durch Drosselung laufender Ausgaben im öffentlichen und privaten Bereich, sprich durch strenge Führung des öffentlichen Haushalts bei gleichzeitiger Politik der Einschränkung des Massenkonsums, in Zeiten ökonomischer Krisen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation herbeiführen soll. (Quelle: Wikipedia) |
MieterEcho 353 / März 2012
Schlüsselbegriffe: Bürgerbeteiligung, Europäische Union, Europa, Grienchenland, Austeritätsgemeinschaft, Beteiligungsverfahren, Bürgerhaushalte