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MieterEcho 356 / September 2012

Arm trotz Arbeit

Prekäre Beschäftigung nimmt im EU-Vergleich auch in Berlin immer weiter zu

Christian Linde

Die Armut bei Erwerbstätigen und Arbeitslosen hat sich in Deutschland seit den Hartz-Reformen stärker ausgebreitet als in anderen EU-Ländern. Zu diesem Ergebnis kommt die Hans-Böckler-Stiftung in einer aktuellen Studie.

 

Brüche in der Erwerbsbiografie kennzeichnen zunehmend den Charakter der Arbeitsgesellschaft. Der Abnahme von sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen, beschäftigungspolitischen Maßnahmen und Arbeitnehmerrechten steht die Ausweitung des Niedriglohnsektors, atypischer Beschäftigungsverhältnisse und der Langzeiterwerbslosigkeit – insbesondere  im wachsenden Dienstleistungsbereich – gegenüber. Selbst der öffentliche Dienst und der soziale Sektor bieten nach 20 Jahren neoliberaler Politik oft kein auskömmliches Einkommen und keinen sicheren Arbeitsplatz mehr.

 

Hauptstadt der Arbeitslosigkeit

Auch in der Hauptstadt der Erwerbslosigkeit – in Berlin – waren laut Bundesagentur für Arbeit im Juli 216.000 Personen arbeitslos gemeldet. Damit war die Arbeitslosenquote mit 12,3 % fast doppelt so hoch wie im übrigen Bundesgebiet (6,8 %). Zwar brüsten sich die Bundesregierung und der Berliner Senat mit gestiegenen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen – 1.190.800 waren es im Mai 2012 und damit 40.300 mehr als im Jahr zuvor –, das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung  bewertet jedoch in einer aktuellen Untersuchung die Lage nicht positiv: „Analysiert man die soziale Lage der Erwerbsbevölkerung, dann zeigt sich, dass die deutschen Beschäftigungserfolge mit einem hohen sozialen Preis verbunden waren.“ Der Untersuchung zufolge waren 7,1 % der Erwerbstätigen von  Arbeitsarmut betroffen. Das heißt, ihnen standen weniger als 60% des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens – das ist die gängige wissenschaftliche Armutsgrenze – zur Verfügung. In Deutschland  liegt diese Schwelle bei 940 Euro monatlich bei Alleinstehenden.

 

Immer mehr Working Poor

In Berlin müssen rund 125.000 Vollzeitbeschäftigte ihren Lohn mit Leistungen im Rahmen von Hartz IV aufstocken. Laut Bundesagentur für Arbeit beziehen insgesamt 60.000 Vollzeitarbeitnehmer/innen weniger als 1.000 Euro brutto Monatsgehalt. Zudem hat sich die Zahl der geringfügig Beschäftigten laut Senatsverwaltung für Arbeit zwischen 2006 und 2010 von 192.000 auf 215.000 erhöht. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Minijobber/innen von 141.000 auf 150.000. Laut Deutschem Gewerkschaftsbund beträgt der Anteil der sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse – also Leiharbeit, Minijobs oder Teilzeit – mittlerweile 42% und ist damit doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. In Deutschland ist im Vergleich zu 2004 der Anteil der Working Poor um 2,2% gestiegen. Damit nahm die Arbeitsarmut in Deutschland, ebenso wie in Spanien, deutlich stärker zu als in anderen EU-Staaten. Im Durchschnitt der EU wuchs die Armutsquote unter Erwerbstätigen nur um 0,2%.

 

Spitzenreiter bei Armutsquote unter Arbeitslosen

Noch weitaus drastischer stieg der Studie zufolge seit 2004 die Armutsquote unter Arbeitslosen, nämlich um 29%. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt waren es 5%. Mehr als zwei Drittel der Menschen ohne Erwerbsarbeit hatten 2009 nur ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze – 25% mehr als im Durchschnitt der 27 EU-Staaten. Die Studie stellt aufgrund der Daten fest, dass „die Entwicklung der Arbeitsarmut nicht durch wenige, isolierte Beschäftigungsformen getrieben wird, sondern gleichsam die Breite des Arbeitsmarktes erfasst hat“. Darüber hinaus programmiere Arbeitsarmut praktisch Arbeitslosenarmut vor. „Wer bereits in Beschäftigung arm war, wird es als Arbeitsloser erst recht sein.“ Sei es, weil das Einkommen so niedrig war, dass das ALG I unter der Grundsicherungsgrenze liegt. Oder weil ein prekär Beschäftigter mit unterbrochenem Erwerbsverlauf nicht lange genug am Stück beschäftigt war, um überhaupt einen Anspruch auf diese Leistung zu haben.

 


MieterEcho 356 / September 2012

Schlüsselbegriffe: Armut, Erwerbstätigen, Arbeitslosen, Prekäre Beschäftigung, Arm trotz Arbeit, EU-Vergleich, Niedriglohnsektor, neoliberale Politik, Hans-Böckler-Stiftung, Working Poor, berlin