Que se vayan todos! – Alle sollen gehen!
Wohnungsnot und neoliberale Stadtplanung in Argentinien zehn Jahre nach dem „Argentinazo“
Hermann Werle
Im Dezember 2001 jagte eine breite Bewegung innerhalb von zwei Wochen vier Präsidenten aus ihrem Amt. Argentinien erlebte mit dem „Argentinazo“ einen Aufstand auf dem Gipfel einer sich lange anbahnenden Krise. Nicht zufällig stellt der „Argentinazo“ auch für soziale Bewegungen in Europa einen wichtigen Bezugspunkt dar. Schließlich brachte die argentinische Bevölkerung mit dem unmissverständlichen „Que se vayan todos!“ deutlich zum Ausdruck, was viele Menschen in Europa auch heute auf die Straßen treibt: der völlige Vertrauensverlust in die herrschende Politik.
Das Wandbild in Buenos Aires erinnert an den Aufstand vom Dezember 2001 während der letzten großen Wirtschaftskrise in Argentinien und die lautstarken „Cacerolazos“. „Cacerolazo“nennt man in Argentinien eine Demonstration, bei der Demonstrant/innen auf mitgebrachten Töpfen und Pfannen Lärm erzeugen. Der Name kommt von „Cacerola“ (spanisch: Topf). Das Lärmen mit leeren Töpfen soll oft auch ausdrücken, dass diese leer sind und es nicht genug zu Essen gibt. Foto: Thialfi/Wikipedia
In zahllosen selbst organisierten Nachbarschaftsversammlungen wurde seinerzeit über die Zukunft Argentiniens debattiert. Viele Fabriken wurden besetzt, die zum Teil noch heute als „Fábricas sin Patrón” bestehen, als Fabriken ohne Chef und unter Selbstverwaltung durch die Arbeiter. Was der Bewegung indes nicht gelang, war die Formierung einer gemeinsamen politischen Kraft zur Durchsetzung weitergehender Veränderungen. Viele Probleme warten somit bis heute auf ihre Lösung. In den letzten Jahren ist neben der hohen Arbeitslosigkeit und dem maroden Gesundheitssystem vor allem die Frage der Wohnungsversorgung in den Mittelpunkt gerückt. Immer wieder kommt es zu Besetzungen wie im Dezember letzten Jahres in Buenos Aires, als 1.500 Familien einen Park okkupierten, oder wie im August, als in der nördlichen Provinz Jujuy Hunderte Familien mit der Forderung nach würdigen Wohnverhältnissen verschiedene Grundstücke besetzten und ihre Camps errichteten. In beiden Fällen kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und waren Tote zu beklagen. Die folgenden Beiträge berichten über die Hintergründe der Besetzungen, die akute Wohnungsnot, die desaströse Stadtplanung sowie die Politik, die der Boden- und Immobilienspekulation alle Türen öffnete. Sie beleuchten zudem die fruchtbare Zusammenarbeit und enge Kooperationen zwischen der Universität und den sozialen Bewegungen.
MieterEcho 350 / Oktober 2011
Schlüsselbegriffe: Dezember 2001, Argentinazo, Wohnungsnot, neoliberale Stadtplanung, Argentinien, Krise, Nachbarschaftsversammlungen, Wohnungsversorgung, Arbeitslosigkeit, Stadtplanung, Buenos Aires, Jujuy Hunderte, Hermann Werle