Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 348 / Januar 2038

Ein zahnloser Tiger

Milieuschutzsatzungen verfehlen in Berlin ihr Ziel

Christian Linde

 

Einen wichtigen wohnungspolitischen Baustein bildete einst der sogenannte Milieuschutz. Positive Auswirkungen im Interesse von Mieter/innen entfaltet das Steuerungsinstrument in Berlin jedoch schon lange nicht mehr. Der Milieuschutz verfehlt seine Ziele, den Folgen baulicher Aufwertung und der Verdrängung der Gebietsbevölkerung entgegenzuwirken sowie große Mietpreissteigerungen zu verhindern. Die Bezirksämter sind unterbesetzt, sodass sie auf Meldungen von Mieter/innen zu möglicherweise nicht genehmigten Modernisierungen angewiesen sind. Und weil der Senat untätig bleibt, will in Kreuzberg eine Mieterinitiative zur Selbsthilfe greifen.

 

Auch in Berlin sollen sogenannte Milieuschutzsatzungen (Erhalt der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 BauGB) zur geordneten, problem- und kostenvermeidenden städtebaulichen Entwicklung beitragen. Viele der heute noch geltenden Milieuschutzsatzungen wurden in den 90er Jahren erlassen, und sie sollen die Verdrängung der angestammten Wohnbevölkerung aus bestimmten Wohngebieten verhindern. Im Fokus stehen dabei – unter dem Aspekt der Prävention – Gebiete mit Aufwertungstendenzen und – unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit – Gebiete, die aus der Sanierung entlassen werden. Soweit die Theorie. Mit einem Urteil des Oberwaltungsgerichts (OVG) von 2004 wurde der Milieuschutz jedoch weitgehend außer Kraft gesetzt. Seitdem haben Vermieter einen Anspruch auf eine auflagenfreie Genehmigung von Modernisierungsmaßnahmen. Das Gericht stützte die Entscheidung auf einen Passus im 1998 novellierten Baugesetzbuch, wonach in Milieuschutzgebieten Baumaßnahmen grundsätzlich genehmigt werden müssen, wenn dadurch der „zeitgemäße Ausstattungszustand einer durchschnittlichen Wohnung“ hergestellt wird. Mit dem OVG-Urteil verloren auch Mietobergrenzen ihre bindende Wirkung. Die Folge für die Mieter/innen: Wie in anderen Gebieten der Stadt können die Modernisierungskosten auf den Mietpreis umgelegt werden. Milieuschutzgebiete existieren nach der „Entlassung“ der Schillerpromenade (Neukölln), dem Stephan-Kiez (Tiergarten), der Friedrich-Wilhelm-Stadt (Mitte) und dem Klausener Platz (Charlottenburg) derzeit noch in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow.

 

Erlaubt ist, was gefällt

In Pankow gibt es 10 Milieuschutzgebiete mit insgesamt 40.550 Wohneinheiten. Die mittlerweile veränderten Prüfkriterien haben die ursprünglichen Ziele des Milieuschutzes weitgehend ausgehöhlt und den Schutz der Mieter/-innen vor Verdrängung praktisch wirkungslos werden lassen. So hatte das Bezirksamt Pankow Anfang Juni 2009 die Beurteilung von Anträgen auf Rückbau, Änderung oder Nutzungsänderung baulicher Anlagen in den Erhaltungsgebieten des Bezirks neu festgelegt. Seitdem sind der Ausbau von Dachgeschossen und die Umwidmung von bestehenden Gewerbeeinheiten möglich. Die Nutzungsänderung von Wohnraum ist kein Versagungsgrund mehr, wenn es sich um unbewohnte Wohnungen im Erdgeschoss handelt, die den Anforderungen an „gesunde Wohnverhältnisse“ nicht genügen. Bei hoher Lärmbelastung durch Straßenverkehr gilt dies auch für leer stehende Wohnungen im 1. Obergeschoss der Vorderhäuser. Grundrissänderungen und die Zusammenlegung von Wohnungen sind zulässig, wenn der Einbau eines „zeitgemäßen Bads“ aufgrund der Größe der Wohnung oder der Grundrissgestaltung nicht möglich ist. Änderungen baulicher Anlagen, durch die der „zeitgemäße Ausstattungszustand einer durchschnittlichen Wohnung“ hergestellt wird und die keine Sonder- und/oder Zusatzmerkmale nach dem Mietspiegel erfüllen, sind zu genehmigen. Das gilt insbesondere für den erstmaligen Heizungseinbau inklusive Warmwasserversorgung, den Einbau eines Badezimmers einschließlich Verfliesung, die Grundausstattung mit Sanitär-, Frischwasser-, Abwasser- sowie Elektroinstallationen, Doppel- bzw. Isolierglasfenstern sowie erforderliche Schallschutzfenster, eine Antennen-, Kabelfernseh- und Gegensprechanlage, eine Wärmedämmung sowie einen Balkonanbau (Größe bis maximal 5 qm). Nicht genehmigungsfähig sind dagegen Maßnahmen, die den „zeitgemäßen“ Ausstattungsstandard überschreiten. Hierzu gehören insbesondere Grundrissänderungen (Wohnfläche über 130 qm) und wohnwerterhöhende Ausstattungen wie Badewanne mit zusätzlicher Dusche, Zweit-WC, Einbauküchen, hochwertige Fußboden- oder Deckenausstattung, Balkone, Loggien, Terrassen und Wintergärten mit mehr als 5 qm Fläche, der Ein- bzw. Anbau von Aufzügen sowie zur Wohnung gehörige Garagen oder Stellplätze.

 

„Entwicklungen nicht verhindern, nur verzögern“

Während vor der Änderung des Baugesetzbuchs beziehungsweise den Maßgaben durch das OVG sämtliche Bauabsichten genehmigt werden mussten und demzufolge Mietobergrenzen wirksam wurden, sind die bezirklichen Behörden nunmehr seit Jahren gezwungen, sämtliche Anträge ohne spürbare mietpreisdämpfenden Wirkungen quasi durchzuwinken. „Mit den verfügbaren Mitteln kann man diese Entwicklungen nicht verhindern, sondern nur verzögern“, beschreibt Evelyn Grabowski, Sachbearbeiterin für den Bereich Milieuschutzgebiete im Stadtentwicklungsamt in Pankow die Situation. Zudem gelte bei Leerstand und Neuvermietungen der Milieuschutz ohnehin nicht. Der Bezirk handelt im Rahmen öffentlich-rechtlicher Verträge im Einzelfall gegenüber den Hauseigentümern punktuelle Zugeständnisse für die Bestandsmieter/innen aus. Der Erfolg sei jedoch begrenzt. „Langfristig sind die bauliche Aufwertung und die daraus resultierenden Mietsteigerungen nicht aufzuhalten. Wir moderieren diesen Übergang nur noch“, lautet auch der Tenor in Friedrichshain-Kreuzberg. Dort gibt es insgesamt sechs Milieuschutzgebiete, das größte ist das Milieuschutzgebiet Luisenstadt, das ungefähr dem umgangssprachlich als „Kreuzberg 36“ bezeichneten Gebiet entspricht. Ende Oktober 2010 beschloss das Bezirksamt die Aufstellung einer Erhaltungssatzung für das Gebiet um die Wilms-, die Baerwaldstraße und das Carl-Herz-Ufer. „Die Wohnungen sollen für die Vermarktung als Eigentumswohnungen hergerichtet werden, wofür sich das Gebiet dank seiner stadträumlichen Lage und der guten Ausstattung mit Infrastruktureinrichtungen besonders eignet“, heißt es in der Vorlage des Bezirksamts. „Dies lässt erwarten, dass alle Merkmale verwirklicht werden sollen, die eine Wohnung für den Eigentumsmarkt attraktiv machen.“ Der Bezirk will nun mittels Verhandlungen mit den Eigentümern moderate Mietpreiserhöhungen erreichen.

 

Mieter/innen sollten nicht genehmigte Modernisierungen melden

Weil preisgünstiger Wohnraum kaum noch verfügbar ist, öffentlicher Wohnungsbau nicht mehr stattfindet und eine Zweckentfremdungsverbotsverordnung, welche die rasante Umwandlung von Miet- in Ferienwohnungen stoppen könnte, von der Landesregierung abgelehnt wird, findet Verdrängung auch aus Milieuschutzgebieten statt. Zwar heißt es in der Koalitionsvereinbarung von 2006 „Erhaltungsgebiete können geeignete städtebauliche Instrumente sein, um eine sozialverträgliche Mietenentwicklung zu sichern“, aber in die Tat wurde bislang nichts umgesetzt. Hinzu kommen sogenannte Umgehungstatbestände. Dazu gehören Baumaßnahmen, die Hauseigentümer dem Bezirksamt nicht gemeldet haben und die daher auch nicht genehmigt wurden. Über eine Zahlung eines Bußgelds hinaus bleiben Umgehungstatbestände in der Regel folgenlos. Welchen Stellenwert die Landespolitik dem Milieuschutz beimisst, darüber gibt nicht zuletzt auch die Personalausstattung in den Bezirksämtern Auskunft. Während in Friedrichshain-Kreuzberg die Abteilung Milieuschutz nur mit drei Mitarbeitern besetzt ist, verfügt der Bereich in Pankow lediglich über eine Sachbearbeiterin. Angesichts der großen Anzahl von Modernisierungen in den betreffenden Gebieten dürften die Abteilungen als unterbesetzt zu bezeichnen sein. Die Sachbearbeiter/innen sind demzufolge auf Hinweise von Mieter/innen, vor allem betreffend womöglich nicht genehmigter Modernisierungen, angewiesen. 

An Fahrt aufgenommen hat die Debatte um Milieuschutz im Zuge der Formierung von Mieterinitiativen. Im Rahmen einer Veranstaltung von „Wem gehört Kreuzberg?“ Anfang April verständigten sich die Aktivist/innen aufgrund der Tatenlosigkeit der Senats unter anderem darauf, im Bezirk demnächst einen unabhängigen „Milieuschutzbeauftragten“ zu ernennen.

 

Quelle: Bezirksamt Pankow, Stadtentwicklungsamt

Weitere Infos: www.berlin.de/ba-pankow/verwaltung/stadt/milieu.html

 

 

Quelle: Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin, Amt für Stadtplanung, Vermessung und Bauaufsicht

Weitere Infos: www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/verwaltung/org/stadterneuerung/mil_01.html

 

 

Quelle: Stadtforschungsinstitut Topos

 

 

Weitere Infos:

Ob Sie in einem Milieuschutzgebiet wohnen oder nicht, können Sie mittels des auf den Websites der Bezirksämter zur Verfügung gestellten Informationsmaterials feststellen. Eine Gesamtübersicht aller Milieuschutzgebiete finden Sie unter:

www.stadtentwicklung.berlin.de/geoinformation/fis-broker

 

 

 

Ansprechpartner/innen der Bezirksämter:

Pankow:
Frau Grabowski, Tel. 030 – 90295-3332

Friedrichshain-Kreuzberg:
Graefestraße: Frau Stark, Tel. 030 – 90298-2245
Luisenstadt: Herr Bernhardt, Tel. 030 – 90298-2243
Boxhagener Platz, Bergmannstraße-Nord, Hornstraße und Chamissoplatz:
Frau Bieleke, Tel. 030 – 90298-3024

 

MieterEcho 348 / Juli 2011


MieterEcho 348 / Januar 2038

Schlüsselbegriffe: Milieuschutz, Milieuschutzsatzungen, Mietpreissteigerungen, Modernisierung, § 172 Abs. 1 Nr. 2 BauGB, Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow, Erhaltungssatzung, Wem gehört Kreuzberg?, Mieterinitiative

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