Wohnungsnot selbst gemacht
Wie die rot-rote Regierung den zunehmenden Wohnungsmangel und Mietsteigerungen herbeigeführt hat
Joachim Oellerich
Im Januar drang als Sensation an die Öffentlichkeit, was seit Jahren allen Fachleuten bekannt war: Der Wohnungsmarkt in Berlin ist eng. Doch fachliche Kompetenz ist eines und politische Dummdreistigkeit ein anderes. „Wir haben einen entspannten Wohnungsmarkt“, halluziniert die zuständige Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) seit Jahren. Und weil ihr die Presse lange Zeit folgte, wurde es zu einem Dogma, obgleich die Wohnungssuchenden die Realität ganz anders erleben.
In der aktuellen Spätphase dieser Stadtentwicklungssenatorin wechselt die Tonlage: Die Mieten seien so niedrig wie nirgends, ist ihr neuestes Mantra. Doch der kommende Mietspiegel wird die Dame auch in dieser Hinsicht Lügen strafen. Ihren politischen Chef, den alternden Partylöwen Klaus Wowereit (SPD), ficht das nicht an. „Wowereit hält höhere Mieten für ein gutes Zeichen“, konnte die Berliner Morgenpost am 28. Januar 2011 schreiben und weiter: „Wowereit nannte es einen alten Reflex, wenn steigende Mieten als Malaise bezeichnet würden.“ Das bekennende Mitglied des Hausbesitzervereins „Haus und Grund“ Wowereit lässt sich schließlich zitieren: „Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass Berlin in vielen Bereichen teurer wird“.
Die Kostensteigerungen bei Mietwohnungen sind seit Langem bekannt, denn schließlich zeichnet sich dieser Senat durch überreiche Privatisierungsfreude und eine wohnungspolitische Abstinenz aus, die im Widerspruch zur erforderlichen Intervention in den Wohnungsmarkt stehen.
Steigende Nachfrage
Um die Entwicklung des Wohnungsmarkts richtig einschätzen zu können, müssen Nachfrage und Angebot gesondert betrachtet werden. Die Nachfrage wird einerseits bestimmt durch die Zahl der in einer Stadt lebenden Personen und deren Mietzahlungsfähigkeit, andererseits durch die Zahl der Haushalte, die sie bilden. Zwischen 2001 und 2004 veränderte sich die Bevölkerungszahl in Berlin nicht, doch seit 2004 steigt sie kontinuierlich an. Am 31. Dezember 2009 verzeichnete das Statistische Landesamt 54.747 Berliner/innen mehr als fünf Jahre zuvor.
Wohnungen werden aber nicht Einzelpersonen, sondern Haushalten zugeordnet. Deren Zahl vergrößerte sich seit 2001 um 110.200. Der Grund dafür, dass die Anzahl der Haushalte stärker ansteigt als die der Einwohner/innen, liegt in der Verkleinerung der Haushalte. Bildeten 2000 noch durchschnittlich 1,86 Personen einen Haushalt, so waren es 2008 nur noch 1,74. Die Tendenz der „Versingelung“ ist kein spezielles Berliner Phänomen. Bundesweit führt München die Liste der kleinsten Haushalte an, Hamburg liegt nach Berlin auf Platz drei.
Quelle: Wohnungsmarktberichte 1991-2000 und 2009 (www.stadtentwicklung.berlin.de oder www.ibb.de)
Sinkendes Angebot
Die Statistik weist in Berlin zwar eine ständige Zunahme von Wohnungen aus, aber diese Angaben sind schlicht und einfach falsch. Es werden dabei nämlich nur die Wohnungszugänge erfasst, die Wohnungsabgänge aber entweder gar nicht oder nur vollkommen unzureichend berücksichtigt. Fachleute aus Wohnungswirtschaft und Wissenschaft schätzen den jährlichen Wohnungsschwund durch Abriss, Zweckentfremdung usw. auf 1%. Bei einem Bestand von knapp 1,9 Millionen Wohnungen müssten in Berlin demzufolge jährlich 19.000 Wohnungen gebaut werden, um bei gleichbleibender Einwohnerzahl und Haushaltsgröße das Verhältnis von Angebot und Nachfrage konstant zu halten.
Die tatsächlichen Bauleistungen sehen aber ganz anders aus. Seit 2003 werden im Durchschnitt nur noch 3.500 Wohnungen jährlich gebaut, davon sind ca. zwei Drittel Einfamilienhäuser und der Rest jeweils zur Hälfte Eigentumswohnungen und Wohnungen des hochpreisigen Segments.
Zum Vergleich: In München (1,2 Millionen Einwohner) wurden 2009 rund 3.800 Wohnungen gebaut und in Hamburg (1,7 Millionen Einwohner) 4.200. Durch die geringe Bauleistung wird in Berlin jährlich ein Defizit von weit über 10.000 Wohnungen produziert. Dabei bleibt die steigende Nachfrage ebenso unberücksichtigt wie die Tatsache, dass das Angebot nur auf Besserverdienende und Mittelschichten ausgerichtet ist.
Fertig gestellte Wohnungen nach Teilmarktsegmenten in Berlin
Um das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Berliner Wohnungsmarkt konstant zu halten, müssten jährlich 19.000 Wohnungen neu gebaut werden. Tatsächlich aber wurden seit 2003 im Durchschnitt nur noch 3.500 Wohnungen im Jahr gebaut.
Von diesen Wohnungen sind ca. zwei Drittel Einfamilienhäuser und der Rest jeweils zur Hälfte Eigentumswohnungen und Mietwohnungen im Hochpreissegment.
Quelle: Wohnungsmarktberichte 1991-2000 und 2010 (www.stadtentwicklung.berlin.de oder www.ibb.de)
Verschärfung durch Privatisierung
Die seit Jahren sich immer weiter öffnende Schere zwischen Nachfrage und Angebot wirkt sich in besonderem Maße zulasten der „breiten Schichten“ der Berliner Bevölkerung aus. Eine Situation, die in den letzten hundert Jahren stets das Eingreifen des Staats zur Folge hatte. Doch der seit 2002 von einer rot-roten Koalition gestellte Senat ignoriert die Entwicklung nicht nur, er hat sie durch eine Privatisierungsorgie zu Beginn seiner Amtszeit sogar enorm verschärft. 1990 befanden sich ca. 480.000 Wohnungen in öffentlichem Eigentum, zur Jahrtausendwende waren es noch 400.000, und inzwischen ist der Bestand auf knapp 250.000 zusammengeschmolzen. In Frankreich wird eine Quote von 20% Sozialwohnungen in allen Städten angestrebt, in Berlin hat es die Politik geschafft, einen soliden Anteil von 26% öffentlicher Wohnungen auf 14% zu verringern.
Rolle des Tourismus
Die Berliner Wirtschaftspolitik, soweit sie überhaupt wahrnehmbar ist, orientiert auf Tourismus. Hier soll nicht diskutiert werden, ob das dem Standort nutzt oder eher schadet, die Wohnungsversorgung für die Berliner/innen leidet auf jeden Fall darunter. Das Phänomen der wachsenden Anzahl von Ferienwohnungen ist nicht nur allgemein bekannt, sondern wird von vielen täglich erlitten. In keiner deutschen Stadt werden so viele Mietwohnungen in Ferienwohnungen umgewandelt wie in Berlin. Für Junge-Reyer stellt das kein Problem dar, der wachsende Tourismus wird sogar politisch gefeiert. Mit der zunehmenden Zahl der Ferienwohnungen verringert sich der Bestand von Wohnungen. Ein ähnliches, wenn auch für Mieter/innen nicht ganz so lästiges Phänomen, stellen die Zweitwohnungen dar, die insbesondere von Bürgern aus dem skandinavischen Raum in Berlin erworben werden. Auch diese Wohnungen stehen den Berliner/innen nicht mehr zur Verfügung. Die Regierungskoalition nimmt das Phänomen noch nicht einmal wahr.
Das marktschreierische Agieren der Stadt-entwicklungssenatorin, mit dem sie Berlin als billigen Standort anpreist, in Verbindung mit dem erfolgreichen Bemühen, das Wohnungssangebot in der Stadt zu verknappen, trägt Früchte. Investoren mit höchst unterschiedlichem Grad an Seriosität aus aller Welt betrachten inzwischen den Wohnungsbestand in unserer Stadt als Schnäppchen mit lukrativer Verwertungsperspektive und handeln danach.
Richtungswechsel überfällig
Die Berliner MieterGemeinschaft unterstützt selbstverständlich alle Berliner/innen, die eine solche Entwicklung nicht mehr hinnehmen wollen und sich in Stadtteilinitiativen und Hausgemeinschaften zusammenschließen. Zurzeit ist das die einzige Möglichkeit, Druck aufzubauen, um die wohnungspolitische Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken.
MieterEcho Nr. 346 vom März 2011
Schlüsselbegriffe: Wohnungsnot, Wohnungsmangel, rot-roter Senat, Joachim Oellerich, Berliner Wohnungsmarkt, Nachfrage, Angebot, Wohnungsschwund, Neubau, Privatisierung, Ferienwohnungen, Tourismus