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Finanzpolitisches Streichkonzert

Steuersenkungen – eine gerne übersehene Ursache für die Sparwut in den öffentlichen Haushalten

Dr. Achim Truger
 

Gemessen an den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen, die die politischen Sonntagsreden seit Jahren beherrschen, sollte die deutsche Finanzpolitik ganz im Zeichen wachsender Investitionen in die Zukunft stehen. Der Bedarf in den Bereichen Bildung und Kinderbetreuung, ökologische und traditionelle Infrastruktur sowie öffentliche Beschäftigung ist unbestreitbar. Doch statt diese Aufgaben wirklich anzugehen, steht die Finanzpolitik – wie schon so oft in den vergangenen 30 Jahren – ganz im Zeichen der Haushaltskonsolidierung.

 

Dr. rer. pol. Achim Truger, geb. 1969 in Köln, war nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Köln, später wissenschaftlicher Referent für Finanz- und Steuerpolitik in der Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2005 arbeitet er im Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Stiftung.

 
Die Bundesregierung brachte zur Einhaltung der 2009 im Grundgesetz verankerten „Schuldenbremse“ ein hartes Konsolidierungsprogramm auf den Weg. Bereits 2011 sollen über 11 Milliarden Euro eingespart werden, bis 2014 über 26 Milliarden Euro. Der Schwerpunkt liegt bei Kürzungen auf der Ausgabenseite, vor allem im sozialen Bereich und bei der öffentlichen Verwaltung. In den Bundesländern sieht es nicht besser aus. Auch dort wird der Übergang zu den ab dem Jahr 2020 laut „Schuldenbremse“ notwendigerweise ausgeglichenen Haushalten eingeleitet. In einigen Ländern, in denen jetzt schon eine Notlage herrscht – darunter Berlin –, sehen die Planungen so gut wie kein Wachstum, manchmal sogar Schrumpfungen der nominalen Ausgaben bis 2020 vor. Auch die Kommunen kämpfen mit Rekorddefiziten und setzen überall den Rotstift an. Die Lage ändert sich auch durch die unerwartet kräftige konjunkturelle Erholung mit entsprechenden Steuermehreinnahmen nicht grundsätzlich. Das finanzpolitische Streichen und Kürzen geht munter weiter.
 

Öffentliche Haushalte in Deutschland extrem sparsam

Woher stammen eigentlich die hohen Defizite und damit die Sparwut in den öffentlichen Haushalten? Glaubt man einer weit verbreiteten Ansicht, hat der Staat seit Langem über seine Verhältnisse gelebt und die Ausgaben aus dem Ruder laufen lassen. Wenn wirklich eine verschwenderische Ausgabenpolitik die Ursache für die Defizite wäre, könnte man die überall praktizierte Kürzungspolitik noch nachvollziehen. Der Vorwurf ist jedoch geradezu absurd, denn ganz im Gegenteil sind die öffentlichen Haushalte seit Langem extrem sparsam. Von 1998 bis zum Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 erhöhten sich die staatlichen Ausgaben im Durchschnitt pro Jahr nominal nur um 1,4%. Real schrumpften sie sogar um 0,2%. Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit nach Japan „Vize-Weltmeister“ in sparsamer Ausgabenpolitik. In den Ländern des Euroraums stiegen die Ausgaben im gleichen Zeitraum nominal um durchschnittlich 3,9% und real waren es immerhin 1,8%.
 

Riesige Haushaltslöcher durch Steuersenkungen

Wenn die Ursache für die Defizite nicht auf der Ausgabenseite zu finden ist, muss sie offenbar auf der Einnahmenseite liegen. Zunächst könnte man an die im letzten Jahrzehnt schlechte konjunkturelle Entwicklung denken. Das ist in der Tat ein wichtiger Faktor, aber es gibt noch einen zweiten, der gern übersehen wird: Die Steuereinnahmen der öffentlichen Haushalte wurden seit dem Jahr 2000 immer wieder durch sehr kräftige Steuersenkungen verringert. Das ist kein Geheimnis, sondern wurde jeweils vom Bundesfinanzministerium ordnungsgemäß berechnet und veröffentlicht. Die abgebildeten Diagramme basieren auf den Zahlen des Finanzministeriums. Diagramm 1 ordnet die steuerreformbedingten Mindereinnahmen für die Jahre 2000 bis 2013 den jeweils verantwortlichen Bundesregierungen zu; Diagramm 2 zeigt eine Schätzung ihrer konkreten Auswirkungen auf die Finanzen des Landes Berlin.

Diagramm 1: Die steuerreformbedingten Ausfälle von 2000 bis 2013 aufgrund von Änderungen der Steuergesetzgebung seit 1998

Die Säulen repräsentieren jeweils die Maßnahmen der rot-grünen (SPD, Bündnis 90/Die Grünen), der schwarz-roten (SPD und CDU/CSU) und der schwarz-gelben (CDU/CSU und FDP) Regierungen. Die rote Säule stellt den Saldo für das jeweilige Jahr dar.

Quelle: Bundesministerium für Finanzen, eigene Berechnungen und Darstellung

Die Jahre 2001 bis 2005 stellen eine Phase drastischer Steuersenkungen durch die damalige rot-grüne Bundesregierung dar. Hier schlug die „Steuerreform 2000“ mit der schrittweisen Senkung der Einkommensteuer und einer großen Unternehmenssteuerreform zu Buche. Insgesamt lagen die Einnahmeausfälle während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders von 2001 bis 2005 zwischen 24 und 43 Milliarden Euro. Sie rissen isoliert betrachtet auch noch 2010 ein Loch von 48 Milliarden Euro in die Staatskasse. Die große Koalition schlug bis zum Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Herbst 2008 zunächst einen anderen Kurs ein: Die in den Jahren 2006 und 2007 beschlossenen steuerpolitischen Maßnahmen verbesserten die Haushaltslage erheblich, wenn auch nicht gerade auf sozial gerechte Art. Vor allem wurde 2007 die Mehrwertsteuer erhöht. Wäre es dabei geblieben, hätte die große Koalition die vorausgegangenen Steuerausfälle etwa zur Hälfte wieder ausgeglichen. Unterm Strich wären dauerhaft um die 20 Milliarden Euro geblieben. Allerdings beschloss die große Koalition in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise viele steuerpolitische Maßnahmen mit andauernder Wirkung. So wurde die Einkommensteuer in zwei Schritten um etwa 6 Milliarden Euro jährlich gesenkt, die alte Pendlerpauschale wieder eingeführt (2,5 Milliarden Euro jährlich) und das sogenannte Bürgerentlastungsgesetz, d. h. die weitgehende steuerliche Abzugsfähigkeit der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von der Einkommensteuer (ca. 9 Milliarden Euro jährlich) verabschiedet. Mehrere befristete Maßnahmen bei der Unternehmensbesteuerung schlugen ebenfalls kräftig zu Buche. Im Ergebnis sind seit 2010 die Steuermehreinnahmen der großen Koalition fast wieder aufgezehrt. Die schwarz-gelbe Koalition hat die Lage der öffentlichen Haushalte – gegen den einhelligen Rat fast aller Experten – mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz erneut erheblich verschärft. Die Einnahmeausfälle betragen jedes Jahr etwa 9 Milliarden Euro. Insgesamt belaufen sich die durch Steuerreformen bedingten Ausfälle aller drei Regierungen auf rund 50 Milliarden Euro jährlich – der Spitzenwert wird 2011 mit 55 Milliarden Euro erreicht. Zum Vergleich: In diesem Jahr ist mit einem gesamtstaatlichen Haushaltsdefizit von knapp 90 Milliarden Euro zu rechnen und im nächsten Jahr noch von gut 60 Milliarden Euro. Rein rechnerisch fiele das Defizit also in diesem Jahr um mehr als die Hälfte, im nächsten Jahr sogar über drei Viertel geringer aus, hätte es die Steuersenkungen nicht gegeben. Auch die Auswirkungen auf die Finanzen des Landes Berlin waren dramatisch (Abbildung 2): 2010 fehlten deswegen über 1,2 Milliarden Euro in der Kasse. Das Berliner Haushaltsdefizit betrug 2,8 Milliarden Euro, hätte also um über 40% geringer ausfallen können. Seit dem Jahr 2000 gingen dem Land Berlin über 8 Milliarden Euro an Einnahmen verloren. Mit diesem Geld hätten nicht nur der Schuldenstand und damit die Zinszahlungen reduziert werden können. Das Geld hätte auch in ökonomisch, sozial und ökologisch sinnvolle Projekte investiert werden können. Ein Teil der rigorosen Sparpolitik des Senats wäre den Berliner Bürger/innen erspart geblieben.

Diagramm 2: Die steuerreformbedingten Ausfälle von 2000 bis 2013 für das Land Berlin aufgrund von Änderungen der Steuergesetzgebung seit 1998

Quelle: Bundesministerium für Finanzen, eigene Berechnungen und Darstellung

Steuersenkungen sozial ungerecht und ökonomisch bestenfalls wirkungslos

Verschlimmert wird die für die öffentlichen Haushalte verheerende Bilanz der Steuersenkungen noch dadurch, dass sie den ohnehin schon bestehenden Trend der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung weiter verschärften. Zwar schlugen die Erhöhung des Kindergelds und das Schließen einiger Steuerschlupflöcher positiv zu Buche, aber durch die starke Absenkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer, die steuerliche Bevorzugung von Kapitalerträgen im Rahmen der Abgeltungsteuer, die Senkung der Erbschaftsteuer und die wiederholten kräftigen Entlastungen für die Unternehmen, wurden reiche Haushalte und Unternehmen überproportional entlastet. Die Erhöhung der Umsatzsteuer im Jahr 2007 traf dagegen gerade diejenigen mit geringen und mittleren Einkommen.

Aber darf man denn überhaupt über Steuerausfälle und die verteilungspolitische Ungleichheit lamentieren? Haben die Reformen denn nicht Wachstum und Beschäftigung angekurbelt? Immerhin war dies ihr erklärtes Ziel. Dafür sprach bereits theoretisch wenig und auch die praktischen Erfahrungen sind entmutigend. Es ist frappierend, dass die Phase großzügiger Steuersenkungen bei Einkommen- und Unternehmenssteuern von 2001 bis 2005 als Folge der Steuerreform 2000 identisch mit der langen Stagnationsphase der deutschen Wirtschaft ist, während der Aufschwung 2006 und 2007 genau in eine Phase deutlicher Steuererhöhungen fällt. Offensichtlich haben die Steuersenkungen nicht den erhofften Wachstumsschub gebracht. In Wirklichkeit waren sie sogar kontraproduktiv, denn sie führten eine drastische Sparpolitik auf der Ausgabenseite herbei. Die wiederum schwächte Wachstum und Beschäftigung empfindlich.
 

Politische Handlungsfähigkeit durch sozial gerechte Steuern sichern

Die finanzpolitischen Schlussfolgerungen liegen auf der Hand. Zunächst verbieten sich weitere Steuersenkungen von selbst. Ganz im Gegenteil: Wenn die Handlungsfähigkeit des Staates gesichert und gleichzeitig zentrale Zukunftsinvestitionen getätigt werden sollen, dann führt an Steuererhöhungen mittelfristig kein Weg vorbei. Um die Schieflage der Einkommensverteilung zu korrigieren, sollten sich die Steuererhöhungen auf einkommenstarke und vermögende Haushalte konzentrieren. Daher kämen insbesondere eine spürbare Anhebung der Einkommensteuersätze für hohe Einkommen, eine deutliche Erhöhung der Erbschaftsteuer, die Wiedereinführung der Vermögensteuer sowie die Einführung einer Finanztransaktionssteuer infrage.
 

MieterEcho Nr. 345 / Januar 2011


Schlüsselbegriffe: Steuersenkungen, Steuerreform, Rot-Grün, Schuldenbremse, Finanzpolitik, Haushaltspolitik, Unternehmenssteuer, Einkommenssteuer, Wachstumsbeschleunigungsgesetz