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Häuschen aus Streichhölzern

Mathematiker sagen, dass man anhand von Zahlen alles erklären und darstellen kann. Die Ausgestoßenen von Nowa Sól werden dies gerne bestätigen.

Maciej Wisniewski
 

Sechs. So viele Stufen führen von der Hauseingangstür in die erste Etage des Sozialen Wohnungsbaus in der Wyspianski Straße 29. Sie markieren die Grenze zwischen zwei Welten. Ich bin in vielen Räumen gewesen, in denen Armut herrscht, der Gestank einem den Atem verschlägt und es einem beim Anblick der Wände und Fußböden hochkommt. Aber so etwas habe ich noch nicht gesehen. Draußen sind es um die Null Grad Celsius, hier drinnen ebenso. Das sind keine Wände im Flur, das ist ein einziger Schimmelpilz. Das ist kein Fußboden, sondern nur nackter Beton. Keine Türen, die zu Räumen führen, sondern faulendes Sperrholz.
 

Drei Waschbecken pro Etage. Schweine fressen aus besseren Trögen. Das Wasser tropft aus undichten Wasserhähnen. Zum Glück tropft es, denn es friert nicht mehr. Als vor einiger Zeit das Thermometer in der Nacht bis zu 30 Grad minus anzeigte, fror das Wasser in den Rohren dieser Viehtränken. Von den Klos geht ein unbeschreiblicher Gestank aus. Die Leute waschen sich in Schüsseln. Zuerst die Kinder, dann die Erwachsenen. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht haben, als die Rohre zugefroren waren. Ich weiß nur, dass die Kinder in ihren Jacken geschlafen haben. Sie hatten ihre Freude daran, weil es toll ist, wenn man in der Kleidung, in der man draußen herumgelaufen ist, ins Bett gehen kann.
 

Zweiundzwanzig. So viele Jahre wohnt hier Frau Iza Kurok. Sie kennt kein anderes Leben und keinen anderen Wohnungsstandard. Man hatte ihre Mutter Janina und sie zusammen mit neun Geschwistern für die Zeit der Instandsetzung der bis dato von ihnen genutzten Sozialwohnung hierher verlegt. Sie sind nie zurückgekehrt, weil sie mit der Miete im Rückstand waren. Die Mutter war damals nicht in der Lage, die Schulden zu begleichen, obwohl sie zu jener Zeit noch Arbeit hatte. Aber für die Miete reichte es nicht. Später hat sich Polen verändert, aber es änderte sich nichts am Dahinvegetieren von Janina Kurok. Iza war damals 5 Jahre alt. Heute hat sie schon eigene Kinder. Auch sie werden hier nicht herauskommen, weil auf ihren Schultern die Schulden vorangegangener Generationen liegen. 15.000 Zloty schuldet Iza Kurok der Stadt. Andere haben Schulden in Höhe von 20.000 oder 40.000 Zloty. Die Schulden wachsen mit den Zinsen. Und es gibt keine Chance sie zurückzuzahlen, weil kein Geld da ist, weil es keine Arbeit gibt. Es gibt Sozialhilfe, die nicht einmal zum Überleben reicht, wie soll sie dann für die Miete reichen? „Soll ich den Kindern etwas zu essen kaufen oder die Miete bezahlen?“, fragt sich Iza Kurok.
 

Zweihundertsechsundsechzig Zloty und siebenundfünfzig Groszen kostet die Miete für eine 44 qm große 2-Zimmer-Wohnung in der Wyspianski Straße. In jeder Wohnung wohnen vier Menschen, manchmal mehr. Weil sie kein Geld hatten, zahlten die Kuroks die Miete nicht. Die Rückstände wuchsen, erhöhten sich um die Zinsen, weitere Kosten und Zinsen kamen hinzu, außerdem Stapel von Gerichtsakten. Am Ende entschloss sich der ZUM (Zaklad Uslug Mieszkaniowych = Dienstleistungsbetrieb für Wohnungen) dazu, den Mietvertrag der Kuroks nicht zu verlängern. Wenn es keinen Mietvertrag gibt, gibt es auch keine Mieter/innen. Wer kein Mieter ist, ist auch nicht angemeldet. Er hört auf zu existieren. Solche Nicht-Existierenden sind für den ZUM dann aber doch nicht so unsichtbar, dass man nicht Geld von ihnen nehmen könnte – zahlen müssen sie trotzdem: neue, höhere Kosten. Wie man auf die Idee gekommen ist, dass die Armen höhere Beträge zahlen könnten, obwohl sie schon kleinere nicht gezahlt haben, weiß niemand. Die Schulden summieren sich in einer Höhe, welche die Vorstellungskraft dieser Mieter/innen übersteigt. Sie versuchen nicht einmal, sich den Betrag vorzustellen. Sie stehen vor größeren Herausforderungen: Wie überlebt man, wenn die Temperatur im Zimmer unter Null fällt? Die Heizung wurde nämlich im ganzen Haus abgestellt.
 

Sechs Zeilen lang ist die Antwort des Stadtdirektors vom 17. Februar auf die Bitte dieser gequälten Menschen, man möge die Heizung anschalten (der eisige Wind erreichte in diesen Tagen eine Geschwindigkeit von bis zu 60 Stundenkilometern, man hatte Schneestürme und Schneegestöber vorhergesagt). „Das Handeln der Gemeinde entspricht den Vorschriften des Gesetzes zum Schutz der Mieter. Jede Wohnung ist mit Heizkörpern ausgestattet. Die Sammelheizung wird wieder eingeschaltet werden können, wenn die Mieter ihren Mietzahlungsverpflichtungen nachgehen werden“, hieß es in dem Schreiben. Es ist unmöglich, dass derjenige, welcher das Schreiben mit Vollmacht des Präsidenten unterzeichnete, nicht wusste, dass diese Mieter weder zu jenem Zeitpunkt noch irgendwann später in der Lage sein würden zu zahlen. In manchen Wohnungen heizten die Bewohner/innen mit Strom, dann schliefen auch zwei oder drei Familien aus anderen Wohnungen dort. Danach blickten sie auf hohe Stromrechnungen. Wenn sie Geld hatten, legten sie alle zusammen, wenn nicht, warteten sie ab, bis man ihnen den Strom abstellte. Sie kauften Heizdecken und Öfen im Supermarkt. Sie hätten ja mit Kohle geheizt, aber die bekommt man nur zugeteilt. Weil sie nicht angemeldet sind, bekamen sie auch keine Kohle. Also heizten sie mit allem Möglichen. Die Behörden haben reagiert. Beamte sind hereingestürmt, haben befohlen, die Wohnungstür aufzumachen, und alle Zimmer durchsucht. Sie haben befohlen, die Öfen abzumontieren und angekündigt, die Kaminschächte zuzumauern. Wer diejenigen zählen wird, die durch Kohlenmonoxid umkommen werden, haben sie nicht gesagt. Aber viele Bewohner haben ohnehin aufgehört zu heizen. Dort, wo es keine Wärme gibt, riecht es nach muffiger Feuchtigkeit. Ich bin in so einem Zimmer gewesen.
 

Acht bis sechzehn Mal atmet ein Mensch in einer Minute. In solchen Zimmern muss er sich bewusst sein, dass jeder Atemzug krank macht. Die Wände und die Zimmerdecke sind mit einer dicken Schimmelpilzschicht bedeckt. Auf den Schuhen und der Kleidung – Schimmel. Die Luft hier ist Gift. Herr Pawel kann nur zusehen, wie die Gelenke seiner Mutter anschwellen und sich durch das Rheuma verbiegen, wie ihre Augen tränen. Und beide husten ständig. Sie wohnen hier schon das zehnte Jahr.
 

Fünf Quadratmeter stehen einem Menschen in einer Sozialwohnung zu. Zehn Quadratmeter, wenn es ein 1-Personen-Haushalt ist.
 

Sechzig und fünfzehn Monate alt sind heute die Kinder von Frau Iza Kurok, die sie in der Wyspianski Straße geboren hat. Janina Kurok hat in diesem Loch Enkelkinder bekommen – ein Beweis dafür, dass der Mensch sich an alles gewöhnen kann. Aber nicht immer.
 

Vierzehn Tage lang lag die an Tuberkulose erkrankte Mieterin aus dem ersten Stock im Sterben. Wann die Krankheit angefangen hat, ab wann sie an offener Tuberkulose litt, ob sie jemanden angesteckt hat, weiß man nicht, weil sie sich keinen Arzt leisten konnte. Erst als sie nicht mehr aus dem Bett aufstehen konnte, hat man einen Krankenwagen gerufen, der sie ins Krankenhaus gefahren hat. Wer wird für ihren Tod bezahlen? Das weiß man nicht, sie hatte ja noch nicht einmal das Anrecht auf ärztliche Behandlung. Vielleicht wird die Stadt zahlen? Das bezweifle ich, die Stadt hat ihre eigenen Interessen, die es zu schützen gilt. Ärzte kommen nicht in die Wyspianski Straße. Ebenso wenig Mitarbeiter der Sanitärepidemiologischen Station oder die Feuerwehr. Dafür kommt die Polizei, wenn diejenigen, die lieber trinken, als nüchtern im Elend dahinzuvegetieren, nicht zurecht kommen. Das ist das einzige Einschreiten der Behörden.
 

Tausend. So viele Streichhölzer verbraucht Herr Stanislaw für den Bau eines Häuschens. Im Inneren gibt es kleine Glühbirnen. Die kleinen Häuser und Schlösser sind nicht schön, aber vielleicht macht seine Fingerfertigkeit auf jemanden Eindruck. Manchmal verkauft er eines. Ich weiß nicht, für wie viel. Es reicht, damit der Strom in seiner Wohnung in der Wroblewski Straße nicht abgeschaltet wird. Wer dort in einer Sozialwohnung wohnt, hat Glück. Ein Wandschild informiert darüber, dass das Haus mit Geldern der EU beheizt wird. Tatsächlich werden die Heizkörper lediglich in einer Temperatur gehalten, die die Rohre in diesem nach Urin riechenden Kabuff vor dem Zufrieren bewahrt. Auch dort wurde bei den meisten Bewohner/innen die Heizungsversorgung unterbrochen. Aber die Wärmedämmung tut ihr Gutes, immerhin kann man so mit der Garantie einschlafen, dass man am nächsten Morgen aufwacht. Weitere Glückliche sind die Bewohner/innen der Sozialwohnungen in der Staszic Straße 1. Im Erdgeschoss befindet sich eine Schlafstelle, und es gibt keine Heizung, die man ausschalten könnte. Aber die Stadt hat etwas gegen die Mieter/innen in der Hand: die drohende Zwangsräumung in ein Loch in der Wyspianskiego Straße. Es ist nicht ganz klar, wie man jemanden in einer Sozialwohnung räumen lassen und in eine andere zwangsverfrachten kann. Aber es liegt auf der Hand, dass es eine Art Bestrafung sein soll.
 

Vier. Aus so vielen Blättern besteht die Klage des ZUM in Nowa Sól gegen den Gerichtsvollzieher. Dieser hat sich durch einen Akt der Barmherzigkeit versündigt. Er hat an den ZUM geschrieben, „die Zwangsräumung der Paulina O. und ihrer Kinder Alan und Roksana ist nicht angezeigt im Hinblick auf das Wohnumfeld, in dem die minderjährigen Kinder leben sollen (...). Die Sozialwohnung in der Wyspianski Straße in Nowa Sól ist kein geeignetes Wohnumfeld für die gesunde Entwicklung und Erziehung der Kinder.“ Das ZUM verlangte vom Gericht, den Gerichtsvollzieher zur Vernunft zu bringen. Er maße sich an, „einen Vollstreckungsbefehl zu interpretieren, zu bewerten und zu kontrollieren“. Und das war nicht das erste Mal. Das ist ein Skandal. Meinungen über das Umfeld und das Wohl der Kinder dürfen keine Bedeutung haben. Der ZUM verlangt, man möge den Gerichtsvollzieher zur Ordnung rufen. Er soll zwangsräumen, hinauswerfen, ausquartieren!
 

Hier helfen einem Zahlen nicht mehr weiter: Wie misst man die Rücksichtslosigkeit von Menschen, die in einer Stadt mit 40.000 Bewohner/innen ein wenig Macht ergattert haben und nun meinen, diese in Über- und Untermenschen einteilen zu können? Der Stadtdirektor Wadim Tyszkiewicz hat zum Ausdruck gebracht, dass Einwohner Nowa Sóls nicht für andere Einwohner bezahlen sollen. Dies ist für ihn Grund genug, 100 Familien von allem zu trennen – vom Recht und von sozialer Hilfe. Das ist nicht nur eine Enklave der Armut, das ist ein Teufelskreis der Ohnmacht, aus dem die Menschen niemals herauskommen werden. Weil der Staat ihnen keine Chance gibt. Sie werden der Schuldenspirale nie entrinnen. Sie werden nicht arbeiten, aber nicht, weil sie nicht wollen. Und sie werden zum Gesindel. Die Mechanismen des rücksichtslosen Staates schieben sie immer weiter ab in graue und schwarze Gesellschaftsschichten. Sie werden ihre Schulden nie bezahlen. Ebenso wenig ihre Kinder. Sie werden an der Oberfläche des Lebens balancieren, bevor die Ausdünstungen der verschimmelten Wohnungen sie töten oder sie an der Schwindsucht sterben, wie es im 19. Jahrhundert nichts Außergewöhnliches war. Nicht der Stadtdirektor Tyszkiewicz ist schuld am Schwund der Sensibilität der Gesellschaft, sondern wir alle. Wir haben uns die Idiotie einreden lassen, dass Wohnungen Ware sind und kein Recht. Wer sich eine Wohnung nicht leisten kann, der ist es wert zu verrecken. Zum Teufel mit so einem Staat und so einer Denkweise.
 

Übersetzung aus dem Polnischen von Ewa Gill, redaktionelle Bearbeitung durch die MieterEcho-Redaktion.
 

Maciej Wisniewski, geb. 1976 in Leszno, studierte in Posen und Warschau Politikwissenschaften und ist in der öffentlichen Verwaltung der Region Wielkopolska und der Stadt Smigiel tätig.

Er engagiert sich für die Partei Vereinigung der Demokratischen Linken – Sojusz Lewicy Demokratycznej (SLD).

 

MieterEcho Nr. 343 / November 2010


Schlüsselbegriffe: Maciej Wisniewski, Vereinigung der Demokratischen Linken, SLD, Sojusz Lewicy Demokratycznej, Nowa Sól, Sozialwohnung, Mietrückstand, Schulden, Sozialhilfe, keine Heizung, Schimmel, Kälte, Feuchtigkeit, Rheuma, Tuberkulose, Teufelskreis, Ewa Gill