Gentrifizierung ante portas?
Kiez im Wandel: Während das verfügbare Einkommen sinkt, steigen im Neuköllner Richardkiez die Mietpreise
Christian Linde
Ist die Verdrängung von Mieter/innen auch in Neukölln auf dem Vormarsch? Folgt man der aufgeregt geführten Gentrifizierungsdebatte, lautet die Antwort schlicht: Ja. Eine Untersuchung des Stadtforschungsinstituts Topos über die Entwicklungen im Neuköllner Richardkiez kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis. Nicht Aufwertung und Verdrängung prägen die Entwicklung, sondern die Einkommenssituation und generelle Tendenzen auf dem Wohnungsmarkt. Die Bewohner/innen sind von überproportionalen Mietsteigerungen bei unterdurchschnittlichen Einkommenszuwächsen betroffen. Gleichzeitig führt eine hohe Fluktuation zu einem starken Zuzug kaufkraftschwacher Neumieter/innen.
Wenn in den zurückliegenden Jahren von Neukölln die Rede war, dann in erster Linie im Zusammenhang mit Armut und Gewalt. Von Bild bis Spiegel wurde in der Presse der Bezirk mit seinen 300.000 Einwohner/innen regelrecht heruntergeschrieben. Sogar die französischen Banlieues, also Stadtviertel, die vor allem von Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogenkonsum geprägt sind, wurden zum Vergleich herangezogen. Doch seit geraumer Zeit hat sich die Berichterstattung in den Medien geändert. Ein Image-Wandel, von der No-go-Area zum Szene-Tipp, ist in der Berliner Presse zu beobachten. Ortsteile von Neukölln sind demnach längst „hip“ – sei es als Erlebnisraum für den internationalen Touristentross, als angesagter Kiez für die „kreative Klasse“ oder als preisgünstiger Wohnort für Wohnungssuchende mit kleinerem Geldbeutel.
„Gefühlte Gentrifizierung“
Auch die Immobilienwirtschaft nutzt den Imagewandel. Waren Wohnungsangebote in Nord-Neukölln in der Vergangenheit häufig noch verschämt mit dem Zusatz „nahe Kreuzberg“ versehen, um Gedanken an das „Schmuddelimage“ zu zerstreuen, ist inzwischen „Kreuzkölln“ zu einer mietpreisstimulierenden Marke aufgestiegen. Auch die Kritiker/innen der Berliner Stadtentwicklungspolitik haben Neukölln als feste Größe in ihren Ausführungen zur „Gentrifizierung“ auf der Agenda. Doch nicht immer, wenn das Gespenst Gentrifizierung die Runde macht, handelt es sich auch tatsächlich um Gentrifizierung. Das ist eines der zentralen Ergebnisse einer Untersuchung, die das Stadtforschungsinstitut Topos im Gebiet Richardplatz-Süd in Neukölln vergangenen August durchführte. Das Quartiersmanagement-Gebiet Richardplatz-Süd liegt zwischen Richardplatz, Sonnenallee, Karl-Marx-Straße und der S-Bahn. Die Untersuchung von Topos dort ist die zweite ihrer Art. Drei Jahre, nachdem im Gebiet eine erste Befragung stattgefunden hatte, sind besonders in zwei Bereichen Veränderungen registriert worden: bei den Mieten und bei der Einkommenssituation. So haben mit durchschnittlich 13% überproportional starke Mieterhöhungen stattgefunden. Gleichzeitig sind mit 5% lediglich unterdurchschnittliche Einkommenssteigerungen zu verzeichnen. Damit hat sich die Mietbelastungsquote, also der Anteil der Wohnkosten am verfügbaren Haushaltseinkommen, von 30,3% (2007) auf 33% erhöht. So bilden sich nun auch im Neuköllner Richardkiez gesamtstädtische Phänomene hinsichtlich der Entwicklung der Einkommen und den seit Jahren zu beobachtenden Tendenzen auf dem Berliner Wohnungsmarkt ab. „Das Haushaltseinkommen hält nicht mehr Schritt mit der Mietenentwicklung“, so Sigmar Gude vom Topos-Forschungsinstitut bei der Vorstellung der Untersuchungsergebnisse Anfang September in der Richard-Grundschule. „Eine Gentrifizierung des Gebiets ist dagegen nicht zu erkennen“, betonte Gude.
Die durchschnittliche Bruttowarmmiete liegt im Gebiet Richardplatz-Süd bei jetzt bei 6,71 Euro/qm (2007: 5,59 Euro). Im Vollstandard sind es inzwischen 6,99 Euro/qm (2007: 6,19 Euro). Insbesondere kleine Wohnungen sind deutlich teurer. Während der Preis für Wohneinheiten mit einer Größe von unter 40 qm in 2007 noch 5 Euro/qm nettokalt betrug, liegt das Niveau aktuell bei durchschnittlich 6,47 Euro. Dagegen weist der Mietspiegel 5,07 Euro aus. Die Preise bei Neuvermietungen der letzten Jahre liegen über den Durchschnittsmieten. Bewohner/innen, die in den letzten drei Jahren innerhalb des Gebiets umgezogen sind, zahlen in der neuen Wohnung ebenfalls einen höheren Mietpreis.
Bewegung im Bezirk
Begünstigt wird diese Entwicklung durch verschiedene Faktoren: So ist der Untersuchung zufolge, wie in allen Berliner Innenstadtwohngebieten, eine ausgeprägte Mobilität festgestellt worden. Während knapp 30% der Befragten bereits seit mehr als 10 Jahren in ihrer Wohnung lebten, hätten mehr als die Hälfte der Haushalte ihre Wohnung erst in den letzten fünf Jahren bezogen. Insgesamt sei die durchschnittliche Wohndauer zurückgegangen und liege jetzt bei 9 Jahren (2007: 10,3 Jahre). Vor allem „deutsche“ Haushalte waren am Mobilitätsgeschehen beteiligt. Dabei handele es sich sowohl um Bewohner/innen, die aus dem Bezirk stammen, als auch um Zuzügler/innen aus den Ostberliner bzw. weiter entfernten Westberliner Bezirken. Eine besonders stark ins Auge fallende Veränderung der Sozialstruktur sei die deutliche Zunahme der Student/innen. Der Anteil der Altersgruppe der 18- bis unter 25-jährigen sei von 11,6% auf 13% gestiegen. Leicht rückläufig sei mit 38,6% (2007: 39,4%) der Anteil der Migrant/innen. Ende 2009 waren im Gebiet Richardplatz-Süd insgesamt 11.975 Personen gemeldet. Das bedeutet einen Zuwachs von 3,9% gegenüber den Vergleichsdaten von vor drei Jahren. Bei gleichzeitiger Verkleinerung der Haushaltsgrößen habe sich der Wohnungsleerstand im Vergleich zu 2007 auf nun knapp 6% nahezu halbiert. Der spürbare Zuzug habe nach den Worten des Stadtforschers Gude nicht nur zur Wohnungsverknappung, sondern auch wesentlich zu der exorbitanten Mietpreisentwicklung beigetragen.
Miete bergauf, sozial bergab
Während die Mietpreise enorm steigen, ist die soziale Situation einer großen Zahl von Bewohner/innen von finanzieller Unsicherheit und materieller Armut geprägt. Gerade einmal 60% der Haushalte verfügen über ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Ein erheblicher Teil von ihnen (6 %), muss allerdings aufgrund der geringen Bezüge zusätzliche Mittel im Rahmen von Hartz IV in Anspruch nehmen. Bei ihnen handelt es sich um so genannte Aufstocker/innen. Die Bewohner/innen von 13% der Haushalte sind Studierende oder befinden sich in einer Ausbildung. Fast ein Drittel, nämlich 27% der Befragten, ist komplett auf staatliche Unterstützung angewiesen, bezieht eine Rente oder weist „unsichere Erwerbslagen“ auf. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen im Gebiet beträgt 1.700 Euro. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 825 Euro. Das durchschnittliche Äquivalenzeinkommen, ein Wert, der sich aus dem Gesamteinkommen eines Haushalts und der Anzahl und dem Alter der von diesem Einkommen lebenden Personen ergibt, liegt mit 1.200 Euro deutlich unter dem Durchschnittswert von Berlin, der im Jahr 2008 laut Mikrozensus 1.445 Euro betrug. „Damit erreicht das Einkommensniveau des Gebiets nur ca. 80% des Berliner Durchschnitts“, so das Ergebnis der Topos-Studie. Fast jeder dritte Haushalt im Gebiet ist arm, heißt es in dem Bericht. Bei den ausländischen Haushalten ist es nahezu die Hälfte. Mit den Neubewohner/innen der letzten drei Jahre seien keine kaufkraftstarken Haushalte zugezogen. Die Zuzügler/innen seien mehrheitlich einkommensschwächer als die länger im Gebiet Wohnenden.
Quartiersbeirat fordert Bündnis
In der anschließenden Diskussion um die Perspektiven der Wohnsituation und Mietenentwicklung waren vor allem aus dem Quartiersbeirat ungewohnt kritische Töne zu vernehmen. Man dürfe die Entwicklung der Mieten „nicht einfach hinnehmen“, forderte Marion Wegner, die stellvertretende Quartiersratsvorsitzende. Sie plädierte für ein Bündnis von lokalen Akteuren, Bewohner/innen und Mieteraktivist/innen. Politisch müsse insbesondere darauf hingewirkt werden, dass eine Verringerung der zulässigen Mietsteigerungen bei Neuvermietungen durchgesetzt werde.
MieterEcho Nr. 343 / November 2010
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