MieterEcho 314/Februar 2006: Endlich ist ein "Genosse" kein Genosse mehr

MieterEcho

MieterEcho 314/Februar 2006

 GENOSSENSCHAFTEN

Endlich ist ein "Genosse" kein Genosse mehr

Klammheimlich soll die Europäische Genossenschaft durchgezogen werden

Sigurd Schulze

Brüssel, die Quelle der europäischen Liberalisierung, verfasste die Verordnung der Europäischen Union über die Europäische Genossenschaft (abgekürzt SCE = Societas Cooperativa Europaea), die neben den Genossenschaften der Mitgliedsländer eine selbständige Rechtsform bildet und die ab August 2006 gegründet werden darf. Jahrelang hat man debattiert, im Juli 2003 wurde die EU-Verordnung erlassen und nun liegt endlich der Referentenentwurf eines novellierten deutschen Genossenschaftsgesetzes vor, durch das die deutsche und die europäische Gesetzgebung harmonisiert werden sollen. Eine bloße Anpassung?

Europäische Genossenschaften (SCE) können sich in jedem Mitgliedsland niederlassen, wenn ihre Mitglieder aus mindestens zwei EU-Ländern kommen. Im Gegensatz zu deutschen Genossenschaften in der alten Form haben die SCE ein Mindestkapital von 30.000 Euro, investierende (kapitalstarke) Mitglieder sind zugelassen, Geschäftsanteile sind übertragbar (verkäuflich) und Anteilseigner können Mehrstimmrechte erhalten. Ferner sind "Sachgründungen" möglich, bei denen es nicht auf die Befriedigung von Bedürfnissen der Mitglieder wie Versorgung mit Wohnungen oder Lebensmitteln ankommt, sondern auf Produktion von Waren und Dienstleistungen, d.h. auf Verwertung des angelegten Kapitals.

Getreu dem neoliberalen Wirtschaftsmodell der Europäischen Verfassung mit ungezügeltem "freien" Wettbewerb ist nicht die genossenschaftliche Selbsthilfe Gründungsmotiv, sondern die Kapitalanlage mit entsprechender Ellenbogenfreiheit des Stärksten.

Die Bedingung, dass die Mitglieder, ganze fünf genügen, aus mindestens zwei EU-Staaten kommen müssen, macht die Expansion mittels Strohmännern zum konstituierenden Bestandteil der Genossenschaftsgründung. Es liegt in der Logik, dass der Sitz der SCE innerhalb der EU-Länder beliebig verlegt werden kann. So könnte ein westlicher Unternehmer mit 30.000 Euro in einem osteuropäischen EU-Land vier Arbeiter suchen, deren Einlage bezahlen, eine Genossenschaft gründen und sich die Stimmrechte der "Genossen" übertragen lassen. Doch diese vergleichsweise biedere Vorstellung vom kleinen Handwerksbetrieb dürfte weit übertroffen werden, wenn genügend freie Arbeitskräfte vorhanden und Löhne niedrig sind, Fördermittel und Steuervergünstigungen winken und Immobilien billig zu haben sind. Dort steht der Gründung größerer Betriebe, auch mit Lohnarbeitern, nichts im Weg.

Was bringt die Europäische Genossenschaft Neues?

Die Regeln der SCE sollen nun ins deutsche Genossenschaftsgesetz übernommen werden, um die Genossenschaften nach (bisherigem) deutschen Recht gegenüber den SCE nicht zu benachteiligen. So die Begründung des Bundesjustizministeriums. In der Praxis wird das bedeuten: Öffnung für den Kapitalzufluss, auch aus dem Ausland, größerer Einfluss kapitalstarker Mitglieder (die auch Firmen sein können) und Verteilung des Gewinns entsprechend dem Anteil am eingebrachten Kapital.

Gerade die Tendenz zur Kapitalverwertungs-Genossenschaft stieß sowohl bei Genossenschaftsmitgliedern und z. T. auch bei Vorständen auf Misstrauen und Ablehnung. So geschehen auf dem 4. Genossenschaftskongress der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wohnungswirtschaft im November 2004 (das MieterEcho berichtete in Ausgabe Nr. 308).

Nahezu einhellig ist die Meinung, die Wohnungsbaugenossenschaft als Solidargemeinschaft und Selbsthilfeorganisation zu erhalten. Denn Wohnen sei ein Grundbedürfnis der Bevölkerung, und ein Gesetz, das soziale Sicherheit biete, dürfe man nicht ändern.

An dem Entwurf wurde jahrelang gearbeitet, fertiggestellt war er erst im Oktober 2005, und im August 2006 soll das Gesetz in Kraft treten.

Eine Befragung der Genoss/innen und ihrer Vertreter wurde überhaupt nicht ins Kalkül gezogen. Zu Stellungnahmen bis zum 12.12. 2005 wurden nur Ministerien und Verbände aufgefordert. Fragt man Verbandsfunktionäre der Wohnungswirtschaft, verweisen die auf Bundesarbeitsgemeinschaften und Fachgremien. Die aber bestehen auch lediglich aus Funktionären. Einen Mechanismus zur Einbeziehung von Genossenschaftsmitgliedern gibt es nicht. Schönster Witz: Auf dem 5. Genossenschaftskongress im September stand der Referentenentwurf zwar auf der Tagesordnung, musste aber wegfallen, weil er wegen Erkrankung der Regierungsdirektorin Ute Höhfeld nicht fertig geworden war. Im Übrigen wird der Vorgang von den Ministerialen wie ein Geheimnis behandelt. Die 20 Millionen Mitglieder der unterschiedlichsten Genossenschaften in der BRD wurden gar nicht informiert. Sei es, wie es sei: die Öffentlichkeit hat einen Anspruch auf Information.

Wo liegen die Knackpunkte?

Da ist zunächst das Mindestkapital. Die SCE schreibt 30.000 Euro vor. In den bestehenden deutschen Genossenschaften muss die General- oder Vertreterversammlung beschließen, ob sie ein Mindestkapital einführt. Sie kann es auch bleiben lassen. Doch was geschieht, wenn die Banken den Vorständen solche Neuerung warm ans Herz legen? Wenn kapitalstarke Interessenten ("investierende Mitglieder") ihre Beteiligung davon abhängig machen? Genossenschaftsanteile werden zu Kapital. Nach neuem Muster dürfen Genossenschaftsanteile nur zurückgezahlt werden, solange das Mindestkapital nicht unterschritten wird. Sollte das der Fall sein, können ausscheidende Mitglieder, ihren Anspruch auf Rückerstattung ihrer Anteile verlieren.

Gelockert werden auch andere eherne Gesetze der Genossenschaft. Das Prinzip "Ein Mitglied - eine Stimme" wird durch die Möglichkeit von Mehrstimmrechten abgelöst. Insbesondere investierende Mitglieder (IM) dürfen Mehrstimmrechte erhalten. Vorerst sollen die IM zwar nicht mehr als 25% aller Stimmen haben und noch soll die Satzung sichern, dass die IM die anderen Mitglieder nicht überstimmen dürfen und dass Beschlüsse, die eine qualifizierte Mehrheit verlangen durch die IM nicht verhindert werden können. Noch dürfen IM im Aufsichtsrat nicht mehr als ein Viertel der Mitglieder stellen. Noch müssen IM durch eine qualifizierte Mehrheit der Generalversammlung zugelassen werden. Doch kapitalstarke Interessenten und ihre Anwälte werden Mittel und Wege finden, den "einfachen" Mitgliedern ihr segensreiches Wirken unentbehrlich zu machen.

Entscheidend gerüttelt wurde an den Rechten der Vertreterversammlung mit einer scheinbar harmlosen Änderung. Der Vorstand soll von der General- oder Vertreterversammlung gewählt und abberufen werden. Aber: die Satzung kann auch "eine andere Art der Bestellung und Abberufung bestimmen". D.h. das bislang alleinige Recht der General- oder Vertreterversammlung auf Abberufung des Vorstands bei schuldhaftem Verhalten könnte der Aufsichtsrat an sich ziehen. Damit wären Mitglieder oder Vertreter in großen Genossenschaften von dieser Entscheidung und der Diskussion völlig ausgeschlossen und müssten hinnehmen, was "hinter den Kulissen" zusammengeschoben wird. Das mag einer Kapitalgesellschaft frommen - dem Genossenschaftsprinzip wäre es fremd.

Demokratie und Transparenz

Der Streit um die Besetzung der Aufsichtsratsposten ist alt. Beharrlich wird den Genoss/innen eingeredet, dass eine solche Funktion Qualifikation verlangt, die bevorzugt "Experten" aus Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien, Immobilien- und Beratungsfirmen mitbringen. Auf dem Genossenschaftskongress war man anderer Meinung und die Praxis beweist immer wieder die Gefahr der Vetternwirtschaft.

Doch der Streit wird in Zukunft müßig. Durch die Hintertür der SCE und der Gesetzesnovellierung haben IM über kurz oder lang Zugang in die Genossenschaften und die Aufsichtsräte. Und wenn juristische Personen Mitglied der Genossenschaften sind (Banken, Baufirmen, Maklerbüros, Anwaltskanzleien), können deren rechtliche Vertreter, z. B. ihre Geschäftsführer, mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes in den Vorstand und in den Aufsichtsrat gewählt werden, ohne dass sie persönlich Mitglied der Genossenschaft sein müssen.

Das sind doch alles nur Kann-Bestimmungen, die man nicht übernehmen muss, behaupten die Beschwichtiger. Stimmt: Noch setzen die neuen Paragrafen im deutschen Genossenschaftsgesetz Bedingungen und schaffen sogar "Sicherheiten": Doch zum einen haben die Satzungen Gestaltungsfreiheit und zum anderen ist weitere Deregulierung aus Brüssel zu erwarten.

Für den arglosen Betrachter bringt die Novelle sogar "Verbesserungen". So soll jedes Mitglied Einsicht in zusammengefasste Prüfberichte nehmen können. Die Tagesordnungen von Vertreterversammlungen sowie deren Beschlüsse "im wesentlichen Inhalt" sind allen Mitgliedern mitzuteilen. Auf Wunsch soll jedem Mitglied ein Protokoll der Vertreterversammlung ausgehändigt werden. Das sind jedoch im Wesentlichen formale Rechte. Das Interesse an Prüfberichten und Protokollen dürfte sich in Grenzen halten.

Progressiv wirkt die Absicht, die Schwelle für die Minderheit von Mitgliedern zu senken, die die Einberufung einer General- oder Vertreterversammlung bzw. die Behandlung bestimmter Probleme fordern dürfen. Die Antragsteller sollen das Recht haben, an der Vertreterversammlung mit Rede- und Antragsrecht teilzunehmen. Jedoch ist dieses Recht nur etwas wert, wenn das Gesetz Vorstände und Aufsichtsräte verpflichtet, die Versammlung auch zuzulassen und zu finanzieren, soweit genügend Unterschriften von Antragstellern nachgewiesen wurden. Nach der jetzigen Rechtslage können die Antragsteller genötigt sein, in einer schwerfälligen Prozedur die Ermächtigung des Amtsgerichts einzuholen, die der Vorstand jedoch durch Beschwerden über zwei Instanzen wieder aushebeln kann. Gerichte erweisen sich nicht gerade als mitgliederfreundlich. Das auf diese Weise verschleppte Begehren kann leicht damit abgetan werden, die Sache habe sich durch vollendete Tatsachen erledigt. Am radikalsten sind die Autoren, wo sie den Zeitgeist bedienen. So haben sie das Wort Genosse im Gesetzesentwurf restlos getilgt, genau 94-mal. Nun muss sich ein Bankier vom Arbeiter auch nicht mehr mit Genosse anreden lassen. Das Spektrum von Genossenschaften in der BRD ist breit. Die ökonomischen Ziele und Interessen sind sehr unterschiedlich, wenn nicht gar gegensätzlich. Ohne die Aufklärung der unterschiedlichen Interessenlagen birgt die Gesetzesnovelle mehr unüberschaubare Risiken als Sicherheit.

Die Wohnungsbaugenossenschaften haben sich in der BRD vor allem durch preisgünstige Wohnungen und soziale Sicherheit bewährt. Um das Erworbene zu erhalten, braucht es keine Gesetzesänderung. Auch die Vorschläge der Expertenkommission Wohnungsgenossenschaften, berufen vom Minister Kurt Bodewig (SPD) im Jahr 2002, zu Gesetzesänderungen waren eher marginal. Das heiße Eisen der Europäischen Genossenschaften fassten die Experten einschließlich Ute Höhfeld in ihrem 700-Seiten-Bericht gar nicht an. Pikante Einzelheit: Während die Experten 2004 Mehrstimmrechte noch abschaffen wollten, führt "Referentin" Höhfeld diese mit der Novelle erst recht ein.

Stärkung der Mitgliederrechte

Welche Änderungen zur Stärkung der Rechte von Mitgliedern der Genossenschaften und ihrer Vertreter nötig sind, hat der Verfasser im MieterEcho Nr. 301 dargelegt. Sie zielen im Wesentlichen auf folgende Punkte:

Ist nun der Zug für das neue Gesetz abgefahren?

Erfahrene Genossenschaftsvorstände wie Jörg Dresdner vom Erbbauverein Moabit und Axel Viehweger vom Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften hegen seit langem Bedenken und warnen vor der Abschaffung der Genossenschaft als Selbsthilfeorganisation und Solidargemeinschaft von Arbeitern, Angestellten und Beamten. Sie fürchten die Beseitigung der Solidargemeinschaft durch Geld und schließlich den Ausverkauf ähnlich wie bei den kommunalen Wohnungsgesellschaften. Doch ihre Stimme blieb ungehört.

Ohne öffentliche Diskussion und breite Abwägung ist der Rattenschwanz von Folgen des neuen Gesetzes nicht zu überblicken. Wohl auch nicht von den Autoren, denn nichts davon findet sich in ihrer Begründung. Klar scheint nur, dass der Abbau der Rechte der einfachen Mitglieder programmiert ist. Müssen sie es schlucken oder finden sich Anwälte einer verdienstvollen sozialen Bewegung? Es müssen ja keine Genossen sein.

Zurück zum Inhalt MieterEcho Nr. 314