MieterEcho 308/Februar 2005: Genossenschaftskongress: Genossenschaftsreform kein Thema

MieterEcho

MieterEcho 308/Februar 2005

 GENOSSENSCHAFTEN

Genossenschaftsreform - kein Bedarf

Demokratisierung der Genossenschaften auf dem Genossenschaftskongress kein Thema

Dr. Sigurd Schulze

Vor einer schwierigen Aufgabe stand am 18. und 19.11.2004 Ute Höhfeld, Regierungsdirektorin im Bundesministerium der Justiz, die auf dem 4. Genossenschaftskongress die Notwendigkeit einer Novellierung des Genossenschaftsgesetzes, ja sogar eine Genossenschaftsreform zu erklären suchte. Zum Kongress ins Logenhaus Wilmersdorf hatte die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft eingeladen. Das Motto: "Genossenschaften im Umbruch - Die Wohnungswirtschaft und die Genossenschaftsreform".

Die rot-grüne Koalition hatte in ihrer Koalitionsvereinbarung die Weiterentwicklung des genossenschaftlichen Wohnens angepeilt und der SPD-Parteitag hatte im November 2003 beschlossen, die Gründung von Genossenschaften zu erleichtern und die Rahmenbedingungen für sie zu verbessern. Dennoch fand die Regierungsdirektorin in der Situation der Wohnungsgenossenschaften selbst den geringsten Änderungsbedarf. Und auch die Genossenschaftsverbände, um deren neueste Vorschläge allerdings ein Geheimnis gemacht wurde, seien an weitgehender Stabilität interessiert. Eine große Genossenschaftsreform sei also nicht geplant, nur eine kleinere Novellierung des Gesetzes von 1889/1973, durch die Genossenschaften mehr Freiräume für die Gestaltung ihrer Satzungen, d.h. ihrer inneren Verfasstheit, erhielten.

Verändertes Recht bei Europäischen Genossenschaften

Der stärkste Impuls für Veränderungen kommt aus der 2003 von der Europäischen Union verabschiedeten Verordnung über die Schaffung Europäischer Genossenschaften (SCE). Europäische Genossenschaften sollen ab 2006 gegründet werden können. Europäisches und nationales Genossenschaftsrecht wird dann nebeneinander existieren, bereits bestehende Genossenschaften werden ihre bisherigen Satzungen beibehalten, aber trotzdem werden die nationalen Strukturen aufgebrochen. Im Gegensatz zu deutschen Genossenschaften in der alten Form haben die Europäischen Genossenschaften ein Mindestkapital von 30.000 Euro, investierende (kapitalstarke) Mitglieder sind zugelassen, Geschäftsanteile sind übertragbar (verkäuflich) und Anteilseigner können Mehrfachstimmrecht erhalten. Die Verringerung der Gründungsmitglieder von sieben auf fünf soll nach den Vorstellungen der Genossenschaftsverbände auch in das deutsche Genossenschaftsgesetz übernommen werden. Ob sie sich damit einen Gefallen tun, ist allerdings fragwürdig.

Zerstörung der Genossenschaftsidee

Getreu dem neoliberalen Wirtschaftsmodell der Europäischen Verfassung mit ungezügeltem, "freiem" Wettbewerb wird nicht die genossenschaftliche Selbsthilfe beim Wohnungsbau, bei der Versorgung mit Lebensmitteln, bei der Agrarproduktion und dergleichen Gründungsmotiv sein, sondern Kapitalanlage mit entsprechender Ellenbogenfreiheit des Stärksten. Die Genossenschaftsidee wird zerfressen vom Geld der größten Anteilseigner. Die Bedingung, dass die Mitglieder aus mindestens zwei EU-Staaten kommen müssen, macht die Expansion mittels Strohmännern zum konstituierenden Bestandteil der Genossenschaftsgründung. Es liegt in der Logik, dass der Sitz einer Europäischen Genossenschaft innerhalb der EU-Länder beliebig verlegt werden kann, dahin, wo die Verwertungsbedingungen am besten sind.

So ist folgendes Szenario denkbar: Ein westlicher Unternehmer geht mit 30.000 Euro in ein osteuropäisches EU-Land, sucht vier Arbeiter, bezahlt ihre Einlage, gründet eine Genossenschaft und lässt sich die Stimmrechte der "Genossen" übertragen. Damit nutzt er Fördermittel für Firmengründung, Steuervorteile und nicht zuletzt das Lohngefälle. Noch vorteilhafter wird in einer Region eine Kette von Genossenschaften, die sich leicht managen lässt.

Gegen die Perversion des Genossenschaftsgedankens regte sich umgehend Widerspruch - mehr aus Instinkt, denn aus Kenntnis, denn die Konsequenzen blieben auch von der Referentin unausgesprochen.

"Wohnen ist ein Grundbedürfnis der Bevölkerung. Daran ist auch die Mitgliedschaft der Wohnungsgenossenschaften gebunden. Warum ein Gesetz ändern, das soziale Sicherheit bringt? Der Staat zieht sich aus der Wohnungsförderung zurück. Es soll an der großen Schraube gedreht werden, durch die die Kapitaldienstleister mehr Macht über die Genossenschaften gewinnen sollen", so Jörg Dresdner vom Erbbauverein Moabit. Die Marktwirtschaft kapitalistischer zu denken, sei keine Basis für Wohnungsgenossenschaften.

Transparenz und Machtkonzentration

Wir verstehen uns weiterhin als Selbsthilfeorganisation, dieser Charakter muss bleiben. Die Wohnungsgenossenschaft als Altbewährtes soll man erhalten. Wenn es keine wesentlichen Probleme gibt, muss man das Gesetz nicht ändern, so andere Vorstände. Man solle lieber "auf Sparflamme kochen". Entsprechend zeigte sich unverhohlenes Misstrauen gegen den Cooperative (Genossenschaft) Governance Kodex, der sich an den Corporate Governance Kodex von Kapitalgesellschaften anlehnt. Dieser soll bei deren Agieren ein Minimum an Seriosität und Transparenz sichern. Wenigstens in den Augen der Öffentlichkeit. Dem ziehen die Genossenschaften allerdings die bewährten Regeln in ihren Satzungen vor.

Auf den Punkt brachte es Ronald Meißner, Verbandsdirektor der Wohnungsgenossenschaften Sachsen-Anhalt: Von den großen Plänen ist ein Reförmchen übriggeblieben. Die Grundsätze des Genossenschaftsgesetzes haben sich bewährt, die Probleme liegen nur im Vollzug. Weniger ist mehr. Gegen diese Auffassung vermochte sich auch Jürgen Keßler, Professor an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und an der Universität Bristol, nicht durchzusetzen, der einer Öffnung des Genossenschaftsgesetzes in Richtung auf "einfachere" Leitungsstrukturen den Vorzug gab. Eine größere Kompatibilität des deutschen Genossenschaftsrechts mit internationalem Recht sieht Keßler in einer Annäherung an angelsächsisches Recht, das die Trennung und damit eine Machtteilung von Vorstand und Aufsichtsrat nicht kennt. Den ersten Ansatz dieser Liberalisierung sieht Keßler nicht von ungefähr in einer kleinen, doch entscheidenden Änderung in der Fassung des Genossenschaftsgesetzes vom Jahre 1973, die den Vorständen die Leitung der Genossenschaft in eigener Verantwortung zubilligte und damit ihre Pflicht, Beschlüsse der Generalversammlung auszuführen, ersatzlos abschaffte. Im Klartext eine entschiedene Stärkung der Macht der Vorstände und die fast vollständige Entmündigung der General- oder Vertreterversammlung.

"Nebensache" Demokratie?

Es ist dies die Realisierung eines Konzepts, nach dem das einzig Störende in der Genossenschaft die Mitglieder sind, die mit ihrem Wunsch nach bezahlbaren Mieten auf Lebenszeit die edlen Bemühungen der Vorstände um hohe Effizienz, um die Behauptung am Markt konterkarieren. Bleibt eigentlich nur noch der Ausweg, "die Regierung wählte sich ein anderes Volk" (Brecht).

Unterbelichtet blieb die Rolle des Aufsichtsrats, dessen Mitglieder von der Generalversammlung der Genossen oder von der Vertreterversammlung gewählt werden und der als Kontroll- und Aufsichtsorgan ein wichtiges Element der genossenschaftlichen Demokratie sein kann, wenn darin Leute sitzen, die sich als Beauftragte der Mitglieder verstehen. Das Problem wurde auf dem Kongress in Ansätzen sichtbar, wo gegen die These, nur Fachleute einschließlich Bankvertreter könnten im Aufsichtsrat qualifiziert entscheiden, die Meinung stand, jedes normale Mitglied könne verstehen, "was abläuft".

Trotz deutlichen Unbehagens über eine wachsende Unterordnung der Genossenschaften unter Markt- und Verwertungsbedingungen, blieb auf dem Kongress, der mit rund 40 Teilnehmern eher das Format einer größeren Expertenberatung erreichte, eine Demokratisierung der Genossenschaften als Ziel einer Reform völlig außer Betracht. Der Grundsatz "Die Mitglieder sind die Genossenschaft" schien unbekannt.

Wohin die Reise bei der hier konzipierten Reform geht, nämlich zur Stärkung des Managements, sprich der Vorstände, zeigt die Tatsache, dass in zwei Tagen Konferenz das Wort Demokratie gerade zweimal fiel. Nicht einmal vom Vorstand der Braunschweiger Baugenossenschaft, Rolf Kalleicher, der über seine nicht erfolglosen Bemühungen um dauerhafte Mitgliederbindung referierte und der dabei Ansätze von genossenschaftlicher Demokratie praktiziert. Zum Beispiel, indem beim geplanten Um- oder Neubau von Wohnungen die Mieter in einer Wochenendklausur am Grundriss und der Ausstattung der Wohnungen mitwirken können (was freilich neben dem Mitgestaltungsrecht auch ein finanzielles Polster voraussetzt). Oder indem der Vorstand in den einzelnen Quartieren, die in der Braunschweiger Genossenschaft bis zu 1000 Wohnungen umfassen, Mitgliederversammlungen abhält, in denen über genossenschaftliche und Mieterprobleme diskutiert wird. Nicht ohne Eigennutz des Vorstands, denn ehe sich Unzufriedenheit anstaut, sagt Kalleicher, lässt er sich die Leute aussprechen, auch wenn ihm das mehr Arbeit macht. Vage blieb die Rolle der gewählten Vertreter, die zwar teilnehmen, aber nicht Motor oder gar Veranstalter der Versammlungen sind. Nach Klaus Müller, Verfasser eines renommierten Gesetzeskommentars, ist es sogar Pflicht der Vertreter, sich in ihrem Wahlbezirk Kenntnis über das Willensbild der Genossen zu verschaffen und in die Vertreterversammlung einzubringen.

Die Rolle der Vertreter

Zu Vertreterwahl und Vertreterversammlung referierte Sabine Degen, Rechtsanwältin im Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen. In Genossenschaften über 1500 Mitgliedern tritt an die Stelle der Generalversammlung, an der jeder Genosse teilnehmen kann, eine Vertreterversammlung. Die Wahl der Vertreter, ihre Rechte, ihr Agieren in der Vertreterversammlung und schließlich der Einfluss der Vertreterversammlung bei Entscheidungen genossenschaftlicher Belange sind Kern und - wo sie ihre Pflichten gegenüber den Wählern ernstnehmen - Garantie der genossenschaftlichen Demokratie, sprich des Vollzugs des Willens der Mitglieder. Diesen Aspekt ließ Sabine Degen außen vor. Auch ihr kam das Wort Demokratie nicht über die Lippen.

Freilich wird genossenschaftliche Demokratie von Vorständen nicht gern gesehen. "Basisdemokratie" gar ist ein Reizwort. Grund der Zurückhaltung der Vertreter des Unternehmensverbands dürfte die Abhängigkeit der Verbände von den Beiträgen der Genossenschaften sein, über deren Zahlung die Vorstände entscheiden. Womit sich der Kreis schließt. Dabei musste Frau Degen vor drei Jahren eine Lektion des Bundesgerichtshofs entgegennehmen. Der war vom Vorstand der Ersten Wohnungsgenossenschaft Berlin-Pankow als letzte Instanz angerufen worden, weil er bestätigt haben wollte, dass drei von ihm rechtswidrig aus der Genossenschaft ausgeschlossene Vertreter nach der gerichtlichen Feststellung der Unwirksamkeit nicht wieder in ihr Vertreteramt zurückkehren dürfen - was von einem Gutachten Frau Degens untermauert worden war. Der BGH urteilte anders, weil derartige Abhängigkeit der Vertreter von Willkürentscheidungen der Vorstände deren Macht unverhältnismäßig stärken würde.

Das Kräfteverhältnis zwischen Genossen und ihren Vertretern einerseits und Aufsichtsrat und Vorstand andererseits - zweifellos ein Spannungsfeld der Demokratie in der Genossenschaft - zu Gunsten der Vorstände zu verschieben, ist unterschwellig eine der Triebfedern im Diskurs um ein neues Genossenschaftsgesetz.

Dass Demokratisierung bei der Genossenschaftsreform kein Thema ist, verwundert nicht, wenn unter den 14 Mitgliedern der Expertenkommission Wohnungsgenossenschaften, 2002 berufen vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswirtschaft, kein einziger Vertreter, kein einziges Mitglied eines Aufsichtsrats und kein einfaches Genossenschaftsmitglied ist. Die Wohnungsgenossenschaften haben 3 Mio. Mitglieder und verfügen über 2,1 Mio. Wohnungen. Angesichts wachsender sozialer Probleme, nicht zuletzt durch den von der rot-grünen Koalition betriebenen Abbau der Wohnungsbauförderung, könnte die Stärkung der Mitgliederrechte im Gesetz und im Statut, z.B. Beschwerderecht und Auskunftspflicht, innergenossenschaftliche Diskussion und Transparenz der Entscheidungsfindung, das Vertrauen zwischen Mitgliedern und Genossenschaftsorganen und damit die Stabilität der Genossenschaften fördern. Es ist ein Irrtum, auch bei Keßler, anzunehmen, die Mitglieder wollten mit ihren "egoistischen" Wünschen den Bankrott der Genossenschaft und nur ungebunden handelnde Vorstände könnten das verhindern.

Wie stark eine Demokratie ist, zeigt sich darin, wie sie ihre Minderheiten behandelt. Beispiel: Das Recht der Minderheit zur Behandlung brisanter Probleme in der General- oder Vertreterversammlung reicht bis zur Ermächtigung zur Einberufung durch das zuständige Amtsgericht. Die kann aber durch Beschwerde der Vorstände bis zur dritten Instanz ausgehebelt werden. So geschehen in einer Berliner Genossenschaft im Jahr 1997. Obwohl die Minderheit ohnehin das Risiko hat, die Mehrheit könnte ihr Anliegen ablehnen, kann so eine General- oder Vertreterversammlung verhindert oder verschleppt werden, bis sich das Problem durch vollendete Tatsachen erledigt hat (und nie wieder jemand einen Versuch macht). Genossenschaften verlieren Mitglieder und kämpfen mit wachsendem Leerstand. Mitgliederbindung durch soziale Sicherheit und demokratische Mitsprache kann dem entgegenwirken. Reformbedarf besteht. Abgehobene Experten bringen nicht die Lösung. Ein Genossenschaftskongress muss noch gewählt werden.

Im Zeitalter der wachsenden Arbeiterbewegung waren Genossenschaften für die Sozialdemokratie Keimzellen des Sozialismus. Noch sperren sie sich gegen die Öffnung für das Kapital. "Genossenschaften im Umbruch" sind als Aufbruch nicht in Sicht. Die Realität mit Rückgang der Mitgliederzahlen, Insolvenzen von Genossenschaften, Leerstand und Abriss von Genossenschaftshäusern deutet eher auf Abbruch. Ohne Aktivierung der Mitglieder ist eine Trendwende nicht zu haben.

Glossar

Cooperative: (engl.) Genossenschaft

Corporate Governance Kodex: Corporate Governance bedeutet Unternehmensleitung, beinhaltet aber vor allem die rechtliche und tatsächliche Verteilung der Aufgaben zwischen Aufsichtsrat, Vorstand und Eigentümern. Der im Februar 2002 vom Bundesjustizministerium verabschiedete Corporate Governance Kodex zielt darauf, die in der BRD geltenden Regeln für Unternehmensleitung und -überwachung für nationale wie internationale Investoren transparenter zu machen.

Hinweis:

Dr. Sigrud Schulze schrieb bereits in MieterEcho Nr. 301 über die Rolle der Vertreter und die Nachbesserung des Genossenschaftsgesetzes.
Auf der Website der Berliner MieterGemeinschaft finden Sie außerdem eine Sammlung der im MieterEcho veröffentlichten Beiträge zu Genossenschaften.

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