MieterEcho 312/Oktober 2005: Sozialer Wohnungsbau in Frankreich

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MieterEcho 312/Oktober 2005

 TITEL

Sozialer Wohnungsbau in Frankreich

Die Widersprüche hinter dem Angebot

Laurent Stourdzé*

In Frankreich hat die Sozialwohnungspolitik eine andere Bedeutung als in der Bundesrepublik Deutschland, denn ein großer Teil der Haushalte findet auf dem freien Markt kein bezahlbares Angebot. Gleichzeitig befinden sich aber einige Großsiedlungen in einem vernachlässigten Zustand und leiden unter einer starken Stigmatisierung, was sogar zu einem Abrissprogramm geführt hat.

Die sozialen Wohnungsbauunternehmen sind mit widersprüchlichen Zielsetzungen konfrontiert. Sie sollen der akuten Wohnungsnot durch Neubau entgegenwirken, veraltete Wohnungen abreißen und für ein gemischtes soziales Milieu sorgen. Hinzukommen Probleme der Umsetzung der Wohnungspolitik, an der auf den verschiedenen Ebenen die zentralstaatlichen und die lokalen Akteure sowie die Wohnungsbaugesellschaften beteiligt sind, die alle ihrer eigenen Logik folgen.

Im Jahr 2002 umfasste der gesamte Bestand des Sozialen Wohnungsbaus 4.231.000 Wohneinheiten (ursprünglich HLM = Habitations à loyer modéré, d.h. "Wohnungen mit verminderter Miete" ). Das entspricht circa 17,3% aller angemeldeten Wohnsitze. In Frankreich gibt es auf 1000 Einwohner 72 Sozialwohnungen, in der BRD hingegen nur 17. Der größte Teil der Bestände wurde zwischen 1957 und 1977 errichtet. Zu dieser Zeit sollte die durch Migration und Landflucht verstärkte Nachfrage auf ein modern ausgestattetes Wohnungsangebot treffen. Die Ergebnisse waren häufig industriell vorgefertigte Großsiedlungen am Stadtrand.

1977 sah man die Wohnungsversorgung als ausreichend an. Das Finanzierungssystem wurde von zuvor ausschließlicher Objektförderung (d.h. Wohnungsbausubventionen) zum Teil auf Subjektförderung umgestellt. Seither können Mieter/innen unter anderem Wohngeld beantragen. Diese Umstellung hat nicht nur zu einer Verringerung des Sozialen Wohnungsbaus geführt (s. Diagramm), sondern auch zu einer Überalterung des Bestands. So wurden gerade die Großsiedlungen häufig zu stigmatisierten Wohnorten.

Neubau Sozialwohnungen in Frankreich
Die Ziele der sozialen Wohnungspolitik

Das im Jahr 2000 verabschiedete Gesetz "Solidarität und Stadterneuerung" (Solidarité et Renouvellement Urbain) beabsichtigt, die städtischen Wohnbedingungen zu verbessern. Es schreibt allen Kommunen ab einer bestimmten Größe (oder wenn sie zu einem Ballungsgebiet gehören) vor, dass ein Fünftel des gesamten Wohnungsbestands Sozialwohnungen sein müssen. Dieser Anteil von 20% Sozialwohnungen soll bis 2020 erreicht werden, andernfalls ist eine jährliche Strafe zu zahlen. Bereits 2002 haben sich allerdings über 770 Kommunen geweigert Sozialwohnungen zu bauen und vorgezogen, 152 Euro Strafgebühr pro fehlende Wohneinheit zu bezahlen. Große Schwierigkeiten bereitet das Problem der räumlichen Verteilung, denn Sozialwohnungsbestände befinden sich meistens am Stadtrand, und Neubauten im Zentrum sind auf Grund des Platzmangels und der Bodenpreise nur schwer zu realisieren.

In Jahr 2003 beschloss die französische Zentralregierung, die Erneuerung der ghettoisierten Großsiedlungen zur Priorität der Wohnungspolitik zu machen. Innerhalb von fünf Jahren sollen 200.000 Sozialwohnungen abgerissen, 200.000 saniert und 200.000 neue errichtet werden. Die zentralstaatliche ANRU (Nationale Agentur für Stadterneuerung - s. Organigramm) überwacht, bewilligt und bündelt die Finanzierung dieser Maßnahmen. Die Finanzierung soll zwar immerhin ein Budget von 2,5 Mrd. Euro zwischen 2004 und 2008 erreichen, wird aber nur jährlich bewilligt.

Dieses Programm betrifft nur die Verbesserung des ghettoisierten Gebäudebestands und soll sich nicht mit der seit 2005 existierenden Förderung für Sozialwohnungsneubau außerhalb dieser Quartiere überschneiden. Diese Förderung entstand in Anbetracht des Versorgungsmangels durch das Gesetz "Sozialer Zusammenhalt" (loi d'orientation pour la cohésion sociale). Es schreibt unter anderem eine intensivierte Errichtung von Sozialwohnungen vor. So sollen zwischen 2005 und 2009 500.000 Wohneinheiten gebaut werden, also durchschnittlich 100.000 Einheiten pro Jahr, statt der durchschnittlichen 43.600 pro Jahr zwischen 1996 und 2003.

Diese doppelte Zielsetzung von Abriss und Erneuerung verlangt neben großen staatlichen Investitionen eine umfangreiche und komplexe Stadtplanung, die eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten erfordert.

Soziale Wohnungsunternehmen sind an die öffentliche Hand gebunden

Der Soziale Wohnungsbau in Frankreich wird durch eine starke Beteiligung der öffentlichen Hand reguliert. Dezentral angesiedelte Agenturen kontrollieren die Realisierung der zentralstaatlichen Ziele. Allerdings bleibt der Neubau auf der lokalen Ebene stark abhängig - einerseits von der Bewilligung der Kommune als politische Planungsinstanz, andererseits von den Möglichkeiten des Wohnungsunternehmens als letztem Glied in der Produktionskette.

Die gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen sind in Frankreich traditionell privat. Seit der 1982 initiierten Dezentralisierung sind auch verstärkt öffentliche gemeinnützige Unternehmen (OPHLM = Offices Publics HLM) entstanden. Sie werden von lokalen Verwaltungen direkt gesteuert und gehören zu einer Kommune, zu einer Gemeinde (communauté de communes, de villes ou d'agglomérations) oder zu einem Bezirk (departement).

Die Rolle von Wohnungsunternehmen geht über Bauen und Verwalten hinaus. Sie führen auch Reinigungs- und Sicherheitsmaßnahmen durch, gestalten öffentliche Räume und kümmern sich um soziale Vernetzungsarbeit. D.h., sie übernehmen Tätigkeiten, die in der BRD in die Aufgabenbereiche von Quartiers- oder Stadtteilmanagement fallen würden.

Gesetzlich verankertes Recht auf Wohnen

"Der Bau, die Planung, die Vergabe und der Betrieb von sozialen Mietwohnungen zielen auf eine Verbesserung der Wohnbedingungen von benachteiligten Personen oder Personen mit geringem Einkommen ab. Diese Maßnahmen sollen dazu beitragen, das 'Recht auf Wohnen' durchzusetzen und die nötige 'soziale Mischung' in den Städten und in den Quartieren herzustellen." (Artikel L411 des sog. Besson-Gesetzes). Im Unterschied zur BRD ist in Frankreich das Recht auf Wohnen seit 1990 gesetzlich verankert. Die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum ist eine staatliche Verpflichtung und ihre Umsetzung wird zur Aufgabe des Sozialen Wohnungsbaus, vor allem dann, wenn das Angebot unzureichend ist. Dies betrifft zuerst sozial schwächere Gruppen (geringes Einkommen, große Haushalte, Behinderte usw.) und Haushalte, die mit Wohnraum unzureichend versorgt sind (geringe Wohnungsgröße, schlechte bzw. gefährliche Wohnlage usw.). Die Kombination eines knappen Angebots und die damit verbundene Steigerung der Mietkosten hat in vielen Fällen negative gesellschaftliche Auswirkungen.

Förderkategorien abhängig vom Einkommen der Mieter/innen

In diesem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gewinnt die Belegungspolitik an Bedeutung. Die Stärkung der "sozialen Mischung" ist ein explizites Ziel sowohl hinsichtlich der Integration als auch der Nachhaltigkeit. Die Vergabe der Sozialwohnungen hängt deshalb von deren Art ab. Verschiedene Kategorien von Sozialwohnungen werden für bestimmte Einkommensgruppen errichtet, wobei die verschiedenen staatlichen Darlehen ausschlaggebend sind. Die Mietniveaus werden, je nach Förderungsart, abgestuft und teilen sich in vier Hauptkategorien.

Die erste Kategorie (genannt PLAI) erhält die stärkste Förderung und richtet sich an Haushalte mit finanziellen und sozialen Problemen. Dies betraf 30% aller französischen Haushalte in 2004. Zur zweiten Kategorie (genannt PLUS) gehören eher die "traditionellen" Sozialwohnungen. Im Jahr 2004 hatten 65,5% aller Haushalte Anspruch auf diese Wohnungen. Die zwei letzten Kategorien der Sozialwohnungen (genannt PLS und PLI) haben eine gehobene Ausstattung. Sie liegen relativ nahe am Preisniveau des freien Markts. Auf Grund höherer Mieten und anderer Bedingungen sind diese Wohnungen überwiegend nur Mieter/innen mit besseren Einkommen zugänglich.

Die Abbé Pierre Stiftung, erfahren im Kampf gegen Wohnungsnot, übt starke Kritik an diesem Programm. Erstens werden dadurch verstärkt teuere Sozialwohnungen gebaut, wobei nur die "traditionellen" Sozialwohnungen den Haushalten mit geringerem Einkommen zur Verfügung stehen. Zweitens wird die Reduzierung der "traditionellen" Sozialwohnungen durch die Zerstörung von Großsiedlungen noch verstärkt. Die Qualitätsverbesserung des Bestands geht einher mit einer Verringerung der preisgünstigsten Wohnungen und steht im krassen Gegensatz zu einer tendenziellen Verarmung der Mieterhaushalte.

Lange Wartelisten für Sozialwohnungen

Die "soziale Mischung" wird dadurch gefördert, dass die Wohnungen von einem Vergabeausschuss verteilt werden, dem neben fünf privaten oder staatlichen Mitgliedern auch ein Vertreter einer Mieterorganisation und der Bürgermeister angehören. Die Gemeinde und die Vertreter des Zentralstaats verfügen über einen reservierten Bestand für dringende Fälle.

Weil die soziale Mischung berücksichtigt werden muss, reduziert sich die quantitative Versorgung der sozial schwächeren Gruppen. Das erklärt, warum nur 45% der einkommensschwächeren Haushalte in Sozialwohnungen wohnt und die restlichen 55% sich auf dem privaten Wohnungsmarkt versorgen. Die Nachfrage nach Sozialwohnungen ist sehr groß, z.Zt. stehen fünf Mio. Haushalte auf der Warteliste. Miserable Wohnbedingungen sind häufig die einzige Alternative für ärmere Haushalte, die gezwungen sind, sich auf dem privaten Wohnungsmarkt zu versorgen. Überbelegung sowie Komfortmangel, aber auch Obdachlosigkeit, Hausbesetzungen und temporäre Unterbringungen nehmen in den Städten Frankreichs zu.

Keine Lösung für arme Haushalte

Wiederholte Hausbrände von besetzten Wohnungen haben eine akute Debatte über die schlechte Wohnraumversorgung in Großstädten ausgelöst. Zweifellos leidet der soziale Wohnungsbau in Frankreich unter seinem negativen Image. Aber die einkommensschwachen Gruppen leiden stärker unter dem Mangel an geeigneten Sozialwohnungen. Dieses Problem wird sich auf Grund der Bemühungen um einen höheren Standard bei den Neubauten womöglich in Zukunft sogar noch verschärfen.

Organigramm

Soziale Wohnungspolitik: Gesetze

  • 1990 "Besson-Gesetz" (Code Construction et de l'Habitation): Recht auf Wohnraum wird garantiert.

  • 1991 "Orientierungsgesetz für Städte" (LOV - Loi d'orientation pour la ville): Kommunen sollen sozialen Zusammenhalt fördern und soziale Spaltung verhindern.

  • 2000 "Solidarität und Stadterneuerung" (SRU - Solidarité et Renouvellement Urbain): 20% des kommunalen Wohnungsbestands sollen Sozialwohnungen sein.

  • 2005 "Sozialer Zusammenhalt" (Loi d'orientation pour la cohésion sociale): Neubau von Sozialwohnungen soll verstärkt werden.

Über den Sozialen Wohnungsbau in Paris berichtete das MieterEcho in Nr. 302: "Zentrum und Vorstädte, Vielfältige Probleme des sozialen Wohnungsbaus in Paris"

Laurent Stourdzé

Laurent Stourdzé, geb. 1978 in Beauvais (Frankreich), schloss sein Studium der Stadtplanung in Paris am Institut Francais d’Urbanisme (IFU) ab. Seit 2002 lebt er in Berlin und bereitet sein Ingenieurdiplom am Institut für Stadtund Regionalplanung (ISR) der TU Berlin vor. Seine Forschungsschwerpunkte sind benachteilige Stadtteile in Bezug auf Stadterneuerungsprogramme, Sozialer Wohnungsbau und Bürgerbeteiligung, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich.

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