MieterEcho 309/April 2005: 2. Armuts- und Reichtumsbericht

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MieterEcho 309/April 2005

 SOZIALES

Weitere Umverteilung von unten nach oben

Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liegt vor

Christian Linde

Die Bundesregierung hat den 2. Armuts- und Reichtumsbericht* vorgelegt. Das Fazit: Deutschland ist ein reiches Land. Das Vermögen aller Haushalte liegt im Durchschnitt bei 133.000 Euro. Allerdings sind die Privatvermögen nicht nur sehr ungleichmäßig verteilt, sondern die Kluft zwischen Armen und Reichen hat unter der Schröder-Regierung weiter zugenommen.

Gehörten bereits 1998 gerade einmal 3,9% des gesamten Nettovermögens der ärmeren Hälfte der Bevölkerung, reduzierte sich die Quote 2002 auf 3,8%. Dagegen stieg der Anteil des reichsten Zehntels der Bevölkerung von 44,4% auf 46,8%. Die Vermögen der privaten Haushalte sind in der Vergangenheit stetig gewachsen und haben 2003 eine Summe von 5 Billionen Euro erreicht. Für die Jahre 1998 bis 2003 entspricht dies einer nominalen Steigerung des Nettovermögens um rund 17%. Dominiert wird die Vermögenshöhe und -verteilung durch die Immobilienwerte, die rund 75% des Gesamtvermögens ausmachen. Im obersten Zehntel besitzt praktisch jeder Haushalt Grundvermögen, im untersten Zehntel nur rund 6%. Auch sind die geschätzten Immobilienwerte bei den Haushalten im obersten Zehntel durchschnittlich über zehnmal so hoch wie bei denen im untersten Zehntel.

Jeder siebte von Armut betroffen

Im eklatanten Gegensatz dazu steht der massive Anstieg der Armut und des Armutsrisikos in Deutschland. Laut Bericht leben 11 Mio. Menschen an oder unterhalb der Armutsgrenze. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung stieg im Erhebungszeitraum von 12,1% auf 13,5%. Für die Ermittlung der Armutsrisikoquote hat das Sozialministerium die Personen herangezogen, die über weniger als 60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens in den entwickelten Industrieländern verfügen. Die so errechnete "Armutsrisikogrenze" liegt bei 938 Euro netto pro Monat. Die Bundesregierung behauptet, dass ein erhöhtes Armutsrisiko in der Mehrzahl der Fälle kein permanenter Zustand sei. Im Zeitraum von 1998 bis 2003 waren nach einem Jahr etwa ein Drittel der Phasen unterhalb der Armutsrisikogrenze für die Betroffenen abgeschlossen oder unterbrochen und nach zwei Jahren etwa zwei Drittel. Allerdings ergibt sich aus dem Bericht, dass trotz der Fluktuation zunehmend von einer Armutsfestigkeit ausgegangen werden muss.

Armut ist weiblich

Von Armut betroffen sind vor allem Frauen, Kinder, Familien und Migranten. Dabei bilden die allein erziehenden Mütter mit 35,4% die Gruppe, die am häufigsten von Einkommensarmut betroffen ist. Ende 2003 waren rund 97% der allein Erziehenden in der Sozialhilfe Frauen. Die Chancen auf Reintegration in den Arbeitsmarkt sind auf Grund des Mangels an Krippenplätzen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen nahezu aussichtslos. Bei der Kinderbetreuung für unter Dreijährige fällt Deutschland mit einer Quote von 8,6% im Vergleich zu Schweden, Dänemark oder Frankreich weit zurück. Kinder unter 18 Jahren, die nur bei einem Elternteil aufwachsen oder deren Eltern beide arbeitslos sind, stellten bis Ende letzten Jahres mit 1,1 Mio. die größte Gruppe der Sozialhilfebeziehenden. Bei Familien mit zwei Kindern ist die Einkommensarmut von 12,6% auf 13,9% gestiegen.

Faktor Migrationshintergrund

Das höhere Risiko ausländischer Haushalte, auf Sozialleistungen angewiesen zu sein, sei vor allem auf höhere Erwerbslosigkeit infolge geringerer Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung zurückzuführen. Kinder ausländischer Herkunft wiesen schlechtere Bildungsabschlüsse auf und hätten damit ungünstigere Startchancen am Ausbildungsmarkt als Deutsche. Diese Defizite seien - neben mangelnden Sprachkenntnissen - die Ursache für ein besonderes Arbeitsmarktrisiko von Migrant/innen. So lag im Jahr 2003 der Anteil der ausländischen Arbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung bei 72,5% aller ausländischen Arbeitslosen, der entsprechende Anteil der Deutschen lag bei "nur" 28,9%. Die Arbeitslosenquote der Migrant/innen war mit 20,4% (2004) weiterhin deutlich höher als die der Gesamtbevölkerung (11,7%). Insgesamt ist das Armutsrisiko von Personen mit Migrationshintergrund zwischen 1998 und 2003 von 19,6% auf 24% gestiegen und liegt damit weiterhin deutlich über der Armutsrisikoquote der Gesamtbevölkerung.

Geringeres Armutsrisiko bei Rentnern

Die einzige Bevölkerungsgruppe, bei der das Risiko zu verarmen gesunken sei, sind laut Erhebung die Rentner. Bei älteren Menschen über 65 Jahre ist das Risiko der Einkommensarmut seit 1998 von 13,3% auf 11,4% gesunken. Auch der Anteil der Älteren mit Sozialhilfebezug sei mit 1,3% zu 3,3% der Gesamtbevölkerung "unterdurchschnittlich".

Hauptursache Arbeitslosigkeit und soziale Herkunft

Als Grund für die Entwicklung nennt die Bundesregierung die Wachstumsschwäche der Wirtschaft und die steigende Arbeitslosigkeit. Dabei führten unzureichende Ausbildung, fehlende Bildungsabschlüsse und ein damit einhergehender erschwerter Zugang zu Erwerbstätigkeit zu einer "Manifestierung der Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt". Die Wahrscheinlichkeit, durch den Verlust des Arbeitsplatzes in Armut zu geraten, trifft inzwischen nahezu jeden Zweiten. So lag die Armutsrisikoquote von Arbeitslosen im Jahre 2003 bei 40,9%. In Haushalten mit nur einem Teilerwerbstätigen betrug sie noch rund 30%.

Der Zugang zu höherwertigen Schul-, Ausbildungs- und Berufsabschlüssen und zum Studium wird nach wie vor durch Herkunft, Bildungsstand und berufliche Stellung der Eltern bestimmt. Die Chancen eines Kindes aus einem Elternhaus mit hohem sozialen Status, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, sind rund 2,7-mal so hoch wie die eines Facharbeiterkindes. Die Chance, ein Studium aufzunehmen, ist sogar um das 7,4-fache höher als die eines Kindes aus einem Elternhaus mit niedrigem sozialen Status. Allein im Jahr 2003 blieben 14,9% der 20- bis 29-Jährigen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Überproportional und mit steigender Tendenz (ca. 36%) sind darunter Jugendliche ausländischer Herkunft vertreten.

Überschuldung greift um sich

Wie real die Gefahr ist, in die Armutsspirale abzurutschen, verdeutlichen die Zahlen über die Schuldenentwicklung der privaten Haushalte. Laut Klientenstatistik der Schuldnerberatungsstellen war "Überschuldung schwerpunktmäßig ein Phänomen des mittleren Lebensalters, auffällig waren ferner eher niedrige Bildungsabschlüsse und oft mangelnde berufliche Qualifikation." Von Überschuldung betroffen sind auf den ersten Blick zwar vorrangig "marginalisierte Bevölkerungsgruppen", Überschuldung erreicht jedoch vor allem in der alten Bundesrepublik zunehmend auch den Mittelstand. So bildete im früheren Bundesgebiet das eigene Erwerbseinkommen bei 47% der Beratenen die Haupteinkommensquelle, während es in den neuen Ländern bei 43% Arbeitslosengeld bzw. -hilfe waren. Zwischen 1999 und 2002 hat sich die Gesamtzahl der überschuldeten Privathaushalte um 13% von 2,77 Mio. auf 3,13 Mio. Haushalte erhöht. Bezogen auf alle 38,7 Mio. privaten Haushalte in Deutschland waren im Jahr 2002 insgesamt 8,1% (früheres Bundesgebiet: 7,2%; neue Länder: 11,3%) von Überschuldung betroffen. In den neuen Ländern hatten 52% der Beratenen Schulden unter 10.000 Euro, im früheren Bundesgebiet waren es 22%. Dagegen standen in den neuen Ländern 15%, im früheren Bundesgebiet aber 25% mit über 50.000 Euro in der Kreide. Eine Befragung des Instituts für Jugendforschung kam im Jahr 2003 zu dem Ergebnis, dass in der Altersgruppe der 13- bis 17-Jährigen bereits 6% verschuldet sind. Trotz eines von der Bundesregierung behaupteten "entspannten Wohnungsmarkts" ist auch die Miete weiterhin ein Armutsrisiko. Rund 10% aller Haushalte waren auf Unterstützungszahlungen angewiesen.

Eine Überschuldung liegt vor, wenn Einkommen und Vermögen eines Haushaltes über einen längeren Zeitraum trotz Reduzierung des Lebensstandards nicht ausreichen, um fällige Forderungen zu begleichen. Hauptauslöser für den Wechsel von der Verschuldung in die Überschuldung sind Arbeitslosigkeit und dauerhaftes Niedrigeinkommen sowie Trennung bzw. Scheidung und gescheiterte Selbstständigkeit.

Verschämte und extreme Armut

Nicht jeder, der berechtigt ist, nimmt die Leistungen des Staats auch in Anspruch. Forschungsergebnissen zufolge kamen auf drei Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt zwei weitere potenziell Berechtigte. Mögliche Ursachen für die Nicht-Inanspruchnahme seien Informationsdefizite, Stigmatisierungsängste und mögliche Rückgriffe auf Verwandte sowie ein fehlendes Bewusstsein der Betroffenen, sich objektiv in einer Notlage zu befinden. Überdurchschnittliche Quoten zeigen sich dabei bei den allein stehenden Frauen ab 60 Jahren.

Prägend für die Situation von Menschen in "extremer Armut" sei, dass sie zur Bewältigung ihrer Krisensituationen durch die Hilfeangebote des Staats nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr erreicht würden. Dies betrifft vor allem die Gruppe der Wohnungslosen, wobei zwischen 1998 und 2003 die Zahl der Wohnungslosen von 530.000 auf 310.000 spürbar zurückgegangen ist (um 42%). Dabei lag der Anteil von Frauen nach letzten Schätzungen im Jahr 2002 bei ca. 23% (75.000 Personen) und der Anteil der Kinder und Jugendlichen bei ca. 22% (72.000 Personen).

Armut macht krank

Obwohl Deutschland über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt verfügt, weist der Gesundheitssurvey 2003 einen schlechteren Gesundheitszustand insbesondere bei Erwachsenen im mittleren Lebensalter mit einem Einkommen unter der Armutsrisikogrenze aus. Im Vergleich zur einkommensstärkeren Bevölkerung leiden Arme vermehrt an Krankheiten oder Gesundheitsstörungen (42,1% gegenüber 36,7%), berichten häufiger von starken gesundheitsbedingten Einschränkungen im Alltag (10,5% gegenüber 8,2%) und beurteilen ihren eigenen Gesundheitszustand öfter als schlecht oder sehr schlecht (10,2% gegenüber 5%).

Auch hier lockt die Armutsfalle. Denn gesundheitlich eingeschränkte und erwerbsgeminderte Arbeitnehmer tragen ein höheres Risiko entlassen zu werden, bleiben überdurchschnittlich lange arbeitslos und haben geringere Chancen der beruflichen Wiedereingliederung. "Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung für die ökonomischen und sozialen Teilhabechancen des Einzelnen. Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist daher auch in der Gesundheitspolitik von entscheidender Wichtigkeit", mahnen die Berichterstatter. "Die Zahlen zeigen aber auch, dass der Sozialstaat und unsere sozialen Sicherungssysteme funktionieren. Deutschland hat im internationalen Vergleich mit das niedrigste Armutsrisiko", erklärte Franz Thönnes, Parlamentarischer Staatssekretär im Sozialministerium bei der Vorstellung des Berichts. Und Thönnes weiter: "Chancengerechtigkeit und Möglichkeiten der Teilhabe entscheiden über die Zukunftsaussichten."

Bedenkt man, dass die Untersuchung über die "Lebenslagen in Deutschland" weder die Auswirkungen von Hartz IV für Erwerbsfähige, noch die für die kommenden Jahre angekündigten "Nullrunden" für Rentner und auch nicht die grassierende Entwicklung des Billiglohnsektors einschließen, dürften die Ergebnisse des für 2008 zu erwartenden dritten "Armuts- und Reichtumsberichts" bereits heute programmiert sein.

Infos im Internet

Den 2. Armuts- und Reichtumsbericht gibt es als PDF im Internet unter http://www.bmgs.bund.de oder unter http://www.sozialpolitik-aktuell.de

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