MieterEcho 309/April 2005: Sozialer Wohnungsbau in Europa

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MieterEcho 309/April 2005

 TITEL

Rückzug des Staats liegt im Trend

Sozialer Wohnungsbau im europäischen Vergleich

Andrej Holm

Das Land Berlin hat in den vergangenen Jahren die Finanzierungshilfen für den geförderten Wohnungsneubau und auch die Aufwendungszuschüsse für die in der Vergangenheit errichteten Wohnungen im Sozialen Wohnungsbau gestrichen. Der Rückzug aus der Wohnungspolitik wird sowohl mit der prekären Haushaltslage als auch mit dem angeblich entspannten Wohnungsmarkt begründet. Was zunächst wie eine lokale Besonderheit erscheint, ist jedoch ein internationaler Trend. Denn ähnliche Entwicklungen zeigen sich auch in anderen EU-Ländern. Formal immer noch eine staatliche oder regionale Angelegenheit, unterliegt Wohnungspolitik längst gesamteuropäischen Entwicklungen.

In fast allen Ländern der EU ist in den 1980er oder spätestens 1990er Jahren eine Reduzierung des Sozialen Wohnungsbaus festzustellen. Prozesse einer massiven Verringerung fanden vor allem in Großbritannien, Deutschland sowie den Transformationsländern wie etwa Polen oder Ungarn statt. Es gibt verschiedene Formen der Privatisierung: Erstens werden Wohnungen der sozial gebundenen Bestände im Rahmen vom so genannten "Recht auf Erwerb/Right to Buy1" (Großbritannien, Polen) an die Bewohner/innen übertragen oder verkauft, zweitens werden kommunale und anderer öffentliche Bestände in private Wohnungsbaugesellschaften (Niederlande, Schweden) überführt und drittens wird die privatwirtschaftliche Wohnungsversorgung durch die Einstellung bzw. Kürzung der Förderprogramme (Deutschland oder Österreich) gestärkt.

Anfänge in den 1970er Jahren

Diese Privatisierungstendenzen setzen sich zwar aktuell fort, ihre Anfänge liegen jedoch schon Jahre zurück. In Großbritannien wird bereits seit der Ära Thatcher versucht, die verbliebenen Wohnungen der kommunalen Bestände ("Council Housing") an private Wohnungsverwaltungen abzugeben. In den Niederlanden wurde bereits 1977 der Übergang zu "mehr Selbstverantwortung" und "Marktautonomie" in der Wohnungsversorgung eingeläutet. Dieser Trendwechsel schloss auch die Möglichkeit des Verkaufs von Sozialwohnungen mit ein. Doch erst Anfang der 1990er Jahre wurden - unter der Ägide einer sozialdemokratischen Regierung - die Einschnitte tatsächlich umgesetzt. Bis 1997 wurde jegliches kommunales Wohneigentum an die gemeinnützig orientierten Wohnbauvereine übertragen. Auch in Polen gehen die ersten Privatisierungstendenzen auf die 1970er Jahre zurück. Damals wurde ein Ankaufsrecht für Mieter/innen von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen ermöglicht und es entwickelte sich ein für staatssozialistische Verhältnisse ungewöhnlicher Wohnungsmarktsektor. Bis 1988 gab es landesweit bereits über 40 Maklerfirmen, die mit der Vermittlung und dem Verkauf von Wohnungen beschäftigt waren. Nach der politischen Wende 1990 wurden insbesondere die staatlichen und kommunalen Bestände (weitgehend direkt an die Mieter/innen) privatisiert. Im europäischen Vergleich hat Polen mit 0,3% einen der geringsten Anteile des Sozialen Wohnungsbaus am Gesamtwohnungsbestand. In Schweden setzte die Privatisierung der Bestände erst nach der Jahrtausendwende ein. Im Jahr 2002 wurde eine am Bauministerium angegliederte Regierungsbehörde ("National Board for Municipal Housing Support") geschaffen, die die Überführung der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften in marktfähige (jedoch nicht gewinnorientierte) Unternehmen begleiten soll.

Rückgang der Förderung

In Deutschland schlägt vor allem die weitgehende Einstellung von Fördergeldern für Neubauten des Sozialen Wohnungsbaus zu Buche. Dadurch können die nach der Beendigung der Förderzeiträume von den Mietpreis- und Belegungsbindungen "befreiten" Wohnungen nicht durch neue Soziale Wohnungsbaubestände ersetzt werden. Der Anteil des Sozialwohnungsbestands verringert sich so jährlich um etwa 100.000 Wohnungen. Zudem wurden tausende Wohnungen von kommunalen Gesellschaften an private Unternehmen verkauft. Der Anteil des Sozialen Wohnungsbaus am gesamten Wohnungsbestand in Deutschland hat sich von 1987 (20%) bis 2002 (6%) um etwa drei Viertel verringert. Deutschland liegt mit diesem geringen Anteil deutlich hinter dem Durchschnitt von 15% der untersuchten Länder (siehe Tabelle). Nur Spanien und Polen weisen in diesem Rahmen noch schlechtere Quoten auf. Zumindest statistisch ist Deutschland damit ein wohnungspolitisches Entwicklungsland.

Struktur der Wohnungsmärkte in Europa 2002 (in Prozent am jeweiligen Gesamtbestand)

Die höchsten Anteile weisen die Niederlande auf (35%), gefolgt von Großbritannien, Schweden und Österreich, bei denen der Anteil jeweils bei etwa 20% liegt. In diesen vier Ländern gelten jeweils mehr als die Hälfte aller Mietwohnungen als Bestände des Sozialen Wohnungsbaus.

Als eine weitere gemeinsame Tendenz der europäischen Wohnungspolitik ist die Dezentralisierung der wesentlichen öffentlichen Träger der Wohnungsversorgung festzustellen. Sowohl auf der Ebene der Hausverwaltungen (Großbritannien, Schweden) als auch der Förderprogramme (Polen, Deutschland, Niederlande, Österreich) wurden zentralstaatliche Verantwortlichkeiten an regionale und lokale Verwaltungen abgegeben. So wurden in den Niederlanden 1988 die direkten Staatsdarlehen für den Sozialen Wohnungsbau zu Gunsten von so genannten Wohnungsfonds aufgelöst. Die lokalen Wohnbauvereine, die auf diese Gelder zurückgreifen können, sind seither die zentralen Akteure der niederländischen Wohnungsbaupolitik im Bereich der Sozialwohnungen. Auch in Polen spiegelt sich die Dezentralisierung im Fördersystem wider. Die in den 1990er Jahren eingerichteten "Hausbaufonds" bedeuten die Abkehr von direkten staatlichen Investitionen im Bereich des Sozialen Wohnungsbaus und richten sich an lokal organisierte Non-Profit-Wohnungsunternehmen (TBS). Unter dem Schlagwort der "Förderalisierung des Wohnungsbaus" wurde in Österreich ein ähnlicher Prozess durchgesetzt. Der Nationalstaat als klassischer Träger von Wohnungsbauprogrammen verabschiedet sich damit aus der Arena der Wohnungspolitik.

Trend Eigentumsförderung

Europaweit im Trend liegt auch die verstärkte staatliche Förderung von Eigentumsbildung. Die Ausweitung der Eigentümerquote ist in fast allen Ländern ein ausdrückliches Ziel der Wohnungspolitik. Gezielte Förderung bestimmter sozialer Gruppen (Spanien), pauschale Investitionsanreize (Deutschland), Erleichterungen beim Grunderwerb (Spanien, Niederlande, Polen), preisgünstige Angebote in den öffentlichen Beständen (Großbritannien) oder Steuervergünstigungen (Niederlande, Schweden, Österreich) sind die typischen Elemente einer wohnungspolitischen Unterstützung der Eigentumsbildung.

So wurde auch in den Niederlanden in den 1990er Jahren die Förderung von Wohneigentum verstärkt. Steuerliche Vergünstigungen (Abschreibungsmöglichkeit für Hypothekenzinsen) und Kommunalbürgschaften bis zu 100% der Liegenschaftswerte unterstützen die Eigentumsbildung. Als wohnungspolitisches Ziel werden 55% Eigentumswohnungen am Gesamtbestand angestrebt. Zum Jahr 2000 gelang eine Steigerung auf 53%. In Spanien, mit seinem traditionell hohen Anteil von Eigentumswohnungen (über 80%), bleibt eine Eigentumsförderpolitik nicht auf die besser verdienende Mittelklasse beschränkt, sondern betrifft auch ärmere Haushalte. Seit 1990 wurden spezielle Programme entwickelt, die einkommensschwache Familien insbesondere bei den kostspieligen Grundstücksankäufen mit staatlichen Geldern unterstützen. Auch in Deutschland wurde in den vergangenen Jahren der Bau oder Erwerb eines eigenen Hauses oder einer eigenen Wohnung generell mit der Eigenheimzulage gefördert. Daneben gibt es noch Förderung durch für den Neubau von selbst genutzten Wohneigentum wie Bausparprämie und zinsverbilligte Kredite. In Schweden beschränkt sich die Förderung auf die Möglichkeit, Darlehenszinsen von der Einkommensteuer abzusetzen, die direkten staatlichen Darlehen für die Beschaffung von Wohneigentum von Privathaushalten wurden in den 1990er Jahren reduziert. Auch in Polen findet die Eigentumsförderung vor allem in Form von staatlichen Krediten statt. Diese Form der Förderung wurde bereits in den 1970er Jahren entwickelt und in der letzten Dekade zum Schwerpunkt der staatlichen Wohnungspolitik ausgebaut.

Liberalisierung der Mietgesetzgebung

Mit kleinen Abstrichen lässt sich auch der folgende Bereich als "typisch" für den aktuellen Trend der Wohnungspolitik bezeichnen: In der Mehrzahl der EU-Länder (mit Ausnahme von Westdeutschland und den Niederlanden) wurden die bestehenden Mieterschutzregelungen und die gesetzlich fixierten Mietregulierungen aufgeweicht oder sogar aufgehoben. Mit den Argumenten, bestehende Investitionsblockaden zu überwinden und Anreize für ein Engagement im Wohnungsbereich zu setzen, wurden insbesondere die Kündigungsregelungen gelockert und Mieterhöhungsmöglichkeiten vereinfacht. In Spanien wurde beispielsweise das Mietrecht mit dem Erlass des so genannten Boyer-Dekrets weitgehend dereguliert. Die bis dahin bestehenden Miet- und Mieterschutzrechte schränkten Kündigungsmöglichkeiten und Mieterhöhungen fast völlig ein. Mit dem neuen Gesetz wird der Mieterschutz letztlich auf fünf Jahre begrenzt, nach dieser Zeit sind Kündigungen und Mietsteigerungen möglich. Auch in Polen wurden Ende der 1990er Jahre die eigentumsähnlichen Mietschutzrechte mit einer Gesetzesänderung weitgehend gelockert. Insbesondere der umfassende Kündigungsschutz - der auch bei massiven Mietschulden galt - wurde aufgehoben. Die ersten Räumungen von Mietschuldnern wurden in einigen Städten von massiven Protesten begleitet, sodass die Regierung Teile der Reform zurücknehmen musste.

Bewertung der europäischen Wohnungspolitik

Wenn wir aus den Gemeinsamkeiten ein idealtypisches Modell der aktuellen Wohnungspolitik in Europa entwerfen, dann fallen zunächst Schlagworte wie Privatisierung, Liberalisierung und Dezentralisierung auf. Auch die aktuell realisierten Wohnungsbauprojekte unterscheiden sich in baulicher Form, Größe und der ihnen zugedachten Funktionalität von den früheren Projekten des Sozialen Wohnungsbaus.

Der Bau von Sozialwohnungen erfolgte seit den 1960er Jahren vor allem als industriell vorgefertigte, serielle Massenproduktion und sollte einen homogenisierten Versorgungsanspruch bedienen. Im Ergebnis dieser Rationalisierung wurden die Gebäude zunehmend einheitlich gestaltet. Gerade die Großsiedlungen unterscheiden sich von der Wolga bis an das Mittelmeer nur durch Nuancen. Die Wohnungen richteten sich mit ihren normierten Grundrissen in Ost wie West an die gesellschaftlich erwünschte Durchschnittsfamilie. Die Siedlungen wurden als Schlafstädte der Arbeitsgesellschaft konzipiert und hatten meist gute Verkehrsanbindungen, um den Transport zu den Produktionsstätten zu gewährleisten. Finanziert wurde dieser Soziale Wohnungsbau überwiegend aus der Staatskasse.

Das 'Ende des Sozialen Wohnungsbaus' bricht mit den meisten Elementen dieser Wohnungspolitik. Die Formen der Produktion (in kleineren Einheiten) und der Finanzierung (privat oder in "Public-Private-Partnership") und der Planung (flexibel und in kleinen Projekten) weisen Strukturen auf, die in der internationalen Debatte als typisch postfordistisch beschrieben werden. Die modernen Produktionsabläufe orientieren sich stärker an Flexibilität und den spezifischen Fähigkeiten des Einzelnen. Eine Wohnungspolitik, die zunehmend auf Eigentumsförderung zielt, oder kleine unverwechselbare Projekte bedienen diese Anforderungen. Statt Normierung und Planung scheinen Unterschiede und Eigenverantwortung die Kernpunkte des aktuellen Gesellschaftsmodells zu sein. Die Wohnungspolitik ist dabei nicht nur ein wichtiger Ausdruck dieser Veränderung, sondern übernimmt auch die Funktion eines "geheimen Lehrplans", bei dem Eigeninitiative gefordert und Differenzierungen gefördert werden.

1 Right to Buy

Recht auf den Kauf der Wohnung. In Großbritannien wurde unter der Regierung Thatcher mit dieser Parole ein harter Einschnitt in der Wohnungspolitik vollzogen. Mit dem Gesetz des "Right to Buy" wurde allen Mieter/innen die Möglichkeit gegeben, die von ihnen bewohnten Wohnungen zu relativ günstigen Preisen zu erwerben. Im Ergebnis wurden die besseren Bestände von den Besserverdienenden in den kommunalen Beständen gekauft - entsprechend blieben die Bestände in schlechten Lagen und schlechter Qualität mit ärmeren Haushalten weiter in den Beständen der öffentlichen Hand.

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