MieterEcho

MieterEcho 306/Oktober 2004

 TITEL

Arbeit ohne Zukunft

Die Sozialverbände empfehlen sich als Pioniere des zukünftigen Niedriglohnsektors am Arbeitsmarkt

Christian Linde

Mit dem "Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" ist für die zukünftigen Bezieher/innen des Arbeitslosengeld II (ALG II) der Weg in die Armutsfalle geebnet. Denn das Kernziel, Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger/innen durch die "Reform" wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, ist nach Einschätzung von Experten zum Scheitern verurteilt.

"Hartz IV hat keine Effekte für den Arbeitsmarkt", prognostiziert Frank Oschmiansky vom Wissenschaftszentrum Berlin. Allenfalls würden öffentliche Beschäftigungsprogramme Langzeitarbeitslose für eine Übergangszeit wieder in Beschäftigung bringen. Am Ende müssten sich die Betroffenen wieder in das Heer der Arbeitslosen einreihen. "Die Eingliederungschancen steigen dadurch nicht", befürchtet auch Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte des Instituts der Deutschen Wirtschaft (Berliner Zeitung, 19.08.2004).

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) vermeldet bundesweit derzeit mehr als 4,3 Mio. Arbeit Suchende. Allein in Ostdeutschland kommen auf eine ausgeschriebene Stelle 36 Bewerber/innen.

Weil Jobs im ersten Arbeitsmarkt Mangelware sind, droht den Betroffenen mit dem In-Kraft-Treten von Hartz IV am 01.01.2005 nun Zwangsarbeit im Billiglohnsektor. Denn der von der Auszahlung des ALG II abhängige Abschluss einer "Eingliederungsvereinbarung" sieht vor, dass "Hilfebedürftige", die keine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden, eine so genannte Arbeitsgelegenheit annehmen müssen.

Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) will jeden fünften Erwerbsfähigen mit einer "Arbeitsgelegenheit" im "Ein-Euro"-Bereich aus der Arbeitslosenstatistik tilgen. Allein 600.000 Jobs sollen im gemeinnützigen Bereich entstehen. Diese sollen allerdings nur auf neun Monate beschränkt bleiben. Grundlage hierfür ist der § 16 des II. Sozialgesetzbuchs (SGB II). Danach können "im öffentlichen Interesse liegende, zusätzliche Arbeitsgelegenheiten im so genannten Sozialrechtsverhältnis geschaffen werden."

Nutznießer der Grausamkeiten

Anstatt die Proteste gegen "Hartz IV" zu unterstützen, erklären sich die Sozialverbände zu den Pionieren des zukünftigen Billiglohnsektors. "Als Wohlfahrtsverband ist es unser Auftrag für Menschen, die keine Arbeit haben, etwas zu tun", rechtfertigt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands (PW), die Position. Und dies, obwohl "die Gefahr, dass reguläre Arbeitsplätze verloren gehen, gegeben ist", räumt Schneider ein. Selbst der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU), der sich gegen die Regelung ausgesprochen hat, befürchtet einen "Drehtüreffekt". "Ich schmeiße einen anständig Bezahlten raus und stelle jemand anderen für einen Hungerlohn ein." (taz vom 21./22.08.2004)

Gleichzeitig verhinderten nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die "Ein-Euro-Stellen" das Entstehen normal bezahlter Arbeitsplätze im Sozialbereich. Außerdem droht eine weitere Entwertung der Sozialarbeit. So kündigte Familienministerin Renate Schmidt (SPD) an, im Rahmen der Arbeitsmarktreform im Bereich der Kinderbetreuung "unqualifizierte" Langzeitarbeitslose in Kitas einzusetzen, auch wenn diese über keine sozialpädagogische Ausbildung verfügten. Gleiches gilt für den Pflegebereich, der bisher ebenfalls den Status eines Ausbildungsberufs genießt. Nach den Vorstellungen von Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS) soll die Zahl der im Gesundheitswesen Beschäftigten allein in der Hauptstadt von derzeit 180.000 bis zum Jahr 2010 auf mindestens 250.000 ansteigen.

Geschäft mit der Armut

Die Billigjobs im gemeinnützigen Bereich bedeuten zwar eine Zuverdienstmöglichkeit für die ALG II-Beziehenden, die Kasse klingelt jedoch in erster Linie bei den Wohlfahrtsverbänden. Der Plan von Superminister Clement sieht vor, dass von den 500 Euro pro Beschäftigungsverhältnis maximal 160 Euro im Portemonnaie der Beschäftigten landen. Der Bärenanteil von 340 Euro für "Verwaltungskosten" und "Fortbildungsmaßnahmen" fließt an den Beschäftigungsträger. Bundesweit bedeutet dies für die Wohlfahrtsverbände bei den geplanten 600.000 Stellen eine Subvention von insgesamt rund 2,5 Mrd. Euro jährlich.

Auf die seit Mai 2002 andauernde Diskussion um Hartz IV hat bereits einer der großen Sozialverbände reagiert. "Die Organisation Caritasverband wird zukünftig eher einem robusten Zelt gleichen, in dem die Umwelteinflüsse sensibel wahrgenommen werden, das auch Stürmen standhält, aber flexibel genug ist, um sich verändernden Situationen anzupassen", heißt es in einer jüngst veröffentlichten Erklärung. Hintergrund ist die zum 01.01.2005, dem Tag des In-Kraft-Tretens der Arbeitsmarktreform, beschlossene Zusammenlegung der Regionalverbände Berlin, Brandenburg und Vorpommern sowie des Diözesan-Caritasverbands. Als Folge der Fusion kündigte die Caritas in dem Papier betriebsbedingte Kündigungen an.

Während das kirchliche Unternehmen als "Tendenzbetrieb" weiterhin die Einrichtung von Betriebsräten verbietet, ist auch Lohndumping für die christliche Organisation kein Tabu. Angesichts des wachsenden Wettbewerbs und des erhöhten Konkurrenzdrucks zwischen gemeinnützigen und privatwirtschaftlichen Anbietern, so die Begründung, erweisen sich die verbandseigenen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) - vergleichbar mit dem Bundesangestelltentarif im öffentlichen Dienst (BAT) - als so genanntes "Wettbewerbshindernis". Die AVR werden deshalb nach Auffassung von Franz-Heinrich Fischler, zukünftiger Diözesancaritasdirektor, "auf Dauer nicht zu halten sein". Dies bedeutet Haustarifverträge statt eines flächendeckenden Manteltarifvertrags. Die Folge: Neben Gehaltskürzungen müssen sich die verbleibenden Mitarbeiter/innen bei der Caritas auf die Reduzierung oder Streichung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds einstellen.

Andere Träger der Mitgliederorganisationen innerhalb der Liga der Wohlfahrtsverbände haben diesen Schritt durch die Umwandlung von einem gemeinnützigen Verein zu einer gemeinnützigen GmbH bereits vollzogen. Damit nutzen auch diese Träger zukünftig die Rechte eines privaten Unternehmers und verzichten auf die ureigenen Pflichten eines kirchlichen bzw. sozialrechtlichen Arbeitgebers. Als Grund für die Umstrukturierung nennen die Wohlfahrtsverbände übereinstimmend die Kürzungsmaßnahmen im sozialen Sektor.

Freie Träger außer Kontrolle

Angesichts der Angaben des Landesrechnungshofs dürfte es sich zumindest in Berlin mehr um gefühlte als um tatsächliche Kürzungen handeln. In ihrem jüngsten Prüfbericht (siehe hierzu auch S. 7 in diesem Heft) stellt die Behörde "schwere Mängel bei der treuhänderischen Verwaltung und Vergabe von Zuwendungsmitteln durch die Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege" fest. Dennoch sind die auf Grund von "zweckwidriger Verwendung der Zuwendung ausgesprochenen Empfehlungen nicht aufgegriffen, vor allem nicht zum Anlass von Rückforderungen genommen worden."

Landesrechnungshof bemängelt Ausgaben

Möglich wurden die Mängel durch die zwischen dem Senat und den sechs in der Liga der freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Spitzenverbänden beschlossene Vergabepraxis. So hat die für Gesundheit und Soziales zuständige Senatsverwaltung die Haushaltsmittel zur Förderung von Hilfeangeboten für den Zeitraum vom 01.01.2001 bis zum 31.12.2005 in Höhe von insgesamt 93 Mio. Euro an die Verbände übertragen. Allerdings kommt der Rechnungshof zu dem Schluss, dass insbesondere die Vergabe von Zuwendungsbescheiden "erhebliche Mängel aufweist". Im Rechnungshofbericht heißt es wörtlich: "Im Zuwendungsbescheid müssen Zuwendungsziele und -umfang so eindeutig und detailliert festgelegt werden, dass auf dieser Grundlage eine begleitende und abschließende Erfolgskontrolle möglich ist. Diesen Anforderungen genügten die geprüften Zuwendungsbescheide nicht."

Außerdem übt der Rechnungshof heftige Kritik an Jugendsenator Klaus Böger (SPD). So hat dessen Verwaltung die Förderung der Kindertagesstätten Freier Träger durch Zuwendungen eingestellt und zum 01.01.1999 eine leistungsvertragliche Entgeltfinanzierung vereinbart. Die Ausgaben hierfür belaufen sich inzwischen auf 250 Mio. Euro jährlich. Die Abrechnungen der Freien Träger für etwa 1100 Kindertageseinrichtungen wurden in den Jahren 1999 bis 2001 jedoch so gut wie gar nicht von Seiten der Behörde überprüft. Stichprobenweise Kontrollen zeigten, dass sich Rückforderungsbeträge in Millionenhöhe ergeben.

Ob wenigstens Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) der Aufforderung des Landesrechnungshofs nachkommt und die Senatssozialverwaltung "die Fachaufsicht gegenüber den sechs Wohlfahrtsverbänden endlich umfassend wahrnimmt und den Abschluss eines neuen Liga-Vertrags einer besonderen kritischen Betrachtung unterzieht", darf allerdings bezweifelt werden. Schließlich richtet sich die Hauptkritik der obersten Rechnungsprüfer nicht zuletzt an die Arbeiterwohlfahrt (AWO). Denn tatsächlich nehmen nicht alle Liga-Verbände die vom Senat übertragenen Aufgaben wahr, sondern haben die Vertragsdurchführung inklusive der Vergabe (Beleihung) von finanziellen Zuwendungen an die einzelnen Träger auf einen Verband, die AWO delegiert. "Es mag hier dahinstehen, ob der Erlass eines Zuwendungsbescheids in dieser Form verwaltungsrechtlich zulässig ist. Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel, ob die AWO die Voraussetzungen einer Beleihung erfüllt", so der Landesrechnungshof. Die AWO dürfte allerdings unter dem besonderen Schutz der SPD, der Koalitionspartnerin der PDS stehen. Immerhin gehören dessen Landesverband 27 der 39 Mitglieder der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus an. Darunter der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, Parlamentspräsident Walter Momper, Jugendsenator Klaus Böger und der Landes- und Fraktionsvorsitzende Michael Müller.

Betroffene ohne Alternative

Wohin die Reise für die zukünftigen Billigjobber/innen geht, steht indes fest. Lehnen Langzeitarbeitslose künftig eine zumutbare Arbeit ab, müssen sie empfindliche Kürzungen beim ALG II hinnehmen. In einer ersten Stufe um 30% und gemäß § 31 Abs. 3 SGB II wird bei einer wiederholten Pflichtverletzung noch einmal um weitere 30% gekürzt. Dabei können in der zweiten Stufe auch die Kosten für Heizung und Unterkunft betroffen sein. Nach mehrmaliger Ablehnung kann das ALG II auch auf Null abgesenkt werden.

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