MieterEcho
Nr. 290 - Mai 2002

"Bis das mal alles fertig ist!"

 

 

Johannes Touché

Milieuschutz in Berlin-Prenzlauer Berg

Kopenhagener Straße. Oben der alte Mauerstreifen, der Stettiner Güterbahnhof, seit fünfzig Jahren verwaist. Eine staubige Steppe mit einem einsamen Kinderbauernhof, ein paar Lagerhäusern, Bauwagen, Zäunen. Unten die Schönhauser Allee, von Lokalpolitikern mit albernen Bezeichnungen wie "Metropolenmagistrale" oder "Ku'damm des Ostens" belegt: ein paar dutzend Geschäfte, zwei kleine Malls, einmal "Arcaden" und einmal "Carré", das Cinemaxx, dem man seit Jahren den baldigen Bankrott prophezeit. Ein paar Meter die Straße hinauf stehen schon die Läden leer.

In manchen haben sich Absolventen mit ihren start-ups eingenistet, man kann sie nachts durchs Schaufenster sehen, wie sie durch ihre eckigen Brillen in die Bildschirme starren. An Sommerabenden stehen sie mit Beck's-Flaschen in der Tür, ähnlich den Alkoholikern vor dem letzten Geschäft, in dem es noch um Lebensmittel geht und nicht um Webpagearchitekturen. Die Besitzerin mag die Alkis nicht, sie stinken, sagt sie, aber was soll sie machen: Es sind ihre besten Kunden, denn sie sind immer da. Seit '89, als der Großteil der Menschen die Arbeit verlor, sind es die Arbeitslosen und Frührentner, die diese Straße dominieren. Später sind die Studenten und die Kreativen eingesickert, jetzt beginnt sich die Gegend für das gemütliche Bürgertum herauszuputzen. Die Armen aber werden nicht so schnell reich, wie ihre Wohnungen luxuriöser werden, sie sammeln sich in den paar unsanierten Häusern, die noch übrig sind. Bald werden sie ganz weggehen müssen, niemand weiß, wohin.
Nach dem BGB hat jeder Hauseigentümer das Recht, seine Wohnungen in den "zeitgemäßen Ausstattungszustand einer durchschnittlichen Wohnung" zu versetzen. Gemäß der Auslegung des Berliner Verwaltungsgerichts ist der westdeutsche Standard zeitgemäß und durchschnittlich; das Bezirksamt Pankow hingegen besteht auf einen lokalen Gebietsdurchschnitt, der alle paar Jahre neu ermittelt werden muss. Aber in Gegenden wie der Kopenhagener Straße steigt auch der stetig an, und zwar sowohl, was die Ausstattung, als auch, was die Mieten betrifft.
Seit 1997 heißt diese Gegend "Milieuschutzgebiet Falkplatz". Die Mietsteigerung ist in den ersten drei Jahren nach der Modernisierung auf 20 % begrenzt, bis fünf Jahre gilt eine Mietobergrenze. Umwandlungen in Eigentumswohnungen sind nicht erwünscht, Totalsanierungen werden nicht mehr gefördert, Grundrissänderungen oder Aufzüge oft gar nicht erst genehmigt. Die "soziostrukturellen Veränderungen" im Kiez werden regelmäßig überprüft. Aus der "Vorbereitenden Untersuchung" zum Falkplatzgebiet von 1993: "Die soziale Mischung der Bevölkerung und die sozialen Beziehungen im Gebiet sind herausragende Qualitäten. Ihr Erhalt ist ein wesentliches Ziel der Sanierung."
Nach dem Jahrzehnt der Baugerüste ist jetzt die Mehrheit der Fassaden frisch verputzt. Die Entlüftungslöcher der Gamate¹ wurden verfüllt, die Kastenfenster ausgetauscht. Die alten Gründerzeithäuser sind jetzt blendend weiß, bananengelb oder mintfarben; sie "erstrahlen" mal in "altem", mal in "neuem Glanz", es gibt da keine eindeutige Sprachregelung. Auch mein Haus strahlt und glänzt - das stolze Ergebnis der jüngsten Fassadensanierung, der dritten in 15 Jahren. Bis zur Ankunft des ersten Investors war da grauer Putz gewesen, an der Straße noch intakt von der ersten Instandsetzung in den 80ern, im Hof sanft abblätternd, keineswegs die Bausubstanz gefährdend, aber seit dem Krieg unberührt. Hier sah man Einschusslöcher, die von der Schlacht um den S-Bahn-Graben herrührten oder auch, wenn man den wüsten Erzählungen der alten Nachbarin Glauben schenken darf, von einem Hinrichtungskommando der Roten Armee, das in diesem dunklen Loch alle SS-Soldaten an die Wand stellte, die in der Gegend zu finden waren. Solcher Wandschmuck passte dem Investor nicht. Alles neu! Frische Farbe, Balkonbrüstungen aus Lochblech, Gegensprechanlage, Zentralheizung, neue Küchen - der ganze Krimskrams, der am Ende eine Verdoppelung der Miete bedeutete. Bedeuten musste! Einige der Nachbarn waren einsichtig. Sie hatten schon vorher "Hausieren verboten!" an der Tür stehen; nun freuten sie sich, die Schäbigkeit ihrer Nachbarschaft besiegt zu sehen. Andere protestierten - aber nur gegen den Preis. Sie trauten dem Investor nicht.

Auf der Treppe sprach ich mit der alten Nachbarin:

  • Dass die Regierung das erlaubt.
  • Das ist doch egal.
  • Der schmeißt uns hier raus, der Gauner.
  • Der will halt Geld.
  • Scheißwessis.
  • Ich doch auch.

Wir einigten uns schließlich, dass "die Reichen" an allem Schuld seien. Unser Kapitalistenwessi war aber nicht reich genug und ging kurz darauf Pleite. Vor den Forderungen seiner Banken und den Nachforschungen der Polizei, die ihn einiger Morde verdächtigte, floh er ins Ausland. Das Haus ließ er als Baustelle zurück, halb entmietet und strahlend weiß getüncht.
1993 wurden 93 % der Wohnungen im Kiez mit Gasbrennern und Kohleöfen beheizt, 38 % hatten kein Bad. Nach der "Sozialuntersuchung Milieuschutzgebiete Prenzlauer Berg" von 2002 verfügen heute 60 % der Wohnungen über den Vollstandard nach dem Berliner Mietspiegel. Nur noch ein Viertel der Wohnungen im Kiez sind für unter 3,00 Euro/qm nettokalt zu haben. Vor drei Jahren waren es noch die Hälfte, 1996 fast 80 %. Damals zahlten 21 % der Haushalte mehr als ein Drittel ihres Einkommens für die Miete, heute sind es 34 %. Zum Ausgleich erhalten 10 % der Haushalte ein staatliches Wohngeld von durchschnittlich 77,50 Euro.
Die Untersuchung stellt fest, dass in den Milieuschutzgebieten nur noch knapp 30 % der Bewohner seit mehr als zehn Jahren im Kiez wohnen. Der Rest ist später zugezogen. Weit über die Hälfte der Bevölkerung lebt nun in Einpersonenhaushalten, über ein Drittel sind Studenten. Daneben "ziehen vermehrt Haushalte mit guten Einkommenslagen in die Gebiete." Im Milieuschutzgebiet Falkplatz ermittelt die Untersuchung ein monatliches Durchschnittseinkommen von knapp 900 Euro netto pro Kopf. Im Oktober 1996 waren es noch unter 700 Euro gewesen. "Die Analyse der Einkommensverteilung und -entwicklung legt nahe, dass in den letzten Jahren ein Verdrängungsprozess von einkommensschwachen Haushalten stattgefunden hat, die durch finanzstärkere Haushalte ersetzt wurden."
Als der zweite Investor fertig war, war das Haus leuchtend rot und zwei Drittel der Hausbewohner wohnten woanders. Die alte Nachbarin zog in ein Reinickendorfer Altersheim; der Greis unter mir starb an einem Herzinfarkt.

Er war ein gelassener Mensch gewesen und schweigsam - was nicht daran lag, dass er wenig zu erzählen hatte:

  • Haben Sie immer hier gewohnt?
  • Neenee! Früher wohnte ich drüben in der 48, und geboren bin ich ganz vorne. Fast an der Schönhauser.
  • Wie war das hier?
  • Arm.

Zuletzt verschwand das Schreien von gegenüber. Die Verrückte ist weg! Ihr Mann war vor vielen Jahren gestorben. Er war Kohlenschlepper gewesen, einmal soll er sie die Treppe runtergeschmissen haben, seitdem schrie sie und trank. Ganze Abende hing sie, wild geschminkt und stockbesoffen, auf ihrem Fensterbrett und brüllte Unflätiges, bisweilen auch sehr Lustiges auf die Straße. Wenn Kinder vorbeikamen, lachte sie schrill - nun hat sich jemand beschwert und sie ist in der Geschlossenen. Die jungen Väter arbeiten viel; sie haben tagsüber Stress und wollen abends ihre Ruhe. Ihre Frauen tragen jetzt Verantwortung und Fahrradhelme. Sie sorgen für Ordnung auf dem Hof und haben es nicht gern, wenn ihre Kinder auf der Straße spielen.
Aus der "Milieuschutzanalyse Prenzlauer Berg" von 1996: "Verdrängung ist die Folge einer spezifischen Form der Stadtentwicklung, die im Rahmen der soziologischen Stadtforschung mit dem Terminus technicus ,Gentrification' (auch auf deutsch Gentrifizierung. Die Red) beschrieben wird." Man unterscheidet vier "Gentrification-Typen": Die "Älteren" und "Sonstigen", also die Alteingesessenen, die "Pioniere", meist aus der Studenten- oder Künstlerszene, sowie die "Gentrifier": wohlhabende Zugezogene, die ab einem bestimmten Bevölkerungsanteil den Wohnungsstandard und -preis definieren und so die anderen Bevölkerungsteile verdrängen können. Die "Pioniere" sind als erste weg; sie sind mobil und machen sich in anderen Vierteln auf die Suche nach preiswertem Wohnraum. "Prekär könnte die Lage der ,Sonstigen' werden, verfügen sie doch über für ,Gentrifier' reizvolle große Altbauwohnungen, die sie nach freifinanzierten Renovierungsmaßnahmen kaum bezahlen könnten. In Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer ökonomischen Lage werden davon auch die ,Älteren' betroffen sein."
Der Senator für Stadtentwicklung, Peter Strieder in seiner Rede vor dem Abgeordnetenhaus vom 28. Juni 2002: "Stadtentwicklung heißt immer auch Veränderung. Veränderung kann als Belastung angesehen werden. Veränderung kann aber auch als Chance gelten. Wählen wir die letztere Variante. Berlin ist Laboratorium der Einheit, Berlin ist Initiative, Berlin ist Herausforderung."
Die Kopenhagener Straße wird sauber. Die Löcher im Pflaster, in denen früher in einem Dickicht von Brennnesseln der Kadaver eines Fahrrads, ein Gasherd oder ein Autoreifen herumlag, wurden nach und nach mit neuen Alleebäumen bestückt; sie sind jetzt mit Mulch verfüllt, einige werden von fanatischen Hauswarten allwöchentlich geharkt. Vor dem Vitra-Design-Museum, das sich im alten E-Werk eingerichtet hat, sieht man morgens eine Angestellte die weißen Schilder putzen, die in der Nacht einen Tick abbekommen haben. Ganz ohne Zorn, eher mit dem demütigen Pflichtbewusstsein, mit dem man in Weil am Rhein wochenends die Fußwege schrubbt. Das Museum zeigt Juwelen von Cartier. Von der Schönhauser her nähern sich Kultur-Touristen. Sie schlendern einmal durch die Ausstellung, die hier "Exhibition" heißt, dann nehmen sie einen Macchiato in der Museumslounge. Bei Sonne stehen die Aluminiumstühle auf dem Fußweg - das erste Straßencafé in der Kopenhagener Straße. Gegenüber stehen noch ein paar alte Häuser. Früher war hier die Kohlenhandlung, dann gab es im Keller einen Club. Ein Transparent verkündet: "Hier ab 2002 - Gewerbelofts der besonderen Art".
Die Kulturtouristen blicken gerührt und überheblich die warmgrauen, zerfledderten Fassaden entlang:

  • Malerisch, oder?
  • Ja. Bis das mal alles fertig ist!
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1: Gamat = Außenwand-Gaseinzelofen - DDR-Marke, die Red.

 

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