MieterEcho
Nr. 289 - Januar/Februar 2002

Schlanker Staat und fitte Mitte

 

Hermann Werle

Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung befinden sich in der Krise. Während kommunale Haushaltslöcher durch den Verkauf von städtischen Wohnungsbau- und Versorgungsunternehmen wie der GSW oder BEWAG gestopft werden sollen, führen Schröder und Riester Teile des Sozialversicherungssystems auf die Schlachtbank privater Versicherungsanbieter. "Demographische Entwicklung", "mehr Anspruchsnehmer" und "Kostenexplosion" sind die Schlagwörter, mit denen die sogenannten Reformen erklärt werden. Der Bund reagiert dabei jedoch nur auf den postfordistichen Umbau der Gesellschaft: der Liberalisierung und Flexibilisierung im Interesse der Unternnehmen. Ins Blickfeld staatlicher Unterstützung gerät zunehmend nur noch die Mittelschicht, die sich den veränderten Erfordernissen des Erwerbslebens anpassen kann und damit fitt für diesen Arbeitsmarkt ist.

Indes kann von einer Kostenexplosion z.B. bei der Krankenversicherung keine Rede sein. Das jüngste Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegt, dass der Anteil der Kosten für Gesundheit am Volkseinkommen weitgehend konstant geblieben ist: 1970 lag er bei 13,08 und 1998 bei 13,46%. Im Vergleich dazu sind zwei andere Faktoren explodiert: Lagen die anteilig zum Bruttoeinkommen der abhängig Beschäftigten berechneten Beitragssätze 1970 noch bei 8,2%, erreichten sie 1998 13,6%.

Ein Blick in die Bilanzen der Pharmaindustrie offenbart uns zudem den tatsächlichen Hauptkostenfaktor der Versicherungen und Krankenkassen: "Trotz der Klagen über die rot-grüne Gesundheitspolitik wird die deutsche Pharmaindustrie in diesem Jahr voraussichtlich wieder ein sattes Umsatzplus aufweisen. Nach vorläufigen Zahlen (...) stieg der Gesamtumsatz im In- und Ausland um acht Prozent auf rund 60 Mrd. DM", so das Handelsblatt (2001), welches dementsprechend in seiner Anlageempfehlung darauf hinweist, dass ein Großteil der Gewinne in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen an die Aktionäre ausgeschüttet werden.

Rente wird Verwertungsfeld privaten Kapitals

Mit dem Einstieg in die Privatisierung des Rentensystems, d.h. vom Solidarprinzip oder Generationenvertrag der umlagefinanzierten Rente zur individuellen, kapitalfinanzierten Rente, leistet die Politik der Entwicklung zu immer größer werdendem Wohlstandsgefälle weiteren Vorschub. Der gesetzliche Rentenanspruch wird prozentual heruntergefahren, und damit tendenziell unter das Existenzminimum gedrückt. Das wiederum hat zur Folge, dass der Anteil von RentnerInnen, die zusätzliche Sozialhilfe beantragen müssen, ansteigen wird. NiedrigverdienerInnen werden im Alter am Existenzminimum leben und Altersarmut wird rasant zunehmen. Denn nur wer es sich leisten kann, wird eine zusätzliche private, kapitalgedeckte Altersvorsorge in Anspruch nehmen können und entsprechend von staatlichen Fördermaßnahmen und Steuerabzugsfähigkeit profitieren. Hierzu gehört das Riester-Entnahmemodell, welches das Eigenheim als eines der Standbeine der zukünftigen Altersvorsorge vorsieht. Die staatliche Förderung der Privatrente kommt also vor allem den höheren Einkommensklassen zugute.
Zu den Gewinnern der rot-grünen Rentenreform gehören insbesondere private Versicherungsdienstleister, die sich durch die (Teil-)Privatisierung des Sozialversicherungssystems ein weiteres Verwertungsfeld erschließen können. Der Zwang der arbeitenden Bevölkerung zur Privatvorsorge, wird den Versicherungen gewaltige Kapitalmengen zufließen lassen, mit denen sich auf internationalen Börsen vortreffliche Gewinne erzielen lassen. Dies entspricht den Zielsetzungen von IWF und Weltbank, die die Marktgängigkeit der Sozialsysteme nicht nur für unterentwickelte Länder einfordern. Waren ArbeitgeberInnen bislang durch die paritätische Beteiligung an der Altersabsicherung der ArbeiterInnen beteiligt, werden sie durch die kapitalgedeckte Rente aus dieser Pflicht - der "sozialen Verantwortung des Eigentums" - zunehmend entbunden. Die von Unternehmerseite lange geforderte Senkung der Lohnnebenkosten wird auf diesem Wege realisiert.

Das System der Grundsicherung

Die Riester-Rente stellt lediglich einen Aspekt des frontalen Angriffs auf die sozialen Sicherungssysteme dar. Auch die Arbeitsmarktpolitik zielt auf die unteren Schichten der Lohnabhängigen, Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen. Unter dem Prinzip des "Förderns und Forderns" soll der Sozialstaat in den "aktivierenden Staat" verwandelt werden. Der Sozialstaat wird als Hindernis für die Freisetzung kreativer Potentiale charakterisiert. Und so heißt es verstärkt, wer als Arbeitsloser ein gutes Leben führen kann, der bräuchte sich nicht zu bemühen, seine Arbeitskraft zu verkaufen oder unternehmerisch tätig zu werden. Folglich sollen Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen zunehmend unter Druck gesetzt werden, um ihren Anspruch auf Grundsicherung zu erhalten. Grundlage bildet u.a. die Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, welches seit 1996 Sanktionsmöglichkeiten für Arbeitsverweigerung vorsieht, die bis zur völligen Streichung der Sozialhilfe reichen. Grundrechte wie freie Berufswahl und Verbot von Zwangsarbeit (vergl. GG Artikel 12) werden dabei massiv ausgehöhlt. BezieherInnen von Arbeitslosengeld müssen nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit Tätigkeiten akzeptieren, deren Entlohnung in Höhe der Arbeitslosenhilfe liegt. Der geplanten Zusammenführung von Arbeitslosengeld sowie Sozial- und Arbeitslosenhilfe stehen noch rechtliche Differenzen entgegen, da es sich bei der Arbeitslosenversicherung um quasi erwirtschaftetes Eigentum handelt. In der Zielsetzung sind sich rot-grün und CDU/CSU jedoch einig: die BezieherInnen von Sozialleistungen durch Arbeitszwang und Senkung der Leistungen in den Niedriglohnsektor zu pressen. Die von Kanzler Schröder initiierte "Faulenzer-Debatte", schlägt in die gleiche Kerbe. Sie ist zugleich aber auch symptomatisch. In Deutschland kehren in Rezessionszeiten Faulheitsdebatten immer wieder auf, so 1975, 1981 und 1993. Auch in der kapitalistischen Frühzeit treffen wir im englischen Armengesetz von 1834 bereits auf die Formulierung: "Die Lage des unterstützten Armen dürfe weder real noch dem Anschein nach so attraktiv sein wie die des Arbeitenden der untersten Klasse." Wer keine Arbeit hat, ist selbst verantwortlich dafür und hat keine Ansprüche zu stellen. Das Modell des fordistischen "Normalarbeiters" und des Massenkonsums ist obsolet geworden.
Nach der vorherrschenden neoliberalen Grundidee, sind mehr Ungleichheit, insbesondere niedrige Löhne und Sozialleistungen, nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern sogar notwendig, um Wirtschaft und vor allem Beschäftigung zu stärken. Wenngleich - wie Claus Schäfer in der Frankfurter Rundschau vom 25.9.2001 bemerkte - der Internationale Währungsfonds (IWF) "soziale Ungleichheit für eine entscheidende Wachstums- und Entwicklungsbremse" und das nicht nur in Entwicklungsländern hält.
In den Genuß staatlicher Förderung sollen nur noch die kommen, die zu lebenslanger Arbeit fähig sowie zu kontinuierlichen Investitionen ins eigene Humankapital bereit sind und den Sprung in ein - wenn auch prekäres - Arbeitsverhältnis schaffen oder als KleinstunternehmerIn aktiv werden. Diese Klientel sowie gutverdienende FacharbeiterInnen und traditionelle Selbstständige gehören zur der von Parteien und Gewerkschaften umworbene "Neue Mitte" oder auch Bürgergesellschaft. Sie gelten als Erfolgstypus und Träger der Gesellschaft, an denen sich dementsprechend die Sozialpolitik zu orientieren hat. Die Privatisierung des sozialen Sicherungssystems entspricht dabei der Mentalität dieses Erfolgstypus der "fitten Mitte", dem die Börsenkurse wichtiger als Arbeitslosenzahlen oder Armutsberichte sind.

 

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