Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 439 / März 2024

Wohnungsbaustatistik als Zahlen-Voodoo

Der Berliner Senat hat keinen Überblick über die tatsächlichen jährlichen Fertigstellungen

Von Nicolas Šustr

Die statistische Erfassung der Wohnungsbauzahlen für 2023 läuft noch. Aber für die Berliner landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ist schon klar, dass sie weit unter dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Bauziel von 6.500 Wohneinheiten geblieben sind. Mit Stand Ende September 2023 gingen sie von fast genau 4.800 neuen Wohnungen aus, wie die Antwort der Senatsbauverwaltung auf eine Anfrage des Wohnungspolitikers Niklas Schenker (Die Linke) zeigt. Bemerkenswert ist, dass im Ende August 2023 veröffentlichten jährlichen Bericht zur Schaffung von Wohnraum noch die Fertigstellung von rund 5.800 Wohnungen prognostiziert wurde.

Seit Veröffentlichung der Baustatistik für 2022 geht Bausenator Christian Gaebler (SPD) damit hausieren, dass Berlin mit der Fertigstellung von rund 17.300 Wohnungen angesichts der desaströsen Baukonjunktur eigentlich noch mit einem blauen Auge davon gekommen sei. Aber die vom Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg veröffentlichten Zahlen stimmen nicht. Gesichert fertig wurden 2022 nur rund 13.800 Wohnungen, die weiteren rund 3.500 sind Nachmeldungen aus den Vorjahren. Das ergibt sich aus Daten, die das Statistikamt auf Anfrage vom MieterEcho zur Verfügung gestellt hat. Die offene Frage: Wie viele Fertigstellungen werden noch nachgemeldet? Coronakrise und kriselnde Baukonjunktur deuten darauf hin, dass es nicht allzu viele sein werden.

Laut den Daten des Amtes für 2016 bis 2022 gab es in jedem Jahr Nachmeldungen im großen Stil. 2022 lag deren Anteil an der Gesamtzahl der Fertigstellungen bei einem Rekordwert von über 20%. 2021 waren es beispielsweise fast 16%, was über 2.500 Wohnungen entspricht. Dabei erklärt die Bauverwaltung, diese Statistik sei „ein wichtiger Indikator für die Analyse des Wohnungsmarktes“. Der korrekten Baustatistik werde eine bedeutende Rolle beigemessen, da sie eine wichtige Grundlage für die Planung, Entwicklung und Steuerung des Wohnungsbaus bilde. „Eine präzise Statistik ermöglicht es, die Bedarfe im Wohnungsbau besser zu verstehen, Ressourcen effektiver zu verteilen und angemessene politische Maßnahmen zu entwickeln“. 

Bezirke teilweise überfordert

Die Aussagen machen den Eindruck, als würde die Verwaltung von Senator Gaebler der korrekten Statistik eine hohe Relevanz zumessen. Sie finden sich in der Antwort auf eine schriftliche Anfrage von Katrin Schmidberger und Julian Schwarze, die für die Grünen im Abgeordnetenhaus die Bereiche Mieten, Wohnen und Stadtentwicklung verantworten.

Um das Versagen besser zu verstehen, hilft der Blick darauf, wie die Daten zustande kommen. Verantwortlich für die Erhebung der sogenannten Bauüberhangstatistik sind die Bauaufsichtsämter der Bezirke. Jeweils zum 31. Dezember jeden Jahres müssen sie laut Hochbaustatistikgesetz des Bundes den tatsächlichen Stand aller Vorhaben ermitteln, die genehmigt, aber noch nicht als fertig gemeldet wurden. Jeweils im November verschickt das Amt eine Liste dieser Objekte an die Bauaufsicht. Diese muss dann bis Mitte Februar für jedes Objekt eine von fünf Angaben machen: „(1) noch nicht begonnen; (2) begonnen, nicht unter Dach; (3) begonnen, unter Dach; (4) fertiggestellt einschließlich Datum; (5) Genehmigung erloschen“. Jedes nicht fertige Objekt durchläuft lückenlos jährlich diese Abfrage. 

Sind die Informationen zu alt, muss eine Abfrage beim Bauherrn erfolgen. Ist diese nicht erfolgreich oder die Antwort nicht glaubhaft, ist eine Inaugenscheinnahme des Objekts erforderlich. Bei der Überhangserhebung fallen deshalb am Jahresende automatisch alle bisher nicht gemeldeten Fertigstellungen auf. Denn viele Bauherren melden nicht rechtzeitig, weshalb dieser Erhebung eine wohnungspolitisch überragende Bedeutung zukommt.

In der Antwort auf die parlamentarische Anfrage der Grünen wird auch das Meldeverhalten der einzelnen Bezirke dargestellt. Nach Auswertung der Zahlen für die Jahre 2016 bis 2022 lassen sich die einzelnen Bezirke in drei Gruppen einteilen. Mit Lichtenberg und Spandau gibt es zwei Bezirke, die recht kontinuierlich weitgehend korrekte Zahlen lieferten. Bei acht weiteren Bezirken ist es eher wild. Mal gibt es viele, mal kaum Nachmeldungen. Diese sind aber, das sollte man im Hinterkopf behalten, eine Folge von Versäumnissen vor allem des Vorjahres. Denn fast drei Viertel der verspäteten Meldungen hätten jeweils ein Jahr zuvor in die Statistik einfließen müssen.

Und dann gibt es mit Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf noch zwei Bezirke, die offenbar dauerhaft kaum Ehrgeiz zeigen, eine korrekte Bauüberhangstatistik abzuliefern. Immerhin räumten sie die schlechte Praxis auf Anfrage unumwunden ein. „Die Bau- und Wohnungsaufsicht Steglitz-Zehlendorf konnte im Rahmen der Feststellung des Bauüberhangs in den letzten Jahren nicht den aktuellen Bautenstand vor Ort ermitteln“, heißt es aus dem Südwesten. Angesichts von „Personalmangel und der anfallenden Ordnungsaufgaben (Gefahr in Verzug) muss hier die Bauaufsicht Prioritäten setzen“, erklärt die Reinickendorfer Bauaufsicht. „Insofern kommt es hier leider sehr oft zu nicht unerheblichen Zeitverzögerungen bei der Meldung zum Bautenstand und der Fertigstellungsmeldung.“

Bemerkenswert ist die Antwort von Marzahn-Hellersdorf. Das Bezirksamt lässt durchblicken, dass die schlecht geführte Statistik eigentlich kein Beinbruch ist. „Auf lange Datensicht“ sei die Abweichung irrelevant. „Es wird die Aktualität schlechter, jedoch nicht Quantität und Qualität.“ 

„Die Datengrundlage muss dringend verbessert und eine systematische Erfassung ermöglicht werden“, fordert Grünen-Politikerin Schmidberger. „Der Senat war hier in der Vergangenheit schon weiter und hatte bereits ein Programm zur Unterstützung der Bezirke in den Jahren 2020 und 2021 angeboten, um eine bessere Datengrundlage zu erreichen“, erinnert sie.

Die Stadtentwicklungsverwaltung finanzierte in jenen Jahren externe Dienstleister, die die Erhebung des Bautenstands übernahmen. Denn als durchaus nachvollziehbarer Grund für die schlechte Datenlage wird aus den Bezirken fast einstimmig Personalmangel genannt. Doch offenbar liegt es auch an weit verbreitetem Desinteresse, denn maximal vier der Bezirke nahmen das Angebot in Anspruch. Das Programm lief schließlich aus.

Kritik von Linken und Grünen

„Angesichts der massiven Herausforderungen beim Wohnungsbau ist die Erarbeitung einer besseren Datenlage kein Hexenwerk“, sagt Schmidberger. Diese sei zwingende Voraussetzung, um die Bedarfe im Wohnungsbau zu ermitteln und entsprechend politische Maßnahmen abzuleiten. „Dass sich der Senat selbst bei dieser vergleichsweise einfachen Aufgabe wegduckt, beweist seine Halbherzigkeit, wenn es um den richtigen Neubau geht“, so die Parlamentarierin. 

SPD-Stadtentwicklungsexperte Mathias Schulz hat angesichts der Situation vorgeschlagen, Maßnahmen zur Verbesserung der Bauüberhangstatistik zu prüfen und in den Senatsentwurf zum Schneller-Bauen-Gesetz zu übernehmen, erklärt er auf MieterEcho-Anfrage. „Ziel muss es sein a) die Verzögerungen bei der Datenberichterstattung zu reduzieren und b) die Bezirke dazu zu verpflichten, die Gründe für Verzögerung eines Bauvorhabens zu ermitteln“, so Schulz weiter. Dies könne auch bei der Durchsetzung von Baugeboten helfen. Er glaubt, dass eine bessere Bauüberhangstatistik ein Beitrag wäre, um Bodenspekulation angemessen bekämpfen zu können. 

„Seit Jahren weisen wir auf die fehlende Ausstattung der Baubehörden der Bezirke und die verlotterten Zustände bei der Kontrolle der Bauherr/innen und die falsche, investorenfreundliche Baupolitik in Berlin hin“, sagt Stadtentwicklungspolitikerin Katalin Gennburg (Die Linke).  Es sei „nicht hinnehmbar, dass auf einer um 20% abweichenden Grundlage Wohnungsbauzahlen ausgegeben und immer neue Grundstücke freigegeben werden“. Berlin müsse sich endlich einen verlässlichen Überblick verschaffen und auf dieser Grundlage sozial, ökologisch und zukunftsfest  planen. Sie spricht von einem „exorbitanten Kontrollverlust durch die Regierung in puncto Wohnungspolitik“.

MieterEcho hat auch den CDU-Baupolitiker Christian Gräff um eine Einschätzung gebeten. Er erklärte jedoch, nicht antworten zu wollen. Bausenator Gaebler macht derweil unbeirrt mit seinem Zahlen-Voodoo weiter. Im Dezember gab er gegenüber der Nachrichtenagentur dpa an, die Fertigstellung von 16.000 Wohnungen für 2023 zu erwarten.

 


MieterEcho 439 / März 2024

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