Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 439 / März 2024

Ein neuer Paragraph als Rohrkrepierer

Die Neubaukrise beflügelt das Comeback neoliberaler Konzepte für den Wohnungsbau

Von Jonathan Diesselhorst

Es steht derzeit nicht besonders gut um den Wohnungsneubau. Der rapide Anstieg der Zinsen bescherte dem von niedrigen Kapitalkosten getriebenen zehnjährigen Wohnungsbauboom in Deutschland ein jähes Ende. Das Auftragsvolumen in der Bauwirtschaft ging im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um mehr als 22% zurück, die Zahl der Baugenehmigungen sackte um fast 30% ab. Wirtschaftsforschungsinstitute verschiedener Couleur, wie das gewerkschaftsnahe IMK und das unternehmerfreundliche ifo-Institut, gehen einhellig davon aus, dass in 2024 und 2025 weniger Wohnungen gebaut werden als in den vorhergehenden Jahren.   

Schlechte Nachrichten für die Ampel-Regierung und deren Bauministerin Klara Geywitz (SPD). Hatte man sich doch 2021 vorgenommen, den dramatischen Wohnungsmangel und die vielerorts horrenden Mieten ganz marktkonform vor allem durch privaten Wohnungsneubau zu bekämpfen und nicht etwa durch eine striktere mietrechtliche Regulierung oder öffentliche Bauprogramme. Da die erhofften privaten Investitionen angesichts hoher Finanzierungskosten nun reihenweise ausfallen, macht sich im Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) offenbar Nervosität breit. Das Ziel der Bundesregierung, pro Jahr 400.000 Wohnungen, davon 100.000 gefördert, errichten zu lassen, ist auf absehbare Zeit nicht erreichbar. Offiziell abrücken möchte man davon aber dennoch nicht. 

Ende September 2023 fand im Bundeskanzleramt ein „Wohnungsbaugipfel“ statt, ursprünglich um die vermeintlichen Erfolge des vom Bauministerium initiierten „Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“ zu bilanzieren, an dem zahlreiche Verbände aus der Bau- und Wohnungswirtschaft, aber auch Sozial- und Umweltverbände sowie Gewerkschaften beteiligt sind. Da es aber wenig Erfolge vorzuweisen gab und einzelne Lobbyverbände bereits mit dem Ausstieg aus dem Bündnis drohten, wurde vom Ministerium eiligst ein Paket aus 14 Maßnahmen zusammengestellt, mithilfe derer der lahmende Wohnungsbau wieder angekurbelt werden soll. Darin finden sich einige Forderungen, die von Lobbyverbänden der Immobilienwirtschaft schon länger erhoben werden. 

Freifahrtschein für Immobilienbranche

Durch die Einführung eines neuen Paragraphen (§246e) in das Baugesetzbuch mit einer Generalklausel soll erreicht werden, in ausgewiesenen „Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt“ für den Neu- oder Umbau von Wohngebäuden mit mindestens sechs Wohnungen umfassende Abweichungen sowohl von geltenden Bebauungsplänen als auch den Vorschriften des Baugesetzbuches zu erlauben. Mit dem Paragraphen dürften Wohnungen auch in Gewerbegebieten oder im Außenbereich („auf der grünen Wiese“) neu gebaut, sowie durch Nutzungsänderungen oder Umbauten im Gebäudebestand geschaffen werden, wo geltende Bebauungspläne oder die Vorschriften des Baugesetzbuches eine Genehmigung von Wohnungen bisher ausgeschlossen hatten. Die Sonderregelung soll befristet bis Ende 2026 gelten. 

Bei der Baugenehmigung von Wohngebäuden müssten dann keine Vorgaben des Baugesetzbuchs, etwa zu einer geordneten städtebaulichen Entwicklung, gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnissen, zur Schaffung sozialer Infrastrukturen, Umweltverträglichkeit oder Öffentlichkeitsbeteiligung mehr eingehalten werden, wenn die Gemeinde in einem Bereich mit angespanntem Wohnungsmarkt liegt. 

Eine ähnliche Regelung war bereits 2014 unter dem Eindruck steigender Zahlen registrierter Geflüchteter für die kurzfristige Schaffung von kommunalen Unterkünften von der damaligen Großen Koalition eingeführt worden. Es dauerte nicht lange, bis Lobbyverbände der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft für sich das strategische „Potenzial“ dieser Regelung erkannten. Bot die Regelung doch die Möglichkeit, langwierige Bebauungsplanverfahren und „lästige“ kommunale Auflagen mit sozialen oder ökologischen Maßgaben einfach zu umgehen. Dahingehende Befürchtungen von Kritiker/innen, die Sonderregelung für Flüchtlingsunterkünfte könnte nicht nur zu segregiertem Wohnen von Geflüchteten führen, sondern auch ein Einfallstor für eine umfassende Deregulierung des Bauplanungsrechts sein, erweisen sich nun offenbar als begründet. 

Profitieren tun davon aber allenfalls Bau- und Wohnungsunternehmen sowie Immobilieneigentümer/innen. Bauarbeiter, die angesichts des Auftragseinbruchs nun um ihre Arbeitsplätze bangen, hingegen kaum. Denn das, woran Bauprojekte derzeit scheitern, ist nicht etwa fehlendes Bauland, sondern fehlendes Kapital aufgrund hoher Finanzierungskosten. Der sogenannte Bauüberhang an genehmigten, noch nicht fertiggestellten Wohnungen ist zuletzt auf über 880.000 Wohneinheiten angestiegen.

Auch Wohnungssuchenden, die auf günstige Mietangebote angewiesen sind, dürfte mit der Reform kaum geholfen werden. Denn nichts in dem neuen Paragraphen stellt sicher, dass die neu geschaffenen Wohnungen mit Mietpreisbindungen für Haushalte mit kleinen bis mittleren Einkommen angeboten werden. Er enthält nicht einmal die Maßgabe, dass Mietwohnungen entstehen sollen. Das wahrscheinliche Resultat der auf dieser Grundlage erteilten Baugenehmigungen sind weitere, im wahrsten Sinne des Wortes exklusive, hochpreisige Wohnungen, die nichts zur Deckung der gesellschaftlichen Bedarfe beitragen. Schlimmstenfalls könnte die Neuregelung auch geltende kommunale Vorgaben zur anteiligen Errichtung von gefördertem Wohnraum (wie z.B. das Berliner Modell zur kooperativen Baulandentwicklung) aushebeln. Da Wohnungsbau nahezu überall erlaubt wird und erteilte Baugenehmigungen – im Gegensatz zum §246 BauGB selbst – in der Regel auch über das Jahr 2026 hinaus gelten sollen, dürfte das zur weiteren spekulativen Wertsteigerung von Grundstücken führen.  

Darüber hinaus kann die Anwendung des „Bau-Turbo“ zu weiteren Folgeproblemen führen. Zum einen ist der §246e auf die ausschließliche Errichtung von Wohngebäuden ausgelegt, ohne notwendige soziale Infrastruktur und Flächen für gewerbliche Nutzungen zu berücksichtigen. Das kann dazu führen, dass bei einer Erweiterung bestehender Wohngebiete schlicht keine zusätzlichen Kita- und Schulplätze geschaffen werden – keine guten Aussichten in Anbetracht des vielerorts gravierenden Mangels. Auch Einzelhandelsflächen in den Erdgeschossen für den täglichen Bedarf der Bewohner/innen dürften mit dem „Bau-Turbo“ gar nicht genehmigt werden.  

Kommunen werden entmündigt

Gerade dort, wo hohe Bodenpreise entsprechend hohe Renditeerwartungen nach sich ziehen, gehören Handwerks- und Industriebetriebe oder auch Clubs wirtschaftlich meist zu den weniger profitablen Nutzungen. Da auch die Rechtsprechung dem Wohnen in solchen Fällen regelmäßig eine höhere Schutzwürdigkeit zuspricht, ist eine schleichende Verdrängung von Gewerbe- und Industriebetrieben und der örtliche Verlust von Arbeitsplätzen bei heranrückender Wohnbebauung oft nur eine Frage der Zeit. 

Auch unter ökologischen Gesichtspunkten ist der §246e fragwürdig. Denn die Generalklausel weicht die Voraussetzungen für die Bebauung im Außenbereich „auf der grünen Wiese“ erheblich auf. Flächenverbrauch, Zersiedelung und der damit verbundenen Umweltzerstörung würde weiterer Vorschub geleistet.

Ein gewichtiger Einwand gegen den §246e ist ferner, dass er die Planungshoheit und demokratische Selbstverwaltung in den Kommunen aushöhlt. Denn die Generalklausel eliminiert allgemein anerkannte Prinzipien von Planung und Städtebau, einschließlich der Abwägung öffentlicher Belange sowie Beteiligungen der Öffentlichkeit. Indem sie Wohnungsbauvorhaben weitgehend ins behördliche Ermessen stellt, umgeht sie auch die übliche Diskussion und den Beschluss über Aufstellung und Festsetzung von Bebauungsplänen in den Gemeinderäten – ein Verfahren, das noch ein Mindestmaß an demokratischer Legitimation von Planungen vor Ort gewährleisten kann. 

Ob der Gesetzentwurf aus dem Bauministerium in der jetzt kursierenden Form tatsächlich beschlossen wird, ist noch nicht ausgemacht. Denn dieser bevorzugt die Bau- und Immobilienwirtschaft derart einseitig, dass das Vorhaben nicht nur den Protest der „üblichen Verdächtigen“, sondern auch von Wirtschaftsverbänden und Kammern, sowie der kommunalen Spitzenverbände auf den Plan ruft. Doch unter dem Eindruck eines verschärften Mangels an leistbarem Wohnraum fällt der Bundesregierung offenbar nicht viel mehr als Deregulierung ein. Neoliberale Ideen aus dem letzten Jahrtausend irrlichtern in der Wohnungspolitik umher wie Zombies. Es wäre Zeit, diesen Spuk zu beenden. 

 

Jonathan Diesselhorst arbeitet für die Gewerkschaft IG BAU im Bereich Wirtschafts- und Sozialpolitik.


MieterEcho 439 / März 2024

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