MieterEcho

MieterEcho 307/Dezember 2004

 BERLIN

Weder Ghetto noch Slum

Das so genannte Problemviertel Soldiner Kiez ist besser als sein Ruf

Thomas Kilian, AG Kiezforschung im Soldiner Kiez e.V.

Glaubt man den Berliner Boulevardzeitungen, dann ist der Soldiner Kiez im Wedding ein Ghetto oder gar ein Slum, in den man besser nicht seine Nase steckt. Viele Menschen im Kiez fühlen sich aber ganz wohl hier und einige von ihnen wollten nun wissen, wie das ihre Nachbar/innen sehen. So taten sich einige Bewohner/innen und ein paar Student/innen im Juli 2003 zusammen, um eine kleine Untersuchung über den Stadtteil durchzuführen. Sie wollten keine ellenlangen Statistiken sondern den Originalton der Bewohnerschaft. Also interviewten sie 24 Menschen aus verschiedenen Ethnien und sozialen Schichten und trugen so zusammen, welches Bild sich die Einheimischen von ihrem Kiez machen.

Sicher, im Soldiner Kiez wohnen viele arme Menschen, die von der Sozialhilfe leben. "Da weiß ich manchmal nicht, ob ich meinem Kind ein Eis kaufen kann", erzählt Erkan*, ein 25-Jähriger. Auch die Demütigungen beim Sozialamt setzen ihm zu. Dabei ist er kein passiver Bezieher von Almosen, sondern ein aktiver junger Mann, der seine Arbeitskraft immer wieder anbietet und Verwandten und Freunden gern hilft. Nur haben die ebenfalls zu wenig, als dass sie ihm was abgeben könnten. Erkan gehört zu denjenigen, die aus dem Kiez praktisch nicht weg könnten, weil sie anderswo keine Wohnung finden würden.

Auch Menschen aus der Mittelschicht leben im Kiez. So z. B. die Lehrerin Jutta* (38), eine allein erziehende Mutter mit zwei Kindern. Die Behauptung, man könne als Frau im Soldiner Kiez nachts nicht auf die Straße, weist sie prompt zurück: "Mir macht der Kiez keine Angst." Sie ist vielmehr bewusst hierher gezogen, weil sie den ansprechenden Altbaubestand, das grüne Panketal, die niedrigen Mieten und die gute Verkehrsanbindung zum Zoo und zum Alexanderplatz schätzt. Die Mehrzahl der Befragten will aus solchen Gründen im Kiez bleiben.

Schulen zu schlecht ausgestattet

Auch die verschiedenen Ethnien kommen im Soldiner Kiez leidlich miteinander aus. Etwa 40% der Bevölkerung hat einen ausländischen Pass und auch viele mit deutschem Pass hatten vor nicht allzu langer Zeit einen von Jamaika, dem Libanon oder der Türkei. Die größten Schwierigkeiten damit haben die Kinder, weil die Schulanfänger/innen bis zu 80% nichtdeutscher Abstammung sind und manche von ihnen nicht gut Deutsch sprechen. Die meisten lernen das zwar noch spielerisch im Kindergarten, aber wegen der hohen Gebühren lassen immer mehr Arme ihre Kinder zu Hause. Deshalb ist man sich im Soldiner Kiez bei der Forderung nach einer kostenlosen Vorschule und einer besseren Ausstattung der Schulen einig. Mancher glaubt auch, dass der Wedding dabei gegenüber anderen Stadtteilen benachteiligt werde. "In Steglitz fallen bestimmt nicht so viel Schulstunden aus wie hier", schimpft beispielsweise die dreifache Mutter Aya* (35).

Mancher Journalist lässt sich zum Thema "Ausländer" von einigen Deutschen einen Bären aufbinden. "Im Bus muss man nur mal oben sitzen und durch die Soldiner fahren, da kann man was sehen. Da kann man von oben in die verhängten Fenster von Spielhöllen sehen und wie da dicke Geldrollen auf den Tischen liegen", erzählt da etwa ein Aufschneider einem Schreiberling von der Berliner Zeitung. Das kann schon deshalb nicht stimmen, weil in der Soldiner Straße nur Gelenkbusse verkehren und keine Doppelstockbusse. Und auch die Legenden vom ausländischen Bandenkrieg verraten meist mehr über die rassistische Gesinnung des Erzählers als über die tatsächlichen Verhältnisse im Soldiner Kiez. Wenn im Soldiner Kiez die Wellen hoch schlagen und die Nachbarschaft aufhorcht, dann meist wegen einem Familienstreit.

Allerdings wünschen auch die meisten Migrant/innen nicht, dass noch mehr Nicht-Deutsche in den Stadtteil ziehen. Sie träumen wie auch Deutsche von einer Mischung verschiedener Ethnien, Kulturen, Berufe und Altersgruppen. Doch damit tut sich eine Großstadt wie Berlin schwer, denn der Wohnungsmarkt überträgt die Ungleichheit der wirtschaftlichen Verhältnisse auf stadträumliche Strukturen. Also gibt es ärmere und reichere Stadtteile. Und da Migrant/innen oft arm sind, konzentrieren sie sich in den armen Vierteln. Und ein Großteil der deutschen Mittelschichtbevölkerung und die dazugehörenden Medien assoziieren Armut so lange mit Schmutz, Gewalt und Verbrechen, bis es die Kiezbevölkerung selbst glaubt. Vor allem Hundekot ist ein beliebter Stein des Anstoßes. Nur gibt es den in Prenzlauer Berg oder Kreuzberg genauso.

Zum schlimmen Ruf des Soldiner Kiezes tragen auch die "Kolonie-Boys" bei. Das war eine Jugendgang, die im letzten Jahrzehnt mit Drogen und Gewalt von sich Rede machte. Heute gibt es wieder eine Jugendgruppe, die sich nach ihnen benennt. Als Spiegel-TV sie aber vorzuführen trachtete, konnte die Sendung nicht verhindern, dass einzelne Mitglieder der Gruppe ihrem Wunsch nach einer bürgerlichen Karriere Ausdruck gaben, weil sie aus dem Armenviertel raus wollten. Drogen und Gewalt sind bei der Mehrzahl der Jugendlichen im Soldiner Kiez out und viele träumen von materiellem Konsum und bescheidenem Wohlstand. Drogenhandel findet im Soldiner Kiez nur in kleinem Umfang statt, sodass die Polizei sagt, sie hätte die Szene unter Kontrolle.

Image beeinflusst Entwicklung des Kiezes

Neben der Armut der Bewohnerschaft, die selbst auf die billigen Läden und Dönerbuden abfärbt, indem sie sich ständig im Preis unterbieten oder selbst Ramsch noch gebraucht verkaufen, ist das größte Problem das schlechte Image des Kiezes. Das fängt damit an, dass Freund/innen nicht in das verrufene Viertel kommen wollen und deshalb die Soldiner/innen für Treffen selbst durch Berlin reisen müssen. Bedenklicher als diese Unbequemlichkeit ist aber, dass der unberechtigt schlechte Ruf bereits das Umzugsverhalten beeinflusst. Menschen aus der Mittelschicht beginnen auf Grund dieses Rufs und der schwierigen Situation der Schulen wegzuziehen und es ziehen nur wenige Bessergestellte in den Kiez. Das Image, so die Feststellung der Forschergruppe, wird zu einem eigenständigen Faktor bei der Entwicklung des Stadtteils: "In den benachteiligten Vierteln der segregierten Stadt entsteht eine durch Presse und Politik forcierte Abwärtsspirale aus schlechtem Image und schlechter Struktur, was die besser gestellten Familien vertreibt. Noch ist der Kiez nicht zu einem eindeutig benachteiligendem Viertel geworden, er ist besser als sein Ruf."

*) Name von der Radaktion geändert.

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