MieterEcho

MieterEcho 306/Oktober 2004

 TITEL

Hartz IV für Jugendliche

Auf 15- bis 25-Jährige warten Profiling, Repressalien und Niedriglohn

Hermann Werle

Rund 34.000 Jugendliche unter 25 Jahren sind allein in Berlin arbeitslos gemeldet. Bundesweit standen im Juli über 647.000 registrierte Bewerber/innen lediglich 420.000 Ausbildungsstellen gegenüber. Nicht mitgezählt sind dabei die Jugendlichen, die in berufsvorbereitenden Maßnahmen "parken". Zu der bestehenden Misere kommt hinzu, dass die Anzahl betrieblicher Lehrstellen von Jahr zu Jahr abnimmt, laut Gewerkschaften in den letzten drei Jahren um ca. 85.100. Unbeeindruckt von solchen Zahlen wird die von Kanzler Schröder im letzten Jahr angedrohte Ausbildungsabgabe zu Grabe getragen und Wolfgang Clement wird nicht müde, die Hartz-Gesetze zu verteidigen: Hartz IV, so der Superminister "ist nämlich ein Großangriff auf die Jugendarbeitslosigkeit."

Junge Leute werden diesen Angriff deutlich zu spüren bekommen. Nach § 3 Absatz 2 des II. Sozialgesetzbuchs (SGB II) wird für die ca. 367.000 Jugendlichen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II) zukünftig jeder Job zumutbar sein: "Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind unverzüglich nach Antragstellung auf Leistungen nach diesem Buch in eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln."

Ein großer Teil der für die 600.000 geplanten Ein-Euro-Jobs zur Verfügung gestellten Bundesmittel von 6,35 Mrd. Euro werden folglich dafür verwandt werden, die Klientel der ‚U 25' in Arbeit zu pressen. Nach einem Papier des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) soll dadurch eine Aktivierungsquote von 52%, d.h. rund 191.000 Stellenangebote, für die unter 25-Jährigen geschaffen werden.

In dem bereits zitierten § 3 SGB II heißt es weiter: "Können Hilfebedürftige ohne Berufsabschluss nicht in eine Ausbildung vermittelt werden, soll die Agentur für Arbeit darauf hinwirken, dass die vermittelte Arbeit oder Arbeitsgelegenheit auch zur Verbesserung ihrer beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten beiträgt." Mit dieser gefälligen Formulierung kommt zum Ausdruck, dass nicht nur das Recht auf freie Berufswahl, sondern zugleich das Recht auf eine Berufsausbildung entfällt. Welche Folgen das Ablehnen eines Jobangebots oder andere Verstöße gegen die Re-geln der Agentur für Arbeit haben, erläutert der Gesetzestext unter § 31 Absatz 5: "Bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, wird das Arbeitslosengeld II unter den in den Absätzen 1 und 4 genannten Voraussetzungen auf die Leistungen nach § 22 beschränkt." Während bei älteren Erwerbslosen also "lediglich" die Absenkung des Regelsatzes um 30% vorgesehen ist, wird bei unter 25-jährigen die Regelleistung für drei Monate komplett gestrichen - im Wiederholungsfall sogar dauerhaft. Lediglich die Kosten für Unterkunft und Heizung werden weiter gezahlt, jedoch direkt an den Vermieter.

Mannheimer Verhältnisse

Dem Bericht der Hartz-Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" war im August 2002 die deutliche Warnung zu entnehmen, "dass kein Jugendlicher ohne eine aktive beiderseitige Suche nach einer Praktikums- oder Ausbildungsstelle zu Hause sitzt und Transferleistungen erhält." Um die Jugendlichen auf Trab zu halten, wurde zum 01.07.2003 das "Sonderprogramm zum Einstieg arbeitsloser Jugendlicher in Beschäftigung und Qualifizierung - Jump Plus" aufgelegt. Für 100.000 Jugendliche, so das BMWA, sollten dadurch "die Chancen zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessert sowie der Zugang zu kommunalen Beschäftigungs- und Qualifizierungsangeboten gefördert werden." Die intensive Betreuung durch Fallmanager/innen in den neu geschaffenen Job-Activ-Centern stellt nach den Plänen des Ministeriums "einen Vorgriff auf das neue Leistungssystem dar, das im Zuge der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe geschaffen werden soll."

Schöne Aussichten sind das für die bundes-weit über drei Mio. künftigen ALG II-Empfänger/innen. Ein Blick in die Praxis der "Modellstadt" Mannheim zeigt den massiven Druck, der auf Erwerbslose ausgeübt werden kann und verdeutlicht zudem den Kosten senkenden Charakter der Hartz IV-Gesetze. In einer Beschlussvorlage für den Gemeinderat der Stadt Mannheim heißt es: "Das gezielte Ressourcen- und Kostenmanagement wird der zunehmenden Sozialhilfebedürftigkeit der Menschen in Mannheim entgegen wirken und nach heutigen, vorsichtigen Einschätzungen zu Einsparungen bei den Sozialhilfeausgaben von insgesamt mehr als 21 Mio. Euro in den Jahren 2004 bis 2006 führen."

Erreicht werden sollen die Einsparungen unter anderem dadurch, dass auf Selbsthilfemöglichkeiten verwiesen wird und "Anreize für einen Verbleib im Sozialhilfebezug reduziert oder gar gänzlich gestrichen" werden. Oberstes Ziel ist also die Senkung der Fallzahlen - und Kosten". Bisher konnten Sozialhilfebezieher/innen für gemeinnützige Arbeit bis zu 2,30 Euro je Arbeitsstunde "wegen besonders schwerer, schmutziger oder gefährlicher Arbeit" dazuverdienen. Die üppig anmutenden Zeiten sind in Mannheim endgültig vorbei und die Herrschaften der Stadtverwaltung erklären uns umgehend den tieferen Sinn der Absenkung der Entschädigungszahlung: "Um mehr Hilfesuchenden die Chance zu geben, gemeinnützig zu arbeiten, wird die Mehraufwandsentschädigung je Arbeitsstunde auf einen Euro abgesenkt, unabhängig davon, um welche Tätigkeit es sich handelt." Welch solidarische Geste der Mannheimer Schreibtischtäter, Hilfebedürftige für weniger als die Hälfte arbeiten zu lassen, um noch mehr Leute für jede Drecksarbeit heranzuziehen.

Stellschraube Unterkunftskosten

Gespart wird aber auch noch an anderen Stellen: Möbel und Elektrogeräte gibt es aus dem Gebrauchtwarenhandel, die Weiterzahlung der Hilfe bei Urlaubsaufenthalten wird gestrichen und die Zuzahlung für Brillengestelle wird aufgehoben. Als besonders einträgliche Stellschraube der Ausgabenminimierung identifiziert die Stadt Mannheim die Unterkunftskosten: "Das Ziel ist es, spätestens ab 2006 eine Absenkung der Mietkosten von jährlich mindestens 915.000 Euro zu erreichen. (...) Für junge Alleinstehende werden die Mietobergrenzen auf das BAFöG-Niveau (220 Euro) reduziert," wodurch die Bereitschaft zur Absolvierung einer Ausbildung erhöht würde. Hilfreich wäre nach Meinung der Stadtfürsten außerdem, wenn "Wohnungsbaugesellschaften preiswerte möblierte Zimmer für Wohnungsgemeinschaften anbieten würden."

In ihrer "Erfolgsbilanz" vom Juni 2004 vermeldet die Stadt Mannheim, dass sich vom September 2003 bis Mai 2004 die Anzahl junger Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahren im Hilfebezug um 454 bzw. 25% verringert hätte. Gleichzeitig wird lapidar festgestellt, dass 36% der jungen Menschen nicht in das Programm Jump Plus aufgenommen wurden, "weil sie nicht zum vereinbarten Vorsprachetermin erschienen sind, die Anlaufstelle keine Zuständigkeit hatte oder kein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt vorlag." Von 532 Jugendlichen, die ein Arbeitsangebot erhalten hatten, fielen 277 aus dem Programm, weil sie die vermittelte Tätigkeit nicht angetreten oder selbstverschuldet abgebrochen hätten. Einem versäumten Termin oder dem Fernbleiben von einer Arbeitsstelle - aus welchen Gründen auch immer - folgt die Verbannung aus dem sozialen Sicherungssystem auf dem Fuße. Wolfgang Clement wird das freuen, sein "Großangriff" trägt Früchte - die Kosmetik an der Arbeitslosenstatistik übertüncht die soziale Misere.

Was mit den verbannten jungen Leuten passiert, davon ist in der Mannheimer Bilanz kein Wort zu lesen. Nach Meinung von Harald Thomé vom Verein Tacheles aus Wuppertal offenbart sich das Mannheimer Modell "zu einem sozialpolitischen Skandal erster Güte." Die Mannheimer Sozialhilfeverweigerungspraxis bedeute "eine Verelendung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen und erhöhte Suchtproblematiken sowie steigende Kriminalität und Obdachlosigkeit für diesen Personenkreis."

Europaweit zu Niedrigstlöhnen

Neben den Ein-Euro-Jobs stellen die als Herzstück der Hartz-Vorschläge gepriesenen Personal-Service-Agenturen (PSA) ein weiteres Instrument der "Aktivierung" Jugendlicher dar. Auch diesen Bereich des subventionierten Niedriglohns hat die Hartz-Kommission in weiser Voraussicht auf junge Leute zugeschnitten: "Jugendlichen, die in Schule oder Ausbildung gescheitert sind, fehlen häufig intensive und umfassende Betreuungsangebote, die mittels rasch einsetzender und kontinuierlicher Integrationsbegleitung bereits im Ansatz der Gefahr der Langzeitarbeitslosigkeit entgegen wirken können. Solchen Jugendlichen bietet insbesondere die PSA die Möglichkeit, über Erwerbstätigkeit und Betriebspraktika Erfolgserlebnisse und Anerkennung zu erlangen." Bundes- oder auch europaweite Mobilität sowie Niedrigstlöhne sind die Markenzeichen der von den PSA gebotenen Arbeitsmöglichkeiten, die insbesondere Jugendlichen zugemutet werden. Ausgestattet mit großzügig bemessenen staatlichen Geldern erfreut sich diese Form der Leiharbeit auch bei großen Konzernen wachsender Beliebtheit. Gute Geschäfte macht z.B. die Berlinwasser Holding mit ihrer Tochtergesellschaft "Berlinwasser Personalservice GmbH". Mit der im Mai 2000 gegründeten Gesellschaft, die heute Perdie.net heißt, ist den teilprivatisierten Berliner Wasserbetrieben der Einstieg in die PSA-Leiharbeitsbranche gelungen. Perdie.net beschäftigt für 13 Monate unter anderem den Großteil der über 100 Jugendlichen, die jährlich ihre Ausbildung bei den Wasserbetrieben absolvieren und nicht übernommen werden. Der Personaldienstleister verleiht diese entweder zurück an die Wasserbetriebe oder an Fremdfirmen. Die Arbeitskraft wird somit erheblich billiger und obendrein noch vom Arbeitsamt Berlin-Mitte gefördert, allein im Jahr 2002 mit 130.000 Euro.

Profiling und Kategorisierung

In seiner Agenda 2010-Rede vom März 2003 hatte Kanzler Schröder vollmundig die Ausbildungsabgabe angekündigt, für den Fall dass sich die Ausbildungsbereitschaft und die zugesagte Verantwortung der Unternehmen nicht nachhaltig einstellen würde. Trotz der anhaltenden Ausbildungskrise ist das Thema ein Jahr später vom Tisch. Der am 16.06.2004 zwischen der Regierung - federführend Wolfgang Clement - und der Wirtschaft - vertreten u.a. durch Michael Rogowski (Bundesverband der deutschen Industrie/BDI) und Dieter Hundt (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände/BDA) - geschlossene "Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland" entpuppt sich als weiteres Subventionsprogramm für die Unternehmen und Druckmittel auf die Jugendlichen. Zwar verspricht die Wirtschaft ein weiteres Mal 30.000 neue - nicht zusätzliche - Ausbildungsstellen und 25.000 Praktikumsplätze zu schaffen, die würden aber kaum ausreichen, allein den Bedarf in der Region Berlin-Brandenburg zu decken. Da wir uns in einer lang anhaltenden Schonzeit für Unternehmen befinden, werden die Praktikumsplätze ausschließlich aus Steuermitteln finanziert, wie in einer Presseerklärung des BMWA nachzulesen ist: "Der Bund wird im Rahmen des Sonderprogramms die Einstiegsqualifizierung von Jugendlichen monatlich nachträglich durch die Erstattung der Praktikumsvergütung von bis zu 192 Euro monatlich und die Übernahme des monatlichen Gesamtversicherungsbeitrags (102 Euro) fördern." Zur "Optimierung des Vermittlungsprozesses", so ein weiterer Themenbereich des Clement-Rogowski-Pakts, wird der Datenabgleich zwischen Unternehmerschaft und den Agenturen für Arbeit ausgebaut und "das Ausbildungsbewerber-Profiling der Agenturen für Arbeit in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft weiterentwickelt." Diesen Prozess bestätigt ein Bericht der GEW-Zeitung BlZ, wo es in der Juni-Ausgabe unter anderem heißt, dass Jugendliche auf Anweisung der Agentur für Arbeit nach einem Profiling "in verbindliche Kategorien nach Realisierungschancen auf dem Ausbildungsmarkt eingeordnet werden" sollen. Jugendliche ohne "personen- und marktbezogene Hemmnisse" fallen in die Kategorie "A", Jugendliche, die eine intensivere Unterstützung bei der Ausbildungsplatzsuche benötigen, gehören in die Gruppe "B" und in der Schublade "C" landen schließlich jene mit "Verhaltensauffälligkeiten", deren Vermittlung in einen Ausbildungsplatz kaum möglich sei. Jugendliche, die in keine der Kategorien passen, gelten als nicht ausbildungsplatzsuchend und fallen somit auch aus der Statistik und dem Verantwortungsbereich der Wirtschaft. Nach Meinung der GEW-Autoren ist es wohl nur eine Frage der Zeit, dass auch die Kundengruppe "C" als nicht ausbildungsfähig eingestuft wird.

Vorfeldsondierung bis in die Schulen

Mit der Systematisierung des Profilings beauftragten das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung und die Bundesanstalt für Arbeit die Firma Syntegral, die ihren Sitz auf dem Gelände des Berufsbildungswerks im niederbayrischem Abensberg hat. Sowohl Bildungswerk als auch Syntegral werden geleitet von Dr. Peter Schopf, der in Kooperation mit der Bundesanstalt für Arbeit 1997 das Projekt DIMA (Diagnosegeleitete Maßnahmesteuerung) ins Leben rief. Zunächst wurde mit dem DIK-1 (Diagnostische Kriterien) ein Instrumentarium geschaffen, welches insbesondere "Lernbehinderungen" in Abgrenzung zu "Lernbeeinträchtigungen" darstellen sollte. Eines der angewandten Verfahren ist MELBA (Merkmalprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit), mit dem nach Auskunft der Agentur für Arbeit festgestellt werden kann, "wie weit ein Mitarbeiter vom allgemeinen Arbeitsmarkt entfernt ist" (www.gewinndurcheinstellung.de). Da die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts stetigen Wandlungen oder auch Umbrüchen unterworfen sind, dürfte die Kategorisierung eher den Gesetzen des freien Markts sowie den Kosmetikanforderungen des Arbeitsministeriums gehorchen als der Entwicklung wünschenswerter Förderprogramme für Menschen mit Behinderungen.

Mit dem DIK-2 ist inzwischen ein Kriterienkatalog mit mehr als 250 "berufsbezogenen Personenmerkmalen" entstanden, die sowohl körperliche, psychische, geistig-intellektuelle wie auch soziale und kulturelle Eigenschaften und Fähigkeiten (soft skills) erfassen. Dadurch wird das DIK-2-Profiling variabel einsetzbar und soll auch im Rahmen des "Virtuellen Arbeitsmarkts" der Agentur für Arbeit zum Einsatz kommen.

Aber auch in Schulen hält das Tiefenprofiling Einzug. Ein entsprechender Modellversuch hat zum Beginn des Schuljahres 2003/2004 in 29 bayerischen Förderschulen begonnen. Nach den Vorstellungen der Agentur und der Firma Syntegral können die mit DIK-2 erstellten Schulgutachten "unmittelbar und ohne Informationsverluste in das Beratungs-, Vermittlungs- und Betreuungs-Management der Arbeitsämter einfließen."

Ganz nach den Vorstellungen der Wirtschaft werden Jugendliche dadurch bereits in den Schulen auf die Härten des Arbeitsmarkts eingestimmt und die Bedingungen für eine optimierte Verwertung der Arbeitskraft junger Leute im alltäglichen Schulbetrieb verankert.

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