Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 301   Dezember 2003

Ohne eigene Courage geht nichts

Stärkere Einflussnahme durch Mitglieder und ihre Vertreter in Genossenschaften

DR. SIGURD SCHULZE

Im MieterEcho Nr. 299 erörtert Jochen Liedtke die Stellung und den Einfluss, also die Macht der Vertreter in einer Wohnungsgenossenschaft und zieht ein resigniertes Fazit. Neben eigenen schlechten Erfahrungen mit abgelehnten Anträgen kenne er auch kein einziges Erfolgsbeispiel, wo wirksame Entscheidungen nicht aus dem "Establishment", sondern aus den Reihen der Mitglieder gekommen seien. Wo sind kritische Kandidaten in den Aufsichtsrat gewählt worden? Wo wurden professionell vorbereitete Jahresberichte ins Wanken gebracht?

Die Frage, ob man einer heterogenen, spontan zu Stande gekommenen Vertreterversammlung die Geschicke einer millionenschweren Genossenschaft (eines "Unternehmens") überlassen könne, verneint Liedtke. Damit verneint er auch seine rhetorische Frage, ob Basisdemokratie in Genossenschaften noch möglich sei.

Tatsächlich geben das Genossenschaftsgesetz und die Satzungen den Vertretern nicht viel Spielraum für körperschaftliche oder eigene Aktivitäten. Deren einzig obligatorische Aufgabe sind die Bestätigung des Jahresabschlusses, die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat* für das vorangegangene Geschäftsjahr sowie die Wahl von Mitgliedern des Aufsichtsrats. Auch haben Vorstand und Aufsichtsrat im Prinzip kein Interesse am Hineinreden der Vertreter in "ihre" Geschäfte. Und das Genossenschaftsgesetz gibt den Vorständen sehr weitgehende Vollmachten zur Leitung der Geschäfte, zur Geheimhaltung von Geschäftsvorgängen und zur Verweigerung von Auskünften.

In den ostdeutschen Genossenschaften nutzten die Vorstände zudem den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, um ihren Genossen einzureden, nun sei alles ganz anders: die Genossenschaft sei ein "Unternehmen", das sich auf dem Markt behaupten müsse. Unternehmerisches Denken sei angesagt und die Beziehung zwischen Genossen und Vorstand nunmehr die von Mietern und Unternehmern. Genossenschaftliche Demokratie dürfe den Kampf um den "Markt" nicht behindern, nicht das Vertrauen der Banken gefährden usw. Nicht ohne Erfolg. Viele Vertreter erkannten "das Neue" und fühlten sich "dem Unternehmen" mehr verpflichtet als den Mitgliedern, die ihnen faktisch ihre Rechte aus der Generalversammlung, deren Ersatz die Vertreterversammlung schließlich ist, übertragen haben.

Auch in der Fachliteratur wird den Vertretern nicht viel Initiative zugestanden. Außer von Klaus Müller, der ihnen sogar die Verpflichtung zuschreibt, sich vor Entscheidungen in der Vertreterversammlung ein Bild des Willens der Genossen zu verschaffen. (Klaus Müller: Kommentar zum Genossenschaftsgesetz, Bielefeld 1998) Das ist nichts anderes als Basisdemokratie.

Nichtsdestoweniger haben die Vertreter ein ganz entscheidendes Recht, nämlich Vorstand und Aufsichtsrat zu entlasten. Wie sie dieses Recht durchsetzen, ist eine andere Sache.

Formale Pflichterfüllung oder echte Kontrolle von Vorstand und Aufsichtsrat waren schon seit Jahren ein Streitpunkt in der Ersten Wohnungsgenossenschaft Berlin-Pankow e.G. Entzündet hatte sich der Streit an zwei Gegenständen: zum einen am vom Vorstand beabsichtigten Verkauf von Wohnungen und zum anderen an den Klagen des Vorstands gegen 700 Mieter, die einer strittigen Mieterhöhung nicht zugestimmt hatten und die nach Klarstellung des Gesetzgebers Recht behielten. Die Klagen mussten zurückgenommen werden. Kosten: 300.000 DM.

Außerordentliche Vertreterversammlung durch Prüfungsverband einberufen

Der Widerstand von 600 Genossen, die eine außerordentliche Vertreterversammlung zwecks Haftbarmachung des Vorstands forderten, konnte schließlich nur unterdrückt werden, indem der Vorstand die - gewählten - Wortführer aus der Genossenschaft ausschloss und so für Ruhe sorgte. (Der Ausschluss war rechtswidrig und wurde - nach dem Gang durch zwei Instanzen - gerichtlich für unwirksam erklärt.)

Auch die Vertreter waren uneins. Die Anhänger von Ruhe und Ordnung standen gegen die ‚Meckerer’. Doch die Kritik an Willkür, Missmanagement, an Vetternwirtschaft und wachsenden Verlusten verstummte nicht. Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich der Coup des Vorstandsvorsitzenden, der, als er auf eigenen Wunsch ausgeschieden war, neben 510.000 Euro eine sehr lukrative Pensionszusage mitnehmen konnte.

Eine Gruppe von Vertretern analysierte diese Missstände und forderte ihre Behandlung in der Vertreterversammlung. Die Weigerung des Aufsichtsrats, diese Fragen sowie die Abberufung von Vorstand und Vorsitzenden des Aufsichtsrats auf die Tagesordnung zu setzen, verstärkte den Druck. Die Mehrheit der Vertreter unterstützte die Forderungen. Widerspruch regte sich auch im Aufsichtsrat, der jedoch seine Mehrheitsentscheidungen nicht ändern konnte.

Als der Aufsichtsrat die Vertreterversammlung ins nächste Jahr verschleppen wollte, forderten die kritischen Vertreter die Einberufung der Vertreterversammlung gemäß § 60 GenG durch den Prüfungsverband. Seine Reaktion bestand in der Einberufung einer außerordentlichen Vertreterversammlung vor Weihnachten 2002. In dieser wurden Satzungsverstöße, Interessenkonflikte von Funktionsträgern mit persönlichen Interessen, Fragwürdigkeit der 510.000 Euro und zweifelhafte Auftragsvergabe mit überhöhten Preisen thematisiert. Die Nichtentlastung von Vorstand und Aufsichtsrat und die Abberufung des Vorstandsvorsitzenden folgten. Auf Verlangen der Vertreter wurde eine Sonderprüfung veranlasst. Der Vorstand wurde neu bestellt, der Aufsichtsrat z.T. neu besetzt und beauftragt, Schadensersatzansprüche gegen die Mitglieder des Vorstands zu prüfen und ggf. geltend zu machen.

Ein wirksames Mittel waren in diesem Prozess Mieterversammlungen, die einzelne Vertreter in ihren Wahlbezirken organisierten und wo sie die Mitglieder über die Lage und die Gefahren aufklärten. Und natürlich nicht ohne die Frage der Zweifler und Königstreuen: "Dürfen die denn das?"

Das Meinungsbild war eindeutig: Nichtentlastung des Vorstands, Abberufung der Verantwortlichen und Geltendmachen von Schadenersatz. Das verfehlte nicht seine Wirkung auf das Stimmverhalten der Vertreter.

Basisdemokratie sollte gestärkt werden

Der Verfasser dieser Zeilen hatte schon seit Jahren Mieterversammlungen abgehalten. Der Vorstand erklärte sie zwar für unzulässig, verhindern konnte er sie jedoch nicht. Die Grundrechte darf man sich nicht nehmen lassen, und das Recht der Mitglieder auf Information durch ihren Vertreter ist selbstverständlich, ob es nun auf dem Papier steht oder nicht.

Sicherlich sind Bereicherung, Selbstbedienung und Begünstigung in einer Genossenschaft nicht die Regel. Deshalb sind so dramatische Aktionen wie in der Ersten Wohnungsgenossenschaft Pankow nicht alltäglich. Aber allein das Tagesgeschäft - Modernisierungsdruck, Leerstand, Mieteinbußen, Kreditbedarf und Refinanzierung - birgt so viele Risiken für den Bestand der Genossenschaft, dass ein ständiges Beobachten, Abwägen und Entscheiden unentbehrlich ist. Das muss der Vertreter als seine selbstverständliche Pflicht ansehen.

Eine Novellierung des Genossenschaftsgesetzes ist im Gespräch. Vielerlei ist nach Meinung des Verfassers zu vervollkommnen. Im Unterschied zu den Rechten der Vorstände und Aufsichtsräte sind die der Mitglieder bzw. ihrer Vertreter im Genossenschaftsgesetz sehr schwach ausgeprägt. Das Wichtigste ist die Stärkung der Rolle der Vertreter und der Vertreterversammlung (soweit nicht die Generalversammlung selbst die Mitgliederinteressen wahrnimmt).

Das beginnt mit der Wahl der Vertreter. Die Kandidaten sollten sich in Mitgliederversammlungen der Wahlbezirke vorstellen. Das regt zur Diskussion über Angelegenheiten der Genossenschaft an.

Vorschläge für eine Stärkung der Rechte der Vertreter:

Vorschläge zur Erweiterung der Rechte der Mitglieder:

Nachbesserung des Genossenschaftgesetzes

Die Rechte der Vertreter sind wesentlich gestärkt worden durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24.09.2001. Der Vorstand der Ersten Wohnungsgenossenschaft Pankow hatte, wie oben berichtet, Vertreter aus der Genossenschaft ausgeschlossen und diese, nachdem das zuständige Gericht die Ausschlüsse für unwirksam erklärt hatte, nicht wieder zur Vertreterversammlung zugelassen.

Das erklärte der BGH für unzulässig (Az II ZR 289/00), weil damit der Vorstand missliebige Vertreter ausschalten könnte, was der Kontrollfunktion der Vertreter widerspricht.

Zur Rolle der Vertreter führte der BGH aus:

"Die Tätigkeit der Vertreter besteht darin, in der Vertreterversammlung für sich und die vertretenen Genossen diejenigen Rechte und Pflichten wahrzunehmen, die bei kleineren Genossenschaft im Rahmen der Generalversammlung jeder Genosse selbst und ausschließlich für sich ausübt.

Der Auffassung (...), nach der das Vertreteramt mit der Mitteilung über den Ausschließungsbeschluss unabhängig von dessen Wirksamkeit dauerhaft erlischt, kann im Übrigen auch deshalb nicht gefolgt werden, weil damit die Gefahr bestünde, dass die Vertreter faktisch in die Abhängigkeit des Vorstands geraten. (...) Ebenso wie jeder Genosse, der kein Amt bekleidet, kann auch ein Vertreter nach den allgemeinen Vetretungsregelungen innerhalb der Genossenschaft durch Beschluss des Vorstands ausgeschlossen werden. Hätte gleichwohl die Mitteilung des Ausschließungsbeschlusses zur Folge, dass der Vertreter ebenso wie Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder unabhängig von der Wirksamkeit des Ausschlusses sein Amt verlöre, so führte dies zu einer Erweiterung der Machtstellung des Vorstands gegenüber der Vertreterversammlung, die allein schon im Hinblick auf den genossenschaftlichen Grundsatz der Selbstverwaltung nicht hinnehmbar wäre. Der Vorstand könnte sich nämlich jedes Vertreters, insbesondere eines solchen, der sich durch sein Verhalten in der Vertreterversammlung - insbesondere durch unerwünschte Auskunftsbegehren und Anträge - missliebig gemacht hat, leicht entledigen. Damit geriete die Tätigkeit insbesondere missliebiger Vertreter unter den Einfluss des Vorstands. Im Falle rechtskräftiger Feststellung der Unwirksamkeit des Ausschließungsbeschlusses würde zwar die Wählbarkeit des Betroffenen bei der nächsten Wahl zur Vertreterversammlung wieder aufleben. Zunächst aber könnte der Vorstand missliebige Vertreter ausschalten, ohne dass diese sich hiergegen wehren könnten."

Nach diesem Urteil wäre auch so mancher Aussage zum Genossenschaftsgesetz zu korrigieren, so z.B. der "Berliner Kommentar

zum Genossenschaftsgesetz" von Hillebrand/ Keßler (Hammonia Verlag, Hamburg, 2001).

Eines ist unbenommen. Selbst bei großzügiger Gestaltung der Rechte der Vertreter bleibt die Initiative, ja die eigene Courage des Vertreters unentbehrlich, um seine Rechte auch zu nutzen. Es hängt jedoch wesentlich vom Klima in der Genossenschaft ab, ob der Vertreter sich nur als Handheber oder als Sachverwalter der Interessen der Mitglieder versteht. Ohne den subjektiven Faktor ist genossenschaftliche Demokratie nur ein Hülse.

Initiative ist auch beim geltenden Genossenschaftsgesetz möglich. Jedoch könnte ein verbessertes Gesetz den Handlungsrahmen für Genossen und Vertreter erweitern und die psychische Hemmschwelle für ihre Initiativen senken.

Meine Vorschläge sind nicht als Reglementierungsabsichten zu verstehen. Es ist immer zweifelhaft, Demokratie über Mechanismen stimulieren zu wollen. Aber schon Kann-Bestimmungen im Genossenschaftsgesetz wären hilfreich für die Stärkung der Rechte der Mitglieder und Vertreter.

 

*) Am Ende des Geschäftsjahrs oder auch am Ende der Amtszeit wird üblicherweise der Vorstand durch die Mitglieder entlastet. Durch die Entlastung verzichtet der Verein auf die Geltendmachung von Schäden, die ihm in dem betreffenden Zeitraum durch Handlungen des Vorstands entstanden sind oder entstanden sein könnten. Dies betrifft ausschließlich diejenigen Schadenersatzansprüche, die bei Ausspruch der Enlastung der Mitgliederversammlung bekannt waren oder bei Prüfung der Unterlagen hätten bekannt sein können.