Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter

Urban 2000

Urban Future 21

Welche Städte neu erfinden?

John Friedmann


Zunächst möchte ich den von der empirica präsentierten Report "Reinventing the Cities" anhand von sieben Thesen zusammenfassen. Die Autoren dieses Reports behaupten, dass zum Ende des gegenwärtigen Jahrhunderts
1. nahezu die ganze Welt in einem einzigen globalen Netzwerk zusammenleben wird, angetrieben durch weltweiten Wettbewerb;
2. alle Menschen in allen Städten der Welt gemeinsamen Bestrebungen folgen werden;
3. good governance das Instrument für die Förderung des gemeinsamen Ziels von nachhaltiger Entwicklung sein muss;
4. erfolgreiche Städte des 21. Jahrhunderts sich an der Erfahrung derjenigen Städte, die sich im späten 20. Jahrhundert erfolgreich entwickelt haben, orientieren können;
5. dass entschiedene lokalpolitische Handlungen in Kooperation mit der Zivilgesellschaft gefragt sind, um nachhaltige urbane Entwicklung zu erreichen.
6. urbane Wirtschaft sich von der Güterproduktion zur Dienstleistung hin bewegt. Dieser Wandel erlaube es den Städten, sich von ihrer traditionellen Ressourcen-Abhängigkeit zu befreien und ihre wirtschaftliche Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen.
7. um wirklich erfolgreich zu sein, die Städte des 21. Jahrhunderts größere Autonomie brauchen. Nach einer langen Ära, in der Zentralregierungen die Norm waren, müsse ein neues Machtgleichgewicht etabliert werden.

Dieser weite Blick auf Urbanisierungsprozesse stellt sich als Mischung aus Wunschdenken, alltäglichen Plattitüden und normativen Trugschlüssen dar und ist so abstrakt, dass er praktisch bedeutungslos ist. Um sich den tatsächlich gelebten Realitäten anzunähern, skizzieren die Autoren drei stilisierte urbane Modelle für eine sich globalisierende Welt:

 

  • arme Städte mit überproportionalem Wachstum
  • Städte mittleren Einkommens, die eine rapide urbane Entwicklung durchlaufen
  • reife, alternde Städte

Irgendwie müssen alle Städte, seien sie groß oder klein, in der Europäischen Gemeinschaft, in Nordamerika, Brasilien, Peru, Indonesien, Vietnam, China, Japan, Indien, Russland, Nigeria, Südafrika, Ägypten oder im Iran - um nur eine globale Stichprobe zu nehmen - in diesem dreigeteilten Modell angesiedelt werden. Kein Stadtforscher und kein Stadtpolitiker würde einen auf einer solchen einfältigen Typologie beruhenden Report als ernsthafte Grundlage ins Auge fassen. Aber da das hier in aller Ernsthaftigkeit vorgeschlagen wird, muss man annehmen, dass "Reinventing the City" weniger ein Bericht politischer Maßnahmen ist, als vielmehr ein Versuch, einen ideologi-schen Rahmen für urbane Entwicklung auf globaler Basis zu erstellen. In diesem Fall ist dann eine genauere Untersuchung angebracht.
Im Folgenden möchte ich kurz zu jeder der sieben Thesen Stellung nehmen:

These 1:

Hier begegnen wir der Sprache der "grenzenlosen Welt", die von Management-Gurus wie etwa Kenichi Ohmae so geliebt wird. Netzwerk ist die modisch coole Begrifflichkeit, mit der gegenseitige Abhängigkeiten beschrieben werden.
Aber der Begriff sagt uns nichts darüber, wer die Akteure in diesem Netzwerk sind oder wie die Struktur des Netzwerk selbst aussieht.
Ein Hinweis auf die Akteure wird gegeben, wenn es heißt, diese Netzwerke würden "von weltweitem Wettbewerb angetrieben." Und wer steht in weltweitem Wettbewerb? Auf der einen Seite große transnationale Konzerne, auf der anderen Seite Städte, die gegeneinander global um Investitionen konkurrieren. Was die Struktur des Netzwerks angeht, so wissen wir nur, dass sie auf keinen Fall egalitär ist, sondern, wie die Geschichte beweist, aus den Mächtigen und den Schwa-chen besteht, aus denjenigen, die dominieren und denjenigen, die dominiert werden.

Es gibt nichts in dieser Sprache, das auch nur andeutet, es könnten die aus den vergangenen zwanzig Jahren bekannten Trends nicht unverändert und ohne Widerstand für ein weiteres Jahrhundert andauern. Ebenso gibt es keinen Hinweis darauf, was die Möglichkeit in Betracht zieht, dass entgegengesetzte Kräfte ins Spiel kommen: inter-urbane Kooperationen, die erfolgreich die Verminderung der Macht globaler Corporations einschränken; das Erstarken des Nationalstaates im Interesse größerer Gleichheit zwischen Städten und Regionen oder im Interesses des Umweltschutzes; die globale Vernetzung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Denkbar wäre beispielsweise ein völlig anderes Szenario: Urbaner Kollaps; Umweltkatastrophen; an verschiedenen Orten gleichzeitig ausbrechende Bürgerkriege mit Völkermord und ähnliche Gräuel.

These 2:

Diese These ist die blanke Absurdität. So, als würde man sagen: "wir alle wollen mehr Geld". Nun, vielleicht. Aber als ein Rezept für die Welt kann das nicht ernstgenommen werden. Verschiedene Menschen wollen nicht nur verschiedene Dinge, sondern sie sind sich auch uneinig darin, was sie für ihre Städte wollen und in welcher Reihenfolge Sie dies wollen, zu welchem Preis, auf wessen Kosten und für wen. Die Reichen wollen "X", die Armen kämpfen mit dem Hunger und wollen ein Dach über dem Kopf. Hier gibt es keine Gemeinsamkeit. Es ist unmöglich, den Wünschen eines jeden gerecht zu werden. Die These wird vorgebracht, weil ohne sie die ganze Logik des Berichts auseinanderfallen würde. Politik beschäftigt sich gerade mit Menschen, die verschiedene Dinge wollen. Und die Autoren befürworten eine lebendige Politik! Demzufolge liegt der Widerspruch klar auf der Hand. Nur, den Autoren des Reports ist dies offensichtlich nicht klar.

These 3:

Wer kann gegen good governance und nachhaltige Entwicklung sein? Diese Begriffe sind Teil des gegenwärtigen internationalen Jargons und daher jeglicher Kritik gegenüber immun. Ich frage mich, wie viele Menschen außerhalb von Deutschland den Begriff "gemeinsames Ziel" (communal goal) so verstehen, dass er sich auf "Kommunalpolitik" (local politics) bezieht. Tatsächlich bestehen die Autoren hier auf einer einzigen Norm: Kommunalpolitik muss nachhaltige Entwicklung als Zielsetzung zum Kernpunkt machen. Schließt das solche Begriffe wie soziale Nachhaltigkeit ein? Und wirft das nicht auch die Frage auf, was menschliche Grundbedürfnisse eigentlich sind? Vor dreißig Jahren beschlossen internationale Organisationen, dass Grundbedürfnisse "kein politisch nachhaltiges Programm" seien und strichen es aus ihrem Programm.

Was müsste sich ändern, da-mit "Grundbedürfnis"-Strategien erneut auf die Tagesordnung kommen können, diesmal mit dem Fokus auf Städte, und vielleicht nicht nur in "armen Städten mit überproportionalem Wachstum". Da ungefähr ein Viertel der Bevölkerung in "reifen" Städten wie Melbourne oder Los Angeles als arm eingestuft werden kann, würde eine "Grundbedürfnis''-Strategie dort nicht genauso ansetzen müssen, wie in, sagen wir, den überproportional wachsenden Städten Nigerias? Und würde dies nicht eine massive Beteiligung des Nationalstaates voraussetzen? Und wenn das der Fall ist, würde dies nicht bedeuten, dass man über den Sozialstaat neu nachdenken muss, der nach gegenwärtiger Vorstellung - selbst in Sozialdemokratien - langsam eliminiert werden soll, weil er finanziell nicht mehr tragbar ist? Offenkundig sind die Autoren von einer solchen Hinwendung zu echter sozialer Nachhaltigkeit meilenweit entfernt.

These 4:

Dies ist eine weitere geläufige Plattitüde: best practices ("beste Praktiken"). Sollen diejenigen, die uns folgen, von unseren Erfolgen lernen! Welches sind die Modellstädte der Vergangenheit? Zwei fallen uns auf Anhieb ein: Curitiba (Brasilien) und Singapur. Diese Modelle werden seit mindestens einem Jahrzehnt gepriesen, aber bislang habe ich noch keine Beispiele für Curitiba II oder Singapur II entdeckt. Warum ist dies der Fall, trotz aller publicity, die diese Städte begleitet hat? Der simple Grund dafür ist, dass keine zwei Städte identisch sind. Wenn man sich eine Stadt genauer ansieht, und das muss man in der Tat tun, wenn man ein Politikrezept verschreiben möchte, findet man schnell heraus, dass zum Beispiel das öffentliche Transportsystem der Stadt, in der ich heute lebe - Melbourne - weder mit Curitiba verglichen werden kann, noch mit der vielzitierten Stadt Toronto. Und das nicht, weil die Transportplaner in Melbourne diese Modelle nicht kennen, sondern weil diese Modelle für die einzigartigen Umstände von Melbourne im Jahr 2000 nicht gelten. Es scheint die Vorstellung zu bestehen, dass man "Lösungen" aus ihrem spezifischen Kontext isolieren kann, etwa wie in den Naturwissenschaften, um dann in einer Art Transplantationsprozess die Stadt Melbourne ein bisschen mehr wie Toronto zu machen. Es gibt nur wenige Fälle, in denen ein solches Transplantat tatsächlich "anwächst".

These 5:

Entschiedene kommunalpolitische Handlung. Ja, natürlich. Aber welche Art von Politik? Die Autoren erklären: "in Kooperation mit der Zivilgesellschaft". Bedeutet das, eine Zivilgesellschaft autonom vom (lokalen) Staat? Eine organisierte Zivilgesellschaft? Und handelt es sich dabei um eine Zivilgesellschaft mit einem freundlichen Gesicht (eine Damengartengesellschaft) oder eher um eine bösartige (die örtliche Mafia)? Und worin besteht die Arbeitsteilung zwischen Lokalstaat und Zivilgesellschaft'? Die internationale Buchstabensuppe von NGOs (Nichtregierungsorganisationen), CBOs (community based organizations, etwa: Nachbarschaftsinitiativen), QUANGOs (Quasi-Nichtregierungsorganisationen), ist in den letzten Jahren eingespannt worden, sich mit den "bequemen" Sozialproblemen von Armut und Gemeindeentwicklung in Entwicklungsländern auseinanderzusetzen. Aber selbst mit Regierungshilfe haben sie nur die Oberfläche von Problemen gestreift, die viel tiefer liegen, die in der Struktur selbst begründet und die im Wachstum begriffen sind. Viele dieser Initiativen werden von internationalen karitativen Organisationen unterstützt. Manche von ihnen verfolgen ideologische oder religiöse Programme. Ihr bruchstückhafter Ansatz ist nicht in der Lage, über karitative Arbeit hinauszugehen. Sporadische Versuche landesweiter oder zumindest regionaler Koordination sind gescheitert. Sieht so die "kooperative Zivilgesellschaft" aus? Und sieht so die Rollenverteilung aus: dass der Lokalstaat die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibt und die Zivilgesellschaft für sich selbst sorgt? Dem muss hinzugefügt werden, dass es in vielen Ländern, wie zum Beispiel in Russland und China, erst gar keine Zivilgesellschaft gibt, die diese Bezeichnung verdient, und praktisch keine verbindenden Strukturen zwischen Staat und Individuum existieren.

These 6:

Hier gibt es eine Vorhersage: Urbane Wirtschaft wird sich von der Güterherstellung zur Bereitstellung von Dienstleistungen wandeln. Dies "befreit" Städte von ihrer "bisherigen Ressourcen-Grundlage'' und erlaubt es ihnen, die Herren ihres eigenen wirtschaftlichen Schicksals zu werden. Diese Vorhersage hätte ihre Berechtigung haben können, wenn sie sich auf eine bestimmte Klasse von Städten, wie zum Beispiel Saskia Sassens "global cities", beschränkt hätte. Aber so, als generelle Regel? Wenn sich die Weltbevölkerung auf 12 Milliarden, von denen 70% in Städten leben werden, verdoppelt hat, wer soll dann diese Bevölkerung mit ihren Bedürfnissen nach Fertiggütern, von der Armbanduhr über den Traktor zum Flugzeug, versorgen? Und wo sollen diese Güter produziert werden? China war außergewöhnlich erfolgreich in der Förderung sogenannter ländlicher Industrien, aber nach wie vor sind die Großstädte die wesentlichen Zentren der Güterproduktion. Sollen wir denn glauben, dass die Städte zukünftig hauptsächlich Kontrollfunktion ausüben und jegliche Fabrikarbeit dem Hinterland oder den Regionen überlassen werden? Wenn dies angeblich gerade geschieht, so gibt es zumindest im asiatisch-pazifischen Raum, immerhin die sich am schnellsten industrialisierenden Globalregion, wenig Beweise dafür. Und was sollen wir davon halten, dass Städte die "Herren ihres eigenen wirtschaftlichen Schicksals" werden? Mir scheint, dass dies herzlich wenig mit "bisherigen Ressourcen-Grundlagen'' zu tun hat, ganz im Gegensatz zu dem, was die Autoren des Berichts in diesem Fall behaupten. Hier und da sind Schornsteinindustrien durch die Elektronik ersetzt worden. Aber es lässt sich schwerlich behaupten, dass San José in Kalifornien, Herz des Silicon Valley, im Vergleich zum Nachbarn Oakland, der eher von traditionellen Ressourcen abhängt, "befreit" worden und nun für sein eigenes Glück verantwortlich wäre. Oder dass das Rhein- und Ruhrgebiet "befreit" worden ist, weil Stahl- und Kohleindustrie in andere Teile der Welt verlagert worden sind. Dies zu behaupten, ist nichts als ideologisches, leeres Geschwätz.

These 7:

Dies ist der Ruf nach der Restrukturierung des Nationalstaates in Richtung Quasi-Stadtstaaten der Zukunft. Es gibt in der Tat in vielen Städten einen von den Autoren erkannten Trend, der hin zu einer pro-aktiven Städtepolitik führt. Städte sind "unternehmerisch" geworden, wie man sagt. Aber es ist eine Sache, dies in der Bundesrepublik Deutschland mit seiner starken Tradition kommunaler Selbstbestimmungsrechte zu vertreten, denn der gleiche Vorschlag wäre als Modell für Japan, das eine ebenso starke Tradition, nur eben als zentralisierte Regierung, hat, nahezu undenkbar. Und für Länder, die gerade eben in der Lage sind, zentrale Regierungsposten mit leidlich kompetenten Berufspolitikern zu besetzen, Mozambique oder Bolivien beispielsweise, für sie wäre größere kommunale Autonomie genau der falsche Ansatz. Darüber hinaus stehen in vielen Ländern die Beziehungen zwischen Staat und Kommunen bereits in einem prekären [Un]Gleichgewicht, je nachdem welche Partei oder welche politische Clique gerade national an der Macht ist. Im spanischen Teil Lateinamerikas, Mexiko und Kolumbien ausgenommen, sind städtische Angelegenheiten überall auf die Hauptstadt konzentriert und sind schon von daher von überwältigender Wichtigkeit für die Zentralregierung. Viele Länder sind bereits so etwas wie Stadt-Staaten, aber dennoch keineswegs in der Lage, Singapurs Marsch in den Wohlstand nachzuahmen. In anderen Ländern ist die nationale Regierung so schwach, dass die Befürwortung einer weiteren Machtdezentralisierung katastrophale Folgen haben würde. Kurz, es gibt keine großartigen, allumfassenden Lösungen für urbane governance-Arrangements und die territoriale Machtverteilung.

Am Ende überwiegt der Eindruck, dass der Report "Reinventing the City - Urban 21" den Untertitel "Das Ende des europäischen Denkens'' tragen sollte. Es ist ein Bericht einer fixen Idee, mit der Annahme, dass die Welt auf ein einziges Modell der Städteentwicklung zusteuert. Es ist ein Bericht, der nicht in der Lage ist, alternative Szenarien in Erwägung zu ziehen und daher einfach annimmt, der gegenwärtige Trend werde sich die nächsten hundert Jahre fortsetzen; letztlich zieht er der Analyse die Verordnung vor. Es ist äußerst bedauerlich, dass ein so wenig Sinn enthaltender Bericht, den "Grundton'' für die bevorstehende URBAN 21 Konferenz in Berlin angeben soll.

 

Aus dem US-amerikanischen von Eva Ballin und Volker Eick.


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