MieterEcho

MieterEcho Sonderausgabe Juni 2006

Quadrat Sparzwang = Behördenwillkür?

Die AV-Wohnen im Praxistest der Jobcenter

Irene Froböse und Thomas Rudek

Die große Koalition hat beschlossen, Hartz IV zu "optimieren", d.h. bei den Hartz IV-Ausgaben soll noch mehr gespart werden. Erste uns vorliegende Fälle dokumentieren, dass die in Berlin geltenden Regeln der AV-Wohnen (s. Beitrag von Irene Froböse) von den Jobcentern bzw. Sachbearbeitern missachtet werden - zulasten der Betroffenen. Ob diese Fälle Einzelfälle sind oder sie die Spitze des Eisbergs darstellen, hängt davon ab, welche Vorgehensweisen in den Jobcentern vorherrschen. Die Praktiken der Jobcenter lassen sich jedoch nur ermitteln, wenn die Betroffenen - z.B. in den Beratungsstellen oder am Infotelefon - ihre Fälle öffentlich machen. Deshalb ist wichtig, welche Erfahrungen Sie, Ihre Bekannten oder Familienangehörigen mit dem Jobcenter gemacht haben und dass Sie diese Erfahrungen weitergeben.

Sind die Informationen der Jobcenter vollständig und richtig?

Wenn Sie vom Jobcenter Post bekommen und aufgefordert werden, entweder die "Wohnkosten zu senken" oder - im schlimmsten Fall - die "Wohnkosten durch Umzug zu senken", dann sollten in diesem Schreiben auch alle für Sie wichtigen Informationen enthalten sein, damit Sie wissen, was Ihnen rechtlich zusteht! Denn vielleicht gehören Sie zu der Personengruppe, die einen Mietaufschlag in Höhe von 10% beanspruchen kann oder Sie gehören vielleicht auch zu der Personengruppe, die vor einem Umzug ganz geschützt ist! Auch der Hinweis, den Betrag, der über der so genannten Angemessenheitsgrenze liegt, selbst finanzieren zu können - zum Beispiel durch einen Mini-Job - sollte in dem Anschreiben nicht fehlen. Und auch über die Kosten, die mit der Beschaffung einer neuen Wohnung (Kaution und Umzugskosten) unweigerlich verbunden sind, sollten Sie vollständig informiert werden.

Die Realität: Anschreiben der Jobcenter

Leider liegen uns Schreiben von verschiedenen Jobcentern vor, in denen der Informations- und Aufklärungspflicht nicht entsprochen wird. Und in einigen besonders schlimmen Fällen hat man sogar den Eindruck, dass die Rechte von Betroffenen mit Füßen getreten werden:


Mietkaution - Was in den AV-Wohnen wirklich steht:

"In der Regel ist davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung des Berliner Wohnungsmarkts eine Wohnung für Hilfeempfangende ohne die Zusicherung zur Übernahme von Genossenschaftsanteilen als Wohnungsbeschaffungskosten oder einer Mietkaution in angemessenem Zeitraum nicht gefunden werden kann."

"Unter den Bedingungen des § 22 Abs. 3 Satz 2 SGB II soll die Zusicherung bei Vorliegen folgender Bedingungen erteilt werden:

  • a) Der Umzug wurde vom zuständigen "Jobcenter" veranlasst (als Maßnahme zur Senkung unangemessener Kosten für die Wohnung) oder
  • b) Der Umzug ist aus anderen Gründen notwendig. Dies ist nur dann zu bejahen, sofern der Umzug i. S. d. § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II erforderlich ist (…) und die Zusicherung zu den Aufwendungen für die neue Wohnung erteilt wurde und
  • c) Ohne die Zusicherung kann eine Wohnung in angemessenem Zeitraum nicht gefunden werden."

"Im Rahmen der einzelfallbezogenen Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Zusicherung zur Übernahme von Genossenschaftsanteilen/ Mietkautionen, ist zu prüfen, ob a) diese Leistungen ggf. aus geschütztem Vermögen des Hilfeempfangenden im Wege der Selbsthilfe erbracht werden können (…)."

Quelle: Rundschreiben Nr. 14/2005 "Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II" (AV-Wohnen) vom 17.06.2005


Von dieser Behördenwillkür sind nicht nur ALG-II-Beziehende betroffen, sondern auch Rentner/innen, die vom Amt für Grundsicherung die Miete erhalten. Gespart werden soll sogar bei über 70-Jährigen, die bereits länger als 20 Jahre in ihrer Wohnung leben. Auch hier hat die Senatsverwaltung anderes erlassen (s. Kasten "Grundsicherung").


Grundsicherung - Was in den AV-Wohnen wirklich steht:

Grundsicherung - Was in den AV-Wohnen wirklich steht:

"(1) Aufgrund des vom SGB XII erfassten Personenkreises sind grundsätzlich zunächst die in Ziffer 4 Abs. 5 und 9 der AV-Wohnen erfassten Härtefallbestimmungen für bestehenden Wohnraum zu prüfen.
(2) Danach ist für Menschen, die über 65 Jahre alt und/oder voll erwerbsgemindert sind, entweder a) eine Überschreitung der Miete um 10 % zulässig oder
b) eine Senkung der Wohnkosten in der Regel nicht zu verlangen.
(3) In der Regel sind deswegen bei der überwiegenden Zahl der Leistungsberechtigten nach dem SGB XII keine Maßnahmen zur Senkung der Miete durch den Träger der Sozialhilfe zu veranlassen. Abweichungen vom Regelfall erfordern die Einbeziehung des zuständigen Sozialdienstes."

(Hervorhebung im Original)

Quelle: Rundschreiben I Nr. 16/2006 vom 01.04.2006/ Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz


Oft liegt die Miete mit 20 bis 40 Euro nur geringfügig über den angemessenen Mietobergrenzen. Hier kann die so genannte Wirtschaftlichkeitsberechnung vor einem Umzug schützen. Die Jobcenter sind nämlich nach den AV-Wohnen aufgefordert, "vor der Aufforderung, durch Wohnungswechsel die Aufwendungen für die Wohnung zu senken, eine Wirtschaftlichkeitsberechnung" durchzuführen. Sollten Sie eine Aufforderung erhalten, "die Wohnkosten durch Umzug zu senken", dann fordern Sie die Wirtschaftlichkeitsberechnung und überprüfen Sie, ob die Jobcenter richtig gerechnet haben.


Wirtschaftlichkeitsberechnung - Beispiel für 2-Personen-Haushalt:
Angemessene Miete: 444,00 Euro bruttowarm
Miete bisherige Wohnung 460,00 Euro bruttowarm
Umzugskosten (in Selbsthilfe) 190,00 Euro (großzügig geschätzt)
Kaution (neue Wohnung) 932,40 Euro (3 Nettokaltmieten à 310,80 Euro)
Abzgl. Kaution bisherige Wohnung 900,00 Euro  
Zu berücksichtigende Kaution 32,40 Euro (kein Schonvermögen vorhanden)
Doppelmiete im Umzugsmonat 460,00 Euro  
Gesamtkosten Umzug 682,40 Euro  

Differenz zwischen tatsächlicher und angemessener Miete, hochgerechnet auf zwei Jahre (Zeitraum gemäß AV-Wohnen):
460,00 Euro - 444,00 Euro = 16,00 Euro pro Monat,
16,00 Euro x 24 Monate = 384,00 Euro zusätzliche Kosten.

Fazit: Die Umzugskosten (682,40 Euro) sind höher als die zusätzlichen Kosten der 'unangemessenen' Wohnung (384,00 Euro).
Der Umzug kann unterbleiben.


Fazit

Bei der Durchsicht der uns vorliegenden Schreiben fällt uns immer wieder auf, dass es keine einheitlichen Schreiben gibt. Jedes Jobcenter entwickelt sein eigenes Anschreiben und das, obwohl die Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz allen Berliner Jobcentern ein Musterschreiben vorgelegt hat. In diesem Musterschreiben sind die wichtigsten Informationen, aber nicht alle enthalten. Es fehlt der Hinweis, die Durchführung der Wirtschaftlichkeitsberechnung zu beantragen. Außerdem ist die Information, den über der Angemessenheitsgrenze liegenden Betrag der Miete aus nicht anrechnungsfreiem Verdienst selbst zu bezahlen, schwer verständlich. Von diesen Mängeln abgesehen ist das Schreiben jedoch positiv zu beurteilen. Es stellt sich zwangsläufig die Frage, warum Schreiben aus einigen Jobcentern auftauchen, die sich offensichtlich nicht an diese Vorlage halten. Der Berliner Senat müsste aus dieser mangelnden Kooperationsbereitschaft vor allem eine Schlussfolgerung ziehen: Eine Fachaufsicht über alle Berliner Jobcenter ist auf Landesebene einzurichten. Hierzu sollte überprüft werden, inwieweit das Allgemeine Zuständigkeitsgesetz verändert werden müsste.

Fehler mit System?

Gewiss: Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Doch wenn diese Fehler durch den Sparzwang "motiviert" und indirekt gefördert werden, ist Schlimmes zu befürchten.

Für Sie als Betroffene bedeutet das:

Was zu tun ist! - Forderungen an den Berliner Senat

Die Berliner MieterGemeinschaft, die Kampagne gegen Zwangsumzüge und das Berliner Arbeitslosenzentrum BALZ fordern gemeinsam den Berliner Senat auf, dafür zu sorgen, dass

Wir fordern darüber hinaus den Senat und insbesondere die Berliner Linkspartei.PDS auf, im Bundesrat die Initiative für die Erhöhung des Regelsatzes zu ergreifen, um so der Verarmung und Verelendung immer größerer Teile der Bevölkerung entgegenzuwirken!


Adressen für Beschwerden:

Ombudsrat - Grundsicherung für Arbeitssuchende
Postfach 040140, 10061 Berlin
Telefon: 0800-440055-0
E-Mail: info@ombudsrat.de

Sozialsenatorin Dr. Heidi Knake-Werner
Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz
Oranienstraße 106
10969 Berlin


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