MieterEcho

MieterEcho Sonderausgabe Juni 2006

Quadrat Die (Un-)Freiheit umzuziehen

Wie Jobcenter und Gerichte einen gewünschten Wohnungswechsel behandeln

Anne Allex und Hermann Werle

Was durch den Artikel 11 des Grundgesetzes - "Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet" - ein gesichertes Grundrecht zu sein scheint, ist für manche Agentur für Arbeit nicht selbstverständlich. Auf der einen Seite zwingt die Behörde ALG-II-Beziehende zum Umzug und auf der anderen Seite wird die Möglichkeit von Umzügen, die auf Wunsch der Betroffenen erfolgen, immer weiter eingeschränkt. Denn nach dem so genannten "Optimierungsgesetz", welches zum 01.08.2006 in Kraft treten soll, darf nur noch in billigere Wohnungen umgezogen werden.


Grundgesetz Artikel 11 - Freizügigkeit

"(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.
(2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist."


Gründe für einen Umzug gibt es zur Genüge: Trennung, schlechte Wohnverhältnisse, Ärger mit dem Vermieter, Streit mit den Nachbarn, Querelen in der Wohngemeinschaft oder einfach der Wunsch, in einem anderen Stadtteil zu wohnen. Als ALG-II-Beziehende müssen Sie vor der Realisierung eines Umzugs einige Hürden nehmen und Sie sollten zunächst prüfen, ob es sich in Ihrem Fall um einen "erforderlichen" oder "nicht erforderlichen" Umzug handelt. Erforderliche Umzüge müssen von den Jobcentern genehmigt werden und nach Beantragung steht Ihnen auch die Übernahme der Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten zu.

Was sind erforderliche Umzüge?

Die Berliner AV-Wohnen nennt für die Erforderlichkeit eines Umzugs folgende Fälle:

Obwohl die Liste der Möglichkeiten der Erforderlichkeit eines Umzugs in den AV-Wohnen lang ist, fehlen einige Punkte, auf die Sie gegebenenfalls hinweisen sollten. Ein Umzug kann auch durch gesundheitliche Gründe erforderlich werden - z. B. wenn ein Hilfesuchender unter Asthma o. Ä. leidet (vgl. BayVGH FEVS* 24, 284) und das Leiden durch den Wohnungswechsel beeinflusst werden kann. Vergleichbares gilt, wenn die Wohnung erhebliche bauliche Mängel aufweist (OVG Lüneburg FEVS 36, 332) oder aber schlechte sanitäre Verhältnisse hat (OVG Lüneburg FEVS 36, 291). In beiden Fällen muss eine gesundheitliche Gefährdung nicht gegeben sein. Ebenso kann ein Umzug erforderlich sein, wenn die Wohnung keine Badewanne hat, obwohl ein Kleinkind im Haushalt lebt (OVG Lüneburg FEVS 36, 291), wenn die Wohnung nicht behindertengerecht ist oder auch, wenn Sie mit einem/einer Partner/in zusammenziehen oder heiraten wollen.

*) FEVS = Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte, Zeitschrift, Boorberg Verlag, ISSN: 0945-3253

Erfolg beim Sozialgericht

Dass die AV-Wohnen nicht alle "Erforderlichkeiten" abdecken, belegt ein Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 04.11.2005 (Az: S 37 AS 10013/05 ER). Danach ist ein Umzug auch dann "erforderlich, wenn sich der Umzugswunsch aus der Summierung unterwertiger Wohnverhältnisse ergibt. Der Antragsteller hat dann einen Anspruch auf Zusicherung einer Mietübernahme für eine neue Wohnung, wenn die Aufwendungen für diese angemessen sind." In diesem Fall hatte der Hilfebedürftige im August und September beim Jobcenter die Zusicherung zur Kostenübernahme einer neuen Wohnung beantragt, da die alte Wohnung weder über Bad noch Dusche verfügte und lediglich mit Ofenheizung ausgestattet war. Die Anträge wurden jeweils abgelehnt, obwohl beide Male die Bruttowarmmiete der neuen Wohnung innerhalb der Angemessenheitsgrenze gelegen hatte. Da die Vermieterin die Wohnung nur bis zum 01.11.2005 freihalten wollte, beantragte der Hilfebedürftige einstweiligen Rechtsschutz (auch einstweilige Anordnung genannt) beim Sozialgericht. Mit Erfolg, wie sich zeigte: Nach Ansicht des Gerichts ist der Wunsch, "anstelle einer ofen- eine automatisch beheizbare Wohnung zu bewohnen", grundsätzlich angemessen.

Mit diesem Beschluss entsprach das Sozialgericht dem § 22 Abs. 2 des SGB II, nach dem einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen die Erstattung der Aufwendungen für die neue Unterkunft - einschließlich der Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten - zugesichert werden muss.

Nicht erforderliche Umzüge

Doch auch ohne "Erforderlichkeit" ist es möglich umzuziehen, auch wenn diese Möglichkeit immer weiter eingeschränkt wird. Nach den bisherigen Erfahrungen in Berlin und in anderen Städten verweigern die Ämter die Zusage zur Übernahme der Kosten der neuen Wohnung, auch wenn diese den Kriterien der "Angemessenheit" entspricht. Eine Rechtsgrundlage dafür ist bislang aus dem SGB II nicht herzuleiten. Im Grundsatz vertritt auch das Sozialgericht in Schleswig diese Meinung. In einem Beschluss vom 21.02.2005 heißt es, dass bei einem "sozialhilferechtlich nicht erforderlichen Umzug von einer angemessenen in eine teurere Wohnung, bei der aber die Unterkunftskosten auch noch in einer angemessenen Spannbreite liegen", die Kosten zu übernehmen seien, "wenn die Mehrkosten verhältnismäßig sind und die Gründe für den Umzug die Mehrkosten rechtfertigen."

In der Begründung heißt es bezüglich der Notwendigkeit einer Zustimmung der Behörde: "Die Formulierung von § 22 Abs. 2 SGB II lässt den Schluss zu, dass im Regelfall der Hilfeempfänger die Zustimmung der Behörde einholen soll. Tut er dies nicht, so wird die Übernahme der Kosten durch die Angemessenheit begrenzt."

Uwe Berlit, Richter am Bundesverwaltungsgericht, wird in dem Beschluss des Sozialgerichts Schleswig in der Hinsicht zitiert, dass es einem Hilfeempfänger frei stehe, zwischen angemessenen Wohnungen zu wechseln, eine Auslegung, die sich auch in einem "Diskussionsforum der Sozialämter" wiederfindet. Hier verweist der Mitarbeiter eines Jobcenters auf einen Auszug aus der Kommentierung zu § 22 SGB II und schreibt: "§ 22 Abs. 2 SGB II regelt keine Rechtspflicht des Hilfebedürftigen, vor der Anmietung einer neuen Wohnung stets die Zustimmung einzuholen. Unterlässt er die Einholung der Zustimmung, hat diese keine unmittelbaren Rechtsfolgen. Insbesondere ist der kommunale Träger verpflichtet, Leistungen für Unterkunft und Heizung zu erbringen, wenn die Aufwendungen angemessen sind, selbst wenn der Umzug nicht erforderlich gewesen sein mag. Die höheren Kosten sind somit bis zur angemessenen Höhe zu übernehmen. Eine Begründung, nur die bisherigen Kosten zu übernehmen, weil dem Umzug im Vorwege nicht zugestimmt wurde, kann ich dem SGB II nicht entnehmen."

Einschränkung durch das "Optimierungsgesetz"

Der oben zitierten Position ist uneingeschränkt zuzustimmen und würde bei konsequenter Anwendung zumindest ein gewisses Mindestmaß an "Freizügigkeit", wie es im Rahmen des SGB II möglich ist, gewährleisten. Mit dem so genannten "Optimierungsgesetz" soll jedoch ab August das bisschen Freizügigkeit auch noch abgewickelt werden. Dann gilt, dass die Kosten einer neuen Wohnung die Kosten der bisherigen Wohnung nicht überschreiten dürfen. In der Vorlage zu dem geplanten Gesetz heißt es: "Verzieht ein SGB-II-Leistungsbezieher aus einer Wohnung mit bisher angemessenen Kosten der Unterkunft in eine andere Wohnung, die zwar teurer ist, aber immer noch angemessen, dann werden für die neue Wohnung nur die bisherigen angemessenen Kosten übernommen."

Mit dieser Regelung wird gesetzlich festgeschrieben, was sich die Berliner Senatsverwaltung in vorauseilendem Gehorsam bereits zu Eigen gemacht hat. Dem Optimierungsgesetz entsprechend heißt es in einem Rundschreiben der Verwaltung Knake-Werners (Linkspartei. PDS) vom 08.12.2005: "Der Teilkostenübernahmeanspruch beschränkt sich bei nicht notwendigen Umzügen auf die bisherige (angemessene) Miete. Dadurch wird sichergestellt, dass Umzüge allein zur Wohnwertverbesserung - selbst bei Angemessenheit der neuen, höheren Miete - verhindert werden."

Das Recht auf Freizügigkeit ist somit für ALG-II-Beziehende de facto abgeschafft - eine Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse ist für Arbeitslose nicht mehr vorgesehen. Umzüge werden nur noch genehmigt, wenn dadurch Kosten eingespart werden können, d. h. wenn die neue Wohnung billiger als die alte ist.

Was ist zu beachten, wenn ich umziehen möchte?

Festzuhalten bleibt, dass bei "nicht erforderlichen" Umzügen die Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten vom Jobcenter nicht übernommen werden müssen. Bei einem geplanten Umzug ist zunächst zu prüfen, ob eine "Erforderlichkeit" vorliegt oder vorliegen könnte. Sollte ein entsprechend gut begründeter Antrag auf einen Umzug abgewiesen werden, muss zunächst Widerspruch eingelegt werden und bei neuerlichem negativen Bescheid folgt der Gang zum Sozialgericht, um eine einstweilige Anordnung zu erwirken.

Bei einem "nicht erforderlichen" Umzug ist es angeraten, das aktuell zuständige Jobcenter von dem geplanten Wohnungswechsel zu informieren und sich die Zusicherung zur Übernahme der Mietkosten für die neue Wohnung einzuholen. Eine schriftliche Zusicherung des Jobcenters vermeidet späteren Ärger.

Unterbleibt die Zustimmung für einen erforderlichen oder auch nicht erforderlichen Umzug und ein attraktives Wohnungsangebot droht dadurch verloren zu gehen, sollte eine Beschwerde beim jeweiligen Teamleiter des Jobcenters nicht gescheut werden und letztlich auch nicht der Gang zum Sozialgericht, wie der oben geschilderte Fall aufzeigt.

Zum Abschluss gilt bei geplanten "erforderlichen" wie auch bei "nicht erforderlichen" Umzügen auf eigenen Wunsch: Nutzen Sie die Unterstützungsangebote einer Beratungsstelle, wie sie z.B. von der Berliner MieterGemeinschaft angeboten werden.


"Stubenarrest" für Jugendliche

Mit dem am 17.02.2006 verabschiedeten "Ersten SGB-II-Änderungsgesetz" haben sich die rechtlichen und sozialen Bedingungen insbesondere für junge ALG-II-Beziehende erheblich verschlechtert. Unter 25-Jährige, die in einer Haushaltsgemeinschaft mit den Eltern leben, werden der Bedarfsgemeinschaft der Eltern zugerechnet. Das bedeutet, dass ihnen ab dem 01.07.2006 der Regelsatz von 345 auf 276 Euro gekürzt wird, wodurch 600 Millionen Euro eingespart werden sollen.
Außerdem wurde zum 01.04.2006 die Möglichkeit aus dem elterlichen Haushalt auszuziehen auf "Härtefälle" eingeschränkt. Nach dem Wortlaut des Koalitionsvertrags soll dadurch verhindert werden, "dass Bedarfsgemeinschaften nur zu dem Zweck gegründet werden, um höhere Arbeitslosengeld-II-Ansprüche geltend zu machen."
Zieht ein Jugendlicher ohne Zustimmung des Leistungsträgers aus dem Elternhaus aus, hat er somit keinen Anspruch auf die Übernahme der Kosten der Unterkunft und erhält lediglich die geminderte Regelleistung von 276 Euro. Der Anspruch auf die Erstausstattung für die Wohnung ist im Fall eines Umzugs ohne Zustimmung ebenfalls verwirkt. Diese Regelung gilt auch für unter 25-Jährige, die nicht mehr bei den Eltern wohnen und ohne Zustimmung in eine andere Wohnung umziehen.



"Strategie der vollendeten Tatsachen"

Zur Gegenwehr sei hier auf die Hinweise von Harald Thomé (Sozialrechtsberater vom Tacheles e.V. in Wuppertal) verwiesen, der "bei derartiger Aberkennung des Grundrechts auf Freizügigkeit und bürgerlicher Rechte" die "Strategie der vollendeten Tatsachen" empfiehlt.

Möglichkeiten "vollendete Tatsachen" zu schaffen:

  • der unter 25-Jährige wird von den Eltern aus dem Elternhaus "rausgeschmissen",
  • die Eltern ziehen aus der Wohnung aus und der unter 25-Jährige verbleibt darin,
  • der unter 25-Jährige findet eine Arbeit und ist dadurch nicht mehr im Hilfebezug - sei es auch nur für einen Monat oder
  • bei Ablauf des Bewilligungsabschnitts wird für einen Monat kein Fortsetzungsantrag gestellt, somit liegt kein Leistungsbezug und auch kein Verzicht im Sinne von § 46 Abs. 1 SGB I vor und in diesem Monat des Nicht-Leistungsbezugs wird ausgezogen.

In diesen Fällen liegt nach Auskunft Thomés "in jedem Fall kein sanktionierbarer Verstoß des unter 25-Jährigen vor. Eine Regelleistungsabsenkung, Verlust des Anspruchs auf Unterkunftskosten und Heizung sowie Erstausstattung für die Wohnung dürfte unter den genannten Voraussetzungen unzulässig sein."


Zurück zum Inhalt MieterEcho Sonderausgabe