MieterEcho

MieterEcho Sonderausgabe Juni 2005

 Wer wohnt zukünftig wo?

Alfred Gerhard

Wie es sich tatsächlich verhält, mit der sozialen Entmischung, die nach Auffassung der Sozialsenatorin Frau Dr. Knake-Werner und ihrer botmäßigen Umgebung durch die Ausführungsvorschrift zu den Kosten der Unterkunft nicht zu erwarten ist, kann man sich durch eine sehr einfache Betrachtung des Berliner Wohnungsmarktes, anhand des Mietspiegels und der ihm zugrundeliegenden Grundgesamtheiten verdeutlichen.
Den Alg II-Empfängern konzediert die Senatorin ca. 4,80 Euro/qm Netto-Kaltmiete. Fragt sich, wie viel Wohnung dafür zu bekommen ist.

Von den ca. 1,68 Mio Wohnungen Berlins werden ca. 1,2 Mio. Wohnungen durch den Mietspiegel erfasst. 480.000 Wohnungen bleiben jenseits der Mietspiegeluntersuchung. Teils, weil sie von ihren Eigentümern selbst genutzt werden (ca. 150.000 Wohnungen) oder weil sie auf irgendeine Weise preisgebunden sind (ca. 330.000 Wohnungen). Die meisten der preisgebundenen Wohnungen gehören dem sozialen Wohnungsbau an. Dessen Durchschnittmiete beträgt mittlerweile deutlich über 5,70 Euro. Daher lässt sich vorab sagen, dass der gesamte Bestand an sozialen Wohnungen, der eigentlich für sozial schwächere Haushalte zur Verfügung stehen sollte, für ALG II-Empfänger nicht zugänglich ist. Frau Dr. Knake-Werner hat sicherlich eine Erklärung dafür. Doch die ist bisher nicht veröffentlicht.

Die Spalten des Mietspiegel sind nach Baualtersklassen und Ausstattungsstandards unterteilt. In der folgenden kleinen Tabelle sollen die Baualtersklassen betrachtet und auf ihre Eignung für Alg II-Empfänger befragt werden.

Für ALG II Empfänger sind also höchstens 890.000 Wohnungen, d.h. allenfalls 50% des Gesamtbestandes zugänglich und nicht, wie von der Senatsverwaltung behauptet. Diese Menge wird noch weiter dadurch eingeschränkt, dass ca. 50.00 Wohnungen 90 qm deutlich übersteigen und daher aller Wahrscheinlichkeit gar nicht für ALG-Empfänger infrage kommen.

Die obige Rechnung ist noch viel zu optimistisch, tatsächlich werden höchstens 40% des Wohnungsbestandes ALG II-tauglich sein.

Stadräumliche Verteilung

Geeignete Wohnungen für ALG II-Empfänger sind vornehmlich nur noch in den folgenden vier Segmenten des Wohnungsbestandes zu finden.

I. Altbau 1918

220.00 Wohnungen

In diesem Segment befinden sich nur wenige kleine Wohnungen innerhalb des Bemessungsrahmens.

Der Altbau ist in verstärktem Maße Ort der gesellschaftlichen Polarisierung. Eine eigene kleine Untersuchungen des MieterEcho über das Angebot von Altbau-Wohnungen und den geschätzten Bedarf in Prenzlauer Berg hat ergeben, dass hier, in diesem Aufwertungsgebiet, die geforderten Größen gar nicht mehr vorhanden sind, oder die Mietpreise nach Modernisierung und Sanierung soweit gestiegen sein werden, dass Mieten und Wohnungsgrößen nicht mehr in das ALG II-Raster passen.

In solchen Aufwertungsgebieten wird zweifellos durch die Ausführungsvorschrift der Verdrängung der eingesessenen Bewohnerschaft und der Übernahme der Quartiere durch Besserverdienende (Gentrifizierung) zusätzlich Vorschub geleistet.

Fazit: Zukünftig stehen immer größere Teile des Altbaus den ALG II-Empfängern überhaupt nicht mehr zur Verfügung.

Baualtersklassen Insgesamt vorhandene Wohnungen davon bis 4,80 Euro/qm nettokalt Anteil in Prozent
Bis 1918 Substandard 38.500 38.500 100%
Bis 1918 Vollstandard 365.000 220.000 60%
1919-1949 195.000 180.000 92%
1950-1955 90.000 90.000 100%
1956-1964 140.900 120.900 86%
1965-1972 61.200 28.000 46%
1973-1983 West* 13.000 4000 30%
1973-1990 Ost 205.800 200.000 97%

*Wohnungen jüngeren Baualters stehen in Westberlin nicht zur Verfügung.

Anders ist die Situation in den Altbaugebieten, die als "Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf" gelten und in denen teilweise Quartiersmanager tätig sind. Hier werden sich die geforderten Preisklassen und damit auch die ALG II-Empfänger verstärkt konzentrieren. Welche Folgen sich daraus für die Mietpreisentwicklung dieser Quartiere ergeben, kann nur schwer eingeschätzt werden.

ALG II-Empfänger sollten unbedingt vermeiden, Substandard-Wohnungen anzumieten, denn auch in diesen Gebieten sind früher oder später Modernisierungen mit Preissteigerungen über die Angemessenheitsgrenze hinaus zu erwarten.

II. 1919 – 1949

180.000 Wohnungen

Diese sogenannten Altneubauten der Zwischenkriegszeit haben ihr relativ geringes Mietniveau teilweise dem Umstand zu danken, dass sie bereits mit einem hohen Standard erbaut wurden, also nur wenige mietpreissteigernde Modernisierungen zu erleiden hatten. Außerdem waren diese Bestände lange Zeit nicht dem unmittelbaren Verwertungsdruck durch den Markt ausgesetzt, weil sie zur gemeinnützigen und/oder kommunalen Wohnungswirtschaft gehörten. Hier sehen aber die Investoren wie Cerberus usw. ihre Chancen, drängen auf den Markt und sehen gute Profitchancen zu Lasten der Mieter.

Angemerkt sei, dass auch Genossenschaften in diesem Segment umfangreiche Bestände haben.

III. Die Baualtersklassen

1950 – 1955: 90.000 Wohnungen

und 1956 – 1964: höchstens 121.000 Wohnungen

insgesamt: 211.000 Wohnungen können zusammen betrachtet werden.

Hierbei handelt es sich um die Siedlungen des frühen sozialen Wohnungsbaus der ehemaligen gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften. Errichtet wurden sie zwar in schlichter Bauweise aber mit überwiegenden Vollstandard und boten daher ebenfalls nur geringe Modernisierungmöglichkeiten. Wenn auch die Förderungen längst getilgt sind und sie daher schon lange nicht mehr zum sozialen Wohnungsbau zählen, war ihre Mietpreisentwicklung ähnlich gedämpft wie bei den Beständen der Baualterklasse 1919 – 1949.

Ursprünglich bildeten sie den fordistischen Wohnungsbau für Facharbeiter und Angestellte.

In den letzten Jahren wurden sie zu sog. "Sozialen Brennpunkten" (siehe empirica "Überforderte Nachbarschaften") ernannt und von den Wohnungsbaugesellschaften entsprechend problematisiert. Mietpreissteigernde Maßnahmen wie die Einrichtung von Conciergen und Sicherheitsdiensten gefährden ihre Eignung für ALG II-Bezieher.

In letzter Zeit avancieren auch sie zu gesuchten Objekten für Investoren, die sie auszuschlachten versuchen.

IV. 1973 – 1990 Ost

200.000 Wohnungen

Obgleich die Ostberliner Wohnungsbauunternehmen sehr erfindungsreich im Ersinnen von ungewöhnlichen Modernisierungsmaßnahmen waren und damit längst Westniveau in der Ausstattung und der Miethöhe erreicht haben, sind noch immer die meisten Plattenwohnungen ALG II-kompatibel. Seit Jahren werden Teile des unsanierten und damit preisgünstigen Plattenbaus abgerissen, zudem geraten auch diese Bestände in das Fadenkreuz der Verwerter.

Tendenzen auf dem Wohnungsmarkt

Die Tendenzen auf dem Berliner Wohnungsmarkt werden die Ergebnisse der obigen Rechnung noch in diesem Jahr deutlich in Frage stellen.

Bestimmend ist in erster Linie die Absicht des neoliberalen Finanzsenators Sarrazin die kommunalen Wohnungsunternehmen (Bestand noch 287.000 Wohnungen, nach der Wende waren es knapp 500.000) weiter der Privatisierung zuzuführen oder aber zu äußerst profitablem Wirtschaften zu zwingen.

Bei einem Verkauf der Bestände gehen sie auf jeden Fall an Private Equity Gesellschaften, an die in Berlin bereits ca. 150.000 Wohnungen übernommen haben. Diese Käufer betreiben keinen Wohnungsbau, sondern reine Verwertung. Verwertung heißt letztendlich Umwandlung in Eigentumswohnung. Damit werden die Wohnungen dem Mietwohnungsmarkt entzogen oder falls nicht selbstgenutzt, einem Mieterhöhungsdruck ausgesetzt.

Wie stark die Auswirkungen sein werden zeigt sich bereits jetzt an der vor einem Jahr an die Gruppe Whitehall/Cerberus verkauften GSW. Die GSW ist zwar weiterhin als Eigentümer des gesamten Bestandes im Grundbuch eingetragen, die einzelnen Teile werden aber je nach Eignung bereits getrennt für die weitere Verwertung aufbereitet. Mietpreissteigernde Modernisierungen dienen dabei nicht dem Zweck den Wohnwert, sondern die Attraktivität der Bestände für zukünftige Erwerber zu erhöhen. Beispielsweise werden massenhaft Balkons angebaut, die von den Mietern abgelehnt werden weil die Kosten zu hoch und der Nutzwert zu gering ist, die sich aber vorteilhaft auf Prospekten für potentielle Käufer ausnehmen.

Die bisher nicht verkauften Gesellschaften in kommunalem Eigentum unterliegen einer so scharfen Gewinnmaximierungsstrategie (in wenigen Jahren sollen die Unternehmen 100 Mio. Euro Gewinn erbringen. Im letzten Jahr waren es 35 Mio. Verlust), dass der Preisdruck auch auf diesen Wohnungen zur flächendeckenden Anhebung des Mietniveaus führen wird.

Der neue Mietspiegel im Herbst (kurz nachdem die Verordnung in Kraft getreten sein wird!) macht zudem die obigen Kalkulationen, die sich noch auf die Werte des alten Mietspiegel stützen, hinfällig, denn auf jeden Fall lässt sich sagen: es ist wieder per saldo mit spürbaren Steigerungen zu rechnen.

Der für ALG II-Empfänger schon jetzt deutlich eingeengte Stadtraum wird durch die politisch begünstigten Entwicklungen zwangsläufig weiterhin verkleinert. Ganz im Gegensatz zu der oben zitierten Einschätzung der Frau Breitenbach wird die soziale Entmischung der Quartiere nicht vermieden, sondern in Zukunft zur unvermeidlichen Gewissheit.

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