MieterEcho online – 27.06.2011
„Es gibt nichts, was es nicht gibt“
Interview mit dem Gewerkschaftssekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Sebastian Riesner, zu den Beschäftigungsverhältnissen im Berliner Hotel- und Gastgewerbe
MieterEcho (ME): Wirtschaftssenator Harald Wolf (Die Linke) spricht von 230.000 Beschäftigten im Berlin-Tourismus. Können Sie uns diese Zahl bestätigen und erläutern?
Sebastian Riesner: Die von der Politik und der Wirtschaft verwendeten Zahlen umfassen alle Beschäftigten, die im und für den Touristikbereich in Berlin tätig sind. Dazu zählen neben dem Hotel- und Gaststättenbereich – mit ca. 50.000 versicherungspflichtig Beschäftigten und 5.600 Auszubildenden – auch der Einzelhandel sowie die Stadtführer, Busunternehmen, Fluggesellschaften etc. Die Zahl dürfte, unter Einbeziehung aller mit Tourismus in Verbindung zu bringenden Branchen, realistisch sein.
ME: Das Amt für Statistik zählt in den letzten Jahren immer weniger Beschäftigte, wobei vor allem die Zahl der Vollzeitstellen abnimmt. Welche Entwicklungen sehen Sie in der Tourismusbranche, die für die kommenden Jahre bereits 30 Millionen Übernachtungen anvisiert?
Riesner: Das Ziel, 30 Millionen Übernachtungen in den nächsten fünf Jahren zu erreichen, ist machbar. Selbst wenn keine Umwandlung von Wohnraum in Ferienwohnungen mehr stattfinden würde, wird die Zunahme an neuen Hotelbetten in den nächsten Jahren mehr als ausreichen, um alle Besucher unterzubringen. Gerade im Low-cost-Bereich, also in 2- und 3-Sterne-Hotels, steigen die Kapazitäten. Die durchschnittliche Auslastung der Hotels liegt um die 70%. Da ist noch Luft drin. Uns verwundert aber auch, dass trotz vieler neuer Hotels die Beschäftigtenzahlen stagnieren oder sogar leicht fallen. Diese Tendenz wird aber teilweise dadurch bedingt, dass viele der neuen Hotels klassische Tätigkeitsfelder eines Hotels nicht mehr selbst betreiben, wie Restaurant, Zimmerreinigung oder Buchhaltung. Wir rechnen insgesamt aber in den nächsten Jahren mit einer steigenden Zahl von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich, leider jedoch eher in schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen.
ME: Wie stellen sich die Löhne und Arbeitsbedingungen im Hotel- und Gaststättengewerbe aktuell dar?
Riesner: Immer wieder erfahren wir als zuständige Fachgewerkschaft von unhaltbaren Praktiken in den Betrieben. Häufig erhalten Arbeitnehmer nur noch Arbeitsangebote, bei denen die Zahlung von unversteuerten Einkommen einen nicht unerheblichen Teil der Vergütung darstellt. „Es gibt nichts, was es nicht gibt“, nach diesem Grundsatz wird wohl im Hotel- und Gaststättengewerbe verfahren. Wenn er sich nur auf das Angebot an gastronomischen Leistungen beziehen würde, wäre dagegen nichts zu sagen. Aber nein, die Aussage bezieht sich auf die Arbeitsbedingungen, unter denen die Beschäftigten der Branche arbeiten und häufig auch arbeiten müssen. Sicherlich gibt es unter den versicherungspflichtig Beschäftigten und Auszubildenden auch Beschäftigte, deren Arbeitsbedingungen sauber geregelt sind und bei denen alles in Ordnung ist. Diese tauchen jedoch in aller Regel nicht in unseren Rechtsberatungen auf.
Der letzte Ausbildungsreport von 2010 des DGB stellt in erschreckender Weise die Einschätzung der Auszubildenden im Gastgewerbe dar. Aufgeführt werden: Arbeitsverträge, die eher Knebelvereinbarungen sind; Arbeitsverträge ohne oder mit sehr geringer Arbeitszeitvereinbarung; unbezahlte Mehrarbeit; Lohnbetrug; „kreative“ steuer- und sozialversicherungsoptimierte Vergütung durch Umwandlung von Entgeltteilen in steuer- und sozialversicherungsfreie Zuschläge (Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge); regelmäßige Überschreitung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit, familienunfreundliche Arbeitszeiten insbesondere bei alleinerziehenden Müttern, die aus der Elternzeit zurückkehren; Vergütung von Zimmerfrauen nach „Stücklohn“, zum Teil mit 2,50 Euro pro gereinigtem Zimmer; „Schnupperbeschäftigung“ ohne Vergütung; Praktikanten- und Pagentätigkeiten zur „Vorbereitung auf das Berufsleben“ und betriebsratsfeindliche Grundeinstellung in der Hotellerie und Gastronomie. Die Aufzählung ist nicht abschließend.
ME: Wie hoch ist der Grad an entgarantierten Beschäftigungsverhältnissen?
Riesner: Die Berliner Zeitung hat dankenswerterweise am 19. Januar 2009 in einem sehr intensiv recherchierten Artikel die Arbeitsbedingungen exemplarisch dargestellt. Die wenigsten Arbeitsplätze sind noch durch Tarifverträge abgesichert. Durch die Möglichkeit der sogenannten Mitgliedschaft ohne Tarifbindung beim zuständigen Arbeitgeberverband Dehoga, dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, nutzen immer mehr gastronomische Unternehmen die Möglichkeit, sich aus der Tarifbindung herauszustehlen. Lediglich 152 von rund 15.500 Gastronomie- und Hotelbetrieben in Berlin fühlen sich, wenn die Zahlen der Berliner Zeitung stimmen, noch an den Tarifvertrag gebunden.
ME: Welche Forderungen vertritt die NGG gegenüber den Arbeitgebern der Branche?
Riesner: Wir haben als NGG den Entgelttarifvertrag zum 30. Juni 2011 gekündigt. Angesichts der guten Wirtschaftslage gehen wir unter anderem mit folgenden Tarifforderungen in die Verhandlungen: Alle tariflichen Entgelte sollen um 100,00 Euro brutto erhöht werden, der Mindestlohn soll 8,50 Euro brutto betragen und die Ausbildungsvergütungen sind in allen drei Ausbildungsjahren um 40,00 Euro brutto anzuheben. Zudem fordert die NGG von der Politik beziehungsweise den Unternehmen und dem Dehoga mehr Personal für die Kontrolle der gesetzlichen Arbeitszeiten, insbesondere auch in den Zeiträumen, in denen im Gastgewerbe gearbeitet wird – also abends, nachts und an Sonn- und Feiertagen. Wir fordern auch Beschränkungen bei Leiharbeit und befristeter Beschäftigung, bei Gütesiegel-Initiativen im Gastgewerbe die Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen, die Begrenzung neuer Hotelbauten sowie die Anhebung der Zimmerpreise, um Gründe für Lohndumping einzuschränken.
ME: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Hermann Werle. Der Artikel erscheint demnächst im MieterEcho Nr. 348 mit dem Schwerpunktthema Tourismus.